Autor: Faylen7
Verwirrt sah Sara ihren Bruder an, von dem sie immer dachte, sie würde ihn kennen, das schien allerdings eine Lüge zu sein.
„Link, tut es sehr weh?“ Er jedoch war bemüht, nicht umzukippen, oder sich zu übergeben. Er fühlte sich erbärmlich und sagte mit kläglicher Stimme: „Geht so...“
„Du Lügner... ich weiß schon, die Frage war einfach nur dämlich.“ Sara betrachtete die Wunden genauer, als Link auf einem Stuhl saß. „Großer Gott... wer hat dir das nur angetan?“ Dann tupfte sie vorsichtig mit einem Wattebällchen und Desinfektionsmittel über die Blessuren. Link kniff die Augen zusammen und meinte gezwungen: „Wenn ich das wüsste... würde derjenige nicht mehr leben.“
Sara war entsetzt, sie hatte ihren Bruder noch nie so reden hören. Er klang grausam und eiskalt. Auch in seinen Augen lag kein Gefühl mehr. Sie waren geradezu beherrscht von Wut, Zorn und Hass. Vor Schreck ließ sie die Watte in ihren Händen fallen. Reagierte er so, um die Schmerzen zu unterdrücken oder gab es einen anderen Grund? Sara hatte das Gefühl, die Wunden einer fremden Person zu versorgen. Dieser Mensch war nicht ihr Bruder, und vielleicht niemals gewesen, sollte das sein wahres Gesicht sein.
„Sara... entschuldige...“, flüsterte Link. „Ich bin irgendwie durcheinander. Das war... Gerade als ich spielen wollte... überkam mich eine unaufhaltsame Müdigkeit und im Traum wurde ich dann von irgendetwas so zugerichtet. Ich fürchte mich davor... einzuschlafen.“ Sara lächelte und war beruhigt zu wissen, dass sie sich in Link doch nicht ihr Leben lang getäuscht hatte.
Vorsichtig sagte sie: „Vielleicht solltest du vorerst nicht Zelda spielen.“
Link begriff mit einem Schlag. Sara hatte Recht. Ständig, wenn er das Spiel einschaltete, passierte etwas mit ihm. Komisch. Sara legte einen riesigen Verband auf Links Brust und Bauch, als er sprach: „Sara, ich danke dir. Aber ich bitte dich, was immer es auch gewesen ist, erzähl’ Mum und Dad nichts davon, sie würden sich nur unnötig sorgen. Ich muss damit alleine fertig werden. Das betrifft nur mich etwas. Und ich werde herausfinden, wer welches Ziel damit bezweckte.“ Links Gesicht strahlte mit einem Mal einen ungeheuren Mut und Entschlossenheit aus. Zuerst wollte sie ihm widersprechen, aber dann...
„Okay, wenn du mir versprichst, vorerst das Zeldaspiel nicht mehr anzurühren!“
Link nickte: „Abgemacht.“
Ihr Bruder und Sara grübelten noch eine Weile über das Geschehene nach. Link wusste, früher oder später würde sein Körper Schlaf brauchen. Lange konnte er sich nicht gegen den Schlaf wehren. Link lag auf seinem Bett und traute sich nicht nur eine Bewegung zu machen. Die Schmerztabletten, die er regelrecht hinunter würgte, wirkten nicht. Wie auch, wenn diese Wunden keinen gewöhnlichen Ursprung hatten.
Über den Wäldern ging die Sonne unter und tauchte die kleine Stadt in ein zartes rosa- orange. Link schlief bereits, aber seine Träume waren harmlos im Vergleich zu dem Ereignis des Tages. Vermutlich lag es wirklich am Zeldaspiel, dass er diese Hölle durchmachte, was eigentlich unsinnig war...
Die Nacht ging schleppend vorüber. Mehrmals wachte Link in der Nacht auf, fühlte das erdrückende Brennen seiner Wunde, stöhnte auf und konnte ab und zu nicht anders als einfach nur einen Schrei von sich zu geben. Himmel, er wusste vorher nicht, wozu Wunden fähig waren. Sie konnten einen Menschen um den Verstand bringen, sie konnten stören und sie konnten töten…
Einmal mehr wachte er mit Herzrasen in Schweiß gebadet auf, sich wünschend, er wäre nicht aufgewacht. Sein gesamter Bauch brannte, nur schwerlich unterdrückte Link den Zwang sich zu übergeben. Er fröstelte, warf seinen Kopf hin und her und fühlte etwas Nasses vor Schmerzen über seine Wange tropfen. Er richtete sich begleitet von demütigenden Qualen auf, und bewegte sich aus seinem Bett. Jeder Schritt setzte ihm zu, jede Bewegung tat weh. Er torkelte an einen Schrank, hielt sich mit zusammengekniffenen Augen an einer Holzplatte fest. Aus einer Glasschale nahm er sich drei weitere Schmerztabletten, hoffend, sie würden endlich eine Wirkung zeigen. Er würgte diese hinunter und taumelte zu seinem Bett. An der Kante stürzte er auf seine Knie, fühlte sich zu schwach, um noch in das Bett zu krabbeln und ließ sich mit einem herzzerreißenden Fluchen fallen. Er kniff seine Augen zusammen, wünschte sich, es wäre vorbei. Diese Schmerzen, diese Qualen. Warum hatte er diese durchzustehen? Warum musste ausgerechnet er solche Pein ertragen?
Link war immer schon stärker gewesen als andere, sowohl körperlich, auch wenn man es ihm nicht ansah, und seelisch. Viele harte Schicksalsschläge machten aus ihm einen selbstbewussten, mutigen, jungen Mann. Getreu dem Motto: Was dich nicht tötet, macht dich nur stärker, zog er durch die Welt. Doch in letzter Zeit hatte Link einen Teil seiner früheren Stärke eingebüsst. Es war zuviel… Sein Leben verlief niemals nach festen Regeln, das wusste er, doch nun wurde es immer schlimmer. Das Leben stellte zu viele Erwartungen an ihn. Er war ein Jugendlicher, der leben wollte, der Spaß haben wollte. Doch wenn er glaubte, es könnte sich etwas ändern, so kam der nächste überraschende Schlag, dem ihm seine Bestimmung ins Gesicht verpasste. Ebenso wie jetzt jene unerklärbaren Wunden, die niemand anderes durchzustehen hatte.
Genervt und angewidert von sich selbst, weil er sich so schwach und hilflos fühlte, legte er eine Hand an seine glühende Stirn und starrte mit leerem Blick an die tote Deckenbeleuchtung. Genauso fühlte er sich innerlich… tot… ausgelaugt…
Er wollte kämpfen, sicherlich, aber im Moment war ihm nur noch nach Aufgeben zumute. Das Ziepen wurde stärker, ein Druck baute sich in seinem Inneren auf. Link presste seine Zähne aneinander, verkrampfte sich, bereit die nächste Schmerzwelle über sich ergehen zu lassen. Unaufhaltsam kam der Schmerz. Ein lauter Schrei aus Links Kehle und er verlor das Bewusstsein.
Um neun Uhr morgens dröhnte das Geräusch eines schrillen Radioweckers in Links Zimmer umher. Doch niemand hörte es oder schaltete es ab. Niemand außer Link befand sich im Haus. Seine Eltern arbeiteten und Sara befand sich mit ihrer Clique in der Schule. Auf wackligen Beinen lief Link die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, schwankend, gefolgt von dem Gefühl, dass sich alles um ihn herum drehte... Er nahm nichts wahr, hörte nichts und interessierte sich für nichts.
Normalerweise hatte er heute, wie jeden Freitag, eine Ausfallstunde, was wohl der eigentliche Grund war, warum ihn niemand geweckt hatte, warum nicht einmal Sara nach ihm gesehen hatte.
Doch nun war Link dabei, sogar die zweite Stunde zu verpassen. Es war ihm egal. Wie unwichtig Schule war, wenn es andere Dinge gab, die seinem jungen Herzen Sorgen machen konnten. Großes würde geschehen, Großes würde erweckt werden. Irgendwo tief in der Vergessenheit schlummerte es, flüsterte und nicht jeder sollte in der Lage sein, zu hören, was nicht gehört werden wollte.
Mühsam schleppte er seinen beanspruchten Körper ins Bad, hielt sich am Waschbecken fest und fragte sich, wer der junge Mann war, der aus einem Spiegel hervorsah. Ein merkwürdiges Gesicht, jugendlich und doch mitgenommen, wenn nicht sogar alt. Unergründliche Augen, so tiefblau wie ein vom Sturm beherrschter Ozean.
Er drehte genervt den Wasserhahn auf und tauchte sein Gesicht in das kalte Wasser des Beckens. Da war es wieder... das Stechen, das Brennen. Und niemand konnte verstehen, niemand wollte verstehen...
Sich selbst ein wenig bemitleidend schlug er mit seiner linken Faust auf das Spiegelglas, brachte es aber nicht zum Splittern.
Schließlich tapste er aus dem Bad hinaus, durchquerte den dunklen Korridor und erreichte die riesige Stube seines Elternhauses. Er nahm den Telefonhörer zur Hand, wählte eine Nummer und hörte am anderen Ende die Stimme einer Sprechstundenhilfe des Arztes, der in Schicksalshort seine Praxis hatte. Er antwortete nicht. Ohne jeden Laut legte er den Hörer wieder auf, wohlwissend, dass es niemanden außer Sara gab, dem er erzählen konnte, was passierte.
Er war verrückt.
Er musste durchgedreht sein.
Ein Spiel kann niemandem Wunden zu fügen, wenn es lediglich ein Spiel war, das für eine Spielkonsole gemacht wurde. Ein Traum konnte niemanden körperlich schaden, weil es nur ein Traum war...
Und ein Arzt würde Links gesunden Menschenverstand in Frage stellen, wenn er ihm erzählte, woher diese Wunden stammten.
Frustriert und von sich selbst enttäuscht, lehnte sich der siebzehnjährige Schüler zurück, starrte ins Nichts. Ob er nicht wenigstens in der Schule anrufen sollte? Seufzend entschied er sich dagegen. War doch unwichtig, so unwichtig wie alles, so nutzlos wie sein ganzes Dasein...
Er stand auf, lief in die Küche um dort eine Flasche mit Wasser zu suchen. Als er sie fand, trank er einen Schluck, würgte noch einen Schluck hinunter, bis dieses Behältnis mit einem Schlag aus seinen Händen fiel.
„Link...“, schallte es in seinen Gedanken. Verwirrt drehte er sich um, spähte in alle Richtungen der Küche, aber da war niemand. Diese Stimme war nun so deutlich und nah, als ob jene Gestalt, zu der diese Stimme gehörte, hinter ihm stand.
„Link...“ Erneut ein Ruf.
Er schüttelte mit dem Kopf, versuchte die Stimme zu verdrängen. Er hatte genug davon, wollte zurück, was man ihm genommen hatte- ein gewöhnliches Leben. Sein wahres Ich.
Er schlug seine Hände an seine Ohren und brüllte: „Lass’ mich endlich in Ruhe. Ich will das nicht. Verschwinde aus meinem Kopf!“ Ruhe... Stille...
Die Stille wurde jedoch unterbrochen. Den Verstand raubend tutete das Telefon vor sich hin. Link lief langsam darauf zu, hechelte vor Erschöpfung und nahm mühsam den Telefonhörer zur Hand. Es war seine kleine Schwester, die von ihrem Handy aus zuhause anrief, sich wundernd, warum ihr Bruder nicht in der Schule war.
„Link?“, sagte ihre freche Stimme am anderen Ende.
Ein schwaches „Ja“ erklang.
„Wieso bist du nicht in der Schule?“ Wusste Sara das denn nicht?
Immerhin hatte sie selbst seine Wunde verbunden und desinfiziert...
„Ich...“, fing er an, aber gab nicht zu, dass er sich mit der Verletzung herumquälte. „... hatte keinen Bock...“, endete er und stützte sein gesamtes Körpergewicht auf dem Tisch ab, auf welchem das Telefon stand.
„Bist du total übergeschnappt? Spielst du etwa wieder Zelda?“
„Nein, Sara und jetzt lass’ mich in Ruhe. Ich habe keine Lust auf deine dummen Ratschläge, also erspar’ mir diese“, fauchte er, überrascht, dass er dazu noch die Kraft hatte.
„Verdammt, ich rufe an, weil ich mir Sorgen um dich mache und erhalte nichts als deine Gemeinheiten. Da hätte ich mir den Anruf ja auch erübrigen können. Vielen Dank auch.“ Damit legte Sara auf und Link tippte genervt auf den Tasten herum. Was machte das schon, sagte er sich. Sara würde sich wieder abregen.
Mit einigen Tabletten und der Fähigkeit sich von den Schmerzen abzulenken, brachte Link den Vormittag herum. Er saß vor dem Fernseher, sah sich stupide Talkshows an und amüsierte sich über deren Definition von Problemen... Hatten jene Leute doch eine Ahnung, von Dingen, die man wirklich als Problem, Schicksalsschlag oder Prüfung bezeichnen konnte. Menschen, mit billigen Vorstellungen über die Welt. Menschen, denen Worte wie Lebenssinn und Daseinsgrund nichts sagten. Manchmal kam sich Link wie der letzte Mensch auf Erden vor, oder der letzte Mensch aus einer anderen Dimension, in welcher man das Leben mit anderen Augen sah, in welcher viele noch wussten, was im Leben wirklich zählte...
Es gab Wichtigeres als die Nachbarin, die nachts heimlich in fremde Fenster schaute. Es gab Wichtigeres als die beste Freundin, die den eigenen Liebhaber ausspannte und es gab tausendmal Wichtigeres als die blöde Ziege im Dorf, die andere nur nach dem fettleibigen Äußeren einschätzte. Doch jenes Wichtige wurde von den meisten Menschen in Links Umgebung nicht mehr wahrgenommen...
Gegen ein Uhr mittags kam dann auch noch ein Bote und brachte dem kränklich- wirkenden Link eine volle Ladung von irgendwelchen Werbeprospekten, die er nächste Woche irgendwann in Schicksalshorts alten Gassen verteilen sollte. Schon häufiger hatte er solche Nebenjobs angenommen und nicht mehr damit gerechnet. Fluchend stellte er den riesigen Karton mit dem Zeugs einfach in den Korridor und ahnte, dass er nächste Woche nicht dazu in der Lage wäre, die blöden Werbezettel auszutragen. Es war egal, hatte keine Bedeutung, wie eine selbsterschaffene Macht, von der man glaubt, abhängig zu sein.
Während Link im Korridor seines Elternhauses stand, überkam ihn erneut ein seltsames Gefühl, als kannte er sich selbst nicht, als würde das Herz in seiner Brust aus einem Grund schlagen, den er schon lange, viel zu lange vergessen hatte. Er öffnete die Haustür und trat hinaus in den Vorgarten. Frischer Wind wehte um seine Ohren, eine Empfindung, die ihn an etwas erinnerte…
Er sah den Unmengen von Grundschülern zu, die fröhlich, sich auf das Wochenende freuend, nach Hause stürmten, sah so viele lachende Gesichter. Gedankenverloren blieb Link stehen und schaute in das märchenhafte Blau des Himmels.
Dann hörte er eine Harfe, deren rührenden Töne ganz nahe erklangen. Ein trauriges Lied… Link sah um sich, aber konnte den Ort der Melodie nicht ausmachen und genoss das Spiel. Seit wann gab es in der Nachbarschaft eigentlich jemanden, der Harfe spielte? Oder war jemand in das leerstehende Gebäude am Ende der Straße eingezogen? Neugierig lief Link einige Schritt die Straße hinab und blickte zu dem verlassenen Haus, welches umzingelt von Laubbäumen fast unheimlich wirkte. Nein, die Klänge wurden nicht lauter und verrückterweise auch nicht leiser. Link hörte dem Klang zu, fühlte sich fast ein wenig besser bei jener Melodie und stolperte langsam nach Hause. Doch die Töne verschwanden einfach nicht, auch nicht, als Link sich in sein Zimmer begab, auch nicht, als wieder die Müdigkeit über ihn hereinfiel.
Als Sara spät nachmittags heimkam, lag Link schlafend auf seinem Bett und wirkte halb tot mit der Blässe im Gesicht und den Augenringeln. Sie wollte ihn aufwecken, aber er ließ sich nicht wecken, murmelte etwas, aber machte seine Augen nicht auf. Sicherlich machte sich Sara Sorgen, aber was sollte sie denn tun? Sie verstand Link in der Hinsicht, keine ärztliche Hilfe annehmen zu wollen und verstand ihn, wenn er diese Sache selbst überstehen wollte. Sie ging schließlich aus dem Raum und wartete in ihrem Zimmer darauf, dass er seine Augen wieder öffnete.
Link wandelte schmerzfrei in einer fremden Welt umher. Vor ihm lag ein großes Stück Wald, welches in die Farben des Herbstes getaucht war. Es sah wunderschön aus. Angezogen von der Schönheit der Natur lief er in den Wald hinein. Er folgte dem Weg und vernahm die nostalgischen Klänge einer einsamen Harfe. Link lief ein Schauer über den Rücken, fühlte einen kleinen Stich in seinem Herzen, wie den Ruf einer weitentfernten Erinnerung und ging in Richtung jener sanften Melodie, die sein Herz berührte. Wer spielte dieses Instrument nur so einfühlsam und zärtlich? Link konnte nicht anders, als jene Person zu finden. Der Weg wurde von einem kleinen Bach unterbrochen. Sein kristallenes Wasser umspülte sachte das Gestein. Nun folgte Link dem Bach, der sich mit der Zeit zu einem kleinen Fluss herausbildete.
Auf einer kleinen Lichtung, die von dem Bach umrahmt wurde, saß auf einer grünen Wiese ein wunderschönes Mädchen und spielte. Traurig und verträumt...
Link ging auf sie zu. Er konnte gar nicht anders, seine Beine bewegten sich ganz von alleine. Ihre Augen waren noch immer geschlossen, aber Link wusste irgendwie, dass sich darunter ein himmlisches Blau befand. Sie besaß lange goldene Haare, die im Licht der Sonne glitzerten und im Wind leise wehten. Sie trug ein anmutiges Kleid mit vielen Verzierungen, aus samtenen Stoff und strahlte ihm entgegen, als sie ihre Augen aufschlug. War sie ein Engel, sagte eine Stimme in Links Kopf, oder ein anderes wunderbares Märchengeschöpf? Sie sprach leise zu ihm: „Sag’ wirst du mich finden?“ Eine Träne rollte über ihre Wange. Link erkannte diese Stimme aus seinen Träumen. Immer wieder hatte diese Stimme nach ihm gerufen und jetzt, da er die Gestalt sah, die zu der Stimme gehörte, wünschte er sich, sie würde bleiben- in seinen Träumen. Geistesgegenwärtig sagte Link: „Wenn du dich finden lässt.“ Er lief zu ihr, kniete nieder und wollte nur einmal ihre Wange berühren. Aber sie wich zurück und entgegnete: „Verzeih’, du kannst mich nicht berühren. Ich bin nur ein Schatten, nicht mehr als ein Bild in deiner Seele und auch jetzt da ich eine Stimme besitze, so wird sie vergänglich sein und wenn der Tag erwacht, wirst du keine Erinnerung an mich haben, Link.“
„Du kennst meinen Namen, so bitte sag’ mir deinen.“
„Du kennst meinen Namen, kanntest ihn schon immer und sollst ihn niemals vergessen.“ Link kannte dieses Mädchen, ja, sie war immer ein Teil von ihm, aber er hatte keine Erinnerung an sie. „Ich kenne dich, auch wenn ich deinen Namen nicht weiß...“ Sie nickte und blickte ihm tief in die Augen. Etwas stach in seiner Seele, bei diesem Blick. „Sag’! Kann ich dich denn finden?“ Sie lächelte, lief auf ihn zu und plötzlich ging sie in ihn über. Link sah um sich. Aber sie war verschwunden. Sie war nahe, sie war in seiner Seele. Link sah noch einmal um sich, erkannte den Wald als jenen, in dem er immer umherlief. Auch den kleinen Bach kannte er.
Er schrak auf und lag ausnahmsweise mal in seinem Bett. Verstört blickte er zur Uhr, es war gerade einmal kurz nach neun. Rasend zog Link sich an. Die Schmerzen beachtete er gar nicht mehr. Er hatte nur noch diesen einen Wunsch, in den Wald zu gehen. An den Traum vor wenigen Minuten konnte er sich nicht wirklich entsinnen, aber jemand oder irgendetwas sagte ihm, er sollte sich auf schnellstem Wege in die Wälder begeben. Link ging auf Zehenspitzen an Saras Zimmer vorbei, die dachte, er würde schlafen. Gerade wollte Link zur Haustür hinaustreten, als er das Auto seiner Eltern die Einfahrt hereinfahren sah, er drehte um und hastete in Richtung Hintertür. Unheimlich, dass er plötzlich eine solche Kraft entwickelte, obwohl er ernsthaft verletzt war. Vermutlich lag es an diesem Drang so schnell wie möglich in den Wäldern zu sein. Nebel kam auf und die Nacht zog über die kleine Stadt. Link raste ohne Pause in Richtung des Waldes, der nur einige Minuten von seinem Elternhaus lag.
Der Wald war tiefschwarz und nur wenige Lichtstrahlen beleuchteten ihn noch. „Nein, ich laufe nicht weg, nur wegen dieser Dunkelheit.“ Link ballte die Fäuste. „Also gut, was immer mich dort erwartet, ich werde es überstehen. Wäre doch gelacht, wenn ich nicht herausfinden würde, warum ich eigentlich hier bin.“ Link ahnte noch nicht, dass er mit diesen Sätzen ein folgenschweres Bündnis einging. Also verschwand Link in dem finsteren Wald, geleitet von einem überwältigenden Gefühl, das er nicht beschreiben konnte. Mit einer Taschenlampe leuchtete er umher. Irgendetwas wartete hier, er fühlte es. Plötzlich trat Link in kaltes Wasser. Aha- ein Bach musste hier entlang fließen, auch wenn er ihn nicht sehen konnte. Das Geräusch einer Eule drang an seine Ohren, als er weiter eilte. Langsam überkamen ihn Zweifel. Was zum Kuckuck tat er hier überhaupt? Er hörte sich selbst reden.
Sinnlos.
Absurd.
Albern.
Verdammt, jetzt versagte auch noch das Licht seiner Taschenlampe. Verflucht. Wenn man schon mal was vorhatte, wurde man gleich vom Pech verfolgt. Link lief noch ein Stück, schaute dann um sich, als er eine kleine Lichtung entdeckte, vor der der Nebel zurückwich und das Licht des Mondes sanft auf das Gras fiel. Die Bäume ringsherum warfen große Schatten...
War dies ein Traum, fragte er sich. Er konnte nicht verstehen, weshalb er hier war. Das erste Mal konnte er sich selbst nicht verstehen. Seine Wunden brannten ein wenig. Erst jetzt begriff Link, was er tat. Er musste die ganze Zeit wie in Trance gewesen sein. Seine tiefblauen Augen glühten im Dunkel, als der Mond eine Gestalt preisgab, die mit dem Gesicht nach unten im Bach lag. Wie ein Irrer stürzte Link auf sie zu... ließ sich einfach fallen und hielt die Person in den Armen. War das denn wirklich möglich? Wer war dieses Mädchen? Auch wenn Link in der Düsternis, nur wenig sehen konnte. Dieses Mädchen brauchte dringend Hilfe. Er suchte nach einem Puls an ihrem Hals. Hoffentlich hatte sie nicht zu viel Wasser geschluckt. Nein. Gott sei Dank, sie atmete und ihr Herz schlug. Verrückt! Hatte sie etwa nach ihm gerufen?
Egal wer sie war, oder aus welchem Grund sie hier lag. Unwichtig, wieso Link ihren Ruf hörte, das einzigste, was ihn momentan interessierte, war ihr zu helfen. Er nahm sie auf die Arme. Verwundert über ihr Leichtgewicht und schockiert über seine eigenen Kraftreserven, ging Link aus dem Wald hinaus und huschte wie ein Schatten durch die Schwärze der Nacht.
Vor seinem Zuhause blieb er stehen, setzte das Mädchen ab, und warf zielgenau einen Stein an Saras Fensterscheibe. Sie öffnete sofort. Bestürzt schaute sie auf ihren Bruder, ließ ihren Blick schweifen und schaute dann verwundert auf das Mädchen in seinen Armen. „Sara. Kannst du Mum und Dad für mich ablenken?“
„Du Idiot, weißt du eigentlich, was ich mir für Sorgen um dich gemacht habe.“
„Ja, ist gut. Aber dieses Mädchen hier braucht dringend Hilfe.“
„Na gut. Beeil dich!“
Wenige Minuten später trat Link in sein Zimmer hinein. Seine Eltern hatte er wunderbar reingelegt. Sie wussten überhaupt nichts davon, dass er jetzt einen Gast hatte.
Das Mädchen auf seinen Armen war total durchnässt, eiskalt und sah mitgenommen aus. Dennoch, als er in den Schein einer Lampe in seinem Zimmer trat, war er von der Schönheit des Mädchens schlichtweg überwältigt. Ein hübsches, eher schmales Gesicht, ohne jegliche Fehlerchen, Unreinheiten oder Makel, welches von einer perfekten Nase, vollen, roten Lippen, einem wohlgeformten Kinn und einer zarten Stirn abgerundet wurde. Ihr schlanker, für Link fast zerbrechlich- wirkender Körper, an dem ebenso alles perfekt proportioniert war, wurde von einem bis zu den Füßen reichendem weinroten Kleid mit goldenen Mustern und Verzierungen bedeckt. Lange Ärmel, aber ein eher auffordernder Ausschnitt. Das Kleid lag sehr eng an, sodass jedes Detail ihres anmutigen Äußeren zu bewundern war.
Er legte sie vorsichtig auf sein Bett und zog ihr die roten Sandalen aus, die sie trug. Sie hatte nicht einmal ein Paar Strümpfe an. Folglich waren ihre zarten Füße eiskalt. Schnell legte Link eine flauschige Decke darüber. Wenige Sekunden vergingen und Link konnte seine Augen von ihr einfach nicht abwenden. Etwas war da... sie erinnerte ihn an irgendetwas. Aber was?
Und noch etwas machte ihn beinahe wahnsinnig: Die Tatsache, dass er sich mit einem Schlag solche Sorgen um sie machte. Er sorgte sich um ein Wesen, das er nicht einmal kannte, er fühlte beinah Angst um sie, obwohl er jenes Mädchen wohl nur zufällig im Wald gefunden hatte. Oder war es gar kein Zufall... war es nicht vielleicht Schicksal?
Er hetzte mit einem Sprung zu dem Ölofen und schürte ihn an. Dann stand er jedoch vor einem Problem. Sie war total durchnässt und musste unbedingt von diesem Kleid befreit werden, bevor sie sich noch den Tod holte.
Er setzte sich an den Rand des Bettes, verwirrt, warum er sie im Augenblick am liebsten in seine Arme nehmen wollte, verzaubert von diesem wunderschönen Gesicht, das ein noch bezaubernderes Lächeln erschaffen könnte. Er strich sachte ihre goldenen, nassen Strähnen aus dem Antlitz, als sein Blick zu ihrer rechten Hand fiel. Sie umklammerte etwas darin. Vorsichtig versuchte Link ihre zur Faust geballte Hand zu öffnen und den Gegenstand daraus zu lösen. Sie stöhnte leise auf, schüttelte den Kopf im Schlaf und rührte sich dann wieder nicht mehr. Link versuchte es erneut und nahm den Gegenstand an sich. Verwundert betrachtete er sich ein Schmuckstück, das an eine reichlich verzierte, mit Edelsteinen besetzte Tiara erinnerte. Link sah es sich genau an, fuhr über die Verzierungen und legte es auf seinen Nachttisch. Was kümmerte ihn im Moment dieses Schmuckteil. Sie war ihm aus irgendeinem Grund weitaus wichtiger... sie war ihm so vertraut... und wenn ihre Stimme nach ihm gerufen hatte, dann war er für sie verantwortlich. Er beugte sich leicht über sie und wollte lediglich wissen, ob sie regelmäßig atmete. Vielleicht wäre es gut, einen Arzt zu rufen? Aber was sollte Link dem dann erzählen? , Helfen sie diesem Mädchen bitte, ich habe sie ihm Wald gefunden, weil sie nach mir gerufen hat...’ So ein Quatsch. Schnell vergas Link den Gedanken. Außerdem kannte Link ihren Namen nicht, sie hatte nichts dabei, weder einen Ausweis noch irgendwelche anderen Papiere und erst recht keine Versichertenkarte. Welcher Arzt würde sich ihrer schon annehmen? Außerdem sagte ihm sein sechster Sinn, dass es falsch wäre, jemanden um ihre Existenz wissen zu lassen...
Sie nahm zwar nur wenige Luftzüge in der Minute, aber sehr regelmäßig, was für Link ein gutes Zeichen war. Sie drehte sich schließlich auf ihre rechte Seite, sodass Link sie nicht mehr ansehen konnte und begann zu zittern. In dem Augenblick gingen bei Link die Alarmglocken los. Verdammt, dachte er, ich muss ihr aus diesem nassen Outfit verhelfen.
Kaum einige Sekunden waren vergangen, da trat glücklicherweise Sara in sein Zimmer. Sie warf ihm komische Blicke zu, aber immerhin war dieses Mädchen jetzt in Sicherheit.
„Link! Jetzt verrate mir doch mal, was passiert ist.“ Während er seine Augen nicht von der unbekannten Schönheit abwenden konnte, erzählte er ihr die ganze Geschichte. Sara fand das alles einfach ungeheuerlich. Erst diese ernsten Verletzungen und nun die Geschichte mit dem Mädchen, das angeblich seinen Namen rief... langsam aber sicher würde Sara noch durchdrehen. Sie war ja einiges von Link gewöhnt. Aber das übertraf das Maß. „Nun ja, und was wollen wir Mum und Dad erzählen, wenn sie etwas merken.“ Sara runzelte die Stirn. „Ich weiß“, sagte sie, „Wir sagen einfach sie ist deine Freundin.“ Link lief purpurrot an: „Aber Sara.“ Link klang verlegen. „Das kannst du doch nicht machen.“
Sara nahm Link beiseite und flüsterte in sein Ohr: „Was anderes, kommt dir ihr Aussehen nicht komisch vor?“
„Was soll schon komisch daran sein, sie ist eben hübsch...“
„Oh, ja, wunderschön in jedem erdenklichen Sinne, nicht wahr? Blonde Haare, sicherlich auch noch blaue Augen, einen roten Mund, der geradezu danach schreit, geküsst zu werden und du sagst nur: , Sie ist eben hübsch...’“
„Ach Mensch Sara, nun reg’ dich doch nicht gleich so auf.“
„Ich soll mich nicht aufregen. Jetzt hör’ mir doch mal zu, Link. Du weißt doch besser als ich, dass hier irgendetwas gewaltig verkehrt läuft. Dieses Mädchen ist kein gewöhnliches, auch wenn du sie gerne so sehen willst.“
„Aber ich wollte ihr doch nur helfen. Hätte ich sie etwa im Bach liegen lassen sollen. Hätte ich sie ertrinken lassen sollen?“
„Natürlich nicht, aber...“
Link fuchtelte aufgeregt mit seinen Armen in der Luft herum. „Natürlich nicht, aber sie hat hier eben nichts verloren. Ist es das, was du sagen willst?“ So allmählich wurde Link wütend auf seine kleine Schwester.
„Sorry, Link, aber irgendwie macht mir ihr Erschienen Angst. Ich weiß nicht wieso, aber mit dem heutigen Tag, hat sich eben etwas verändert...“ Link nickte nur und schaute sich die Fremde in seinem Bett wieder an.
In der Tat. Es war an der Zeit für Veränderungen in Links Leben. Es war die Zeit gekommen, da er sein Schicksal und seine Bestimmung erneut verstehen sollte. Es war unumgänglich für ihn dieses Wesen zu finden und erforderlich, für sowohl das Gute als auch das Böse, dass Link sie kennen lernte.
„Und was an ihrem Aussehen findest du nun so komisch?“, fragte Link dann noch gereizt.
„Ist gut. Ich hatte nur so einen Gedanken...“
Sara blickte auf den Gamecube, der in Links Zimmer stand.
Link drehte sich um und murmelte: „Wie auch immer- sie ist total unterkühlt… Ich würde sagen, du gibst ihr etwas von deinen Klamotten… Die könnten ihr doch passen. Ich meine, sie…ist ganz durchnässt… und dann…“ Link wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser, wohl bei dem Gedanken, dass irgendjemand diesem anmutigen Geschöpf das Kleid ausziehen musste.
Wieso eigentlich? Warum zum Teufel?
Sara gluckste geradezu abartig, bis sie schließlich in schallendes Gelächter ausbrach. „Haha… Jetzt ist wohl ganz und gar der Gar aus, mein Lieber…haha.“
Links Mundwinkel verzogen sich und angesichts Saras Demütigungen spannte sich seine linke Faust gefährlich an.
„Link, ich habe doch nur Spaß gemacht.“
„Jaja… nur Spaß gemacht. Aber diese Situation hier ist nicht lustig, Sara. Dieses Mädchen braucht sofort warme Klamotten und muss unbedingt gewärmt werden.“ Sara nickte, Link hatte vollkommen Recht.
„Gut, mein Brüderchen. Du rennst ins Badezimmer und holst ein Paar Handtücher und eine Schüssel mit heißem Wasser. Wir müssen sie, auch wenn du rot anläufst, von dem Kleid befreien und sie trocknen.“
„Jep, bin schon dabei.“ Und flugs war Link mit Saras Anweisungen aus dem Zimmer verschwunden.
Er blickte auf die weiße, runde Uhr, welche im Badezimmer hing, während er eine große Metallschüssel mit warmen Wasser voll laufen ließ. Es war kurz nach Mitternacht. Und irgendwie wusste Link, dass er diese Nacht noch weniger schlafen würde als letzte. Er gähnte und legte eine Hand auf die Wunden an seinem Bauch. Einige kurze Schmerzstiche erinnerten ihn an den Vorfall von vor einigen Stunden… Er brauchte Ruhe und Schlaf. Aber Link würde nicht eher ein Auge zumachen, bis dieses Mädchen außer Gefahr war. Er nahm die Schüssel an sich, aus welcher Dampf stieg, warf sich einige Badetücher über die Schulter und hetzte wieder in das Zimmer. Eine angenehme Wärme strahlte ihm entgegen, als er die Tür hinter sich schloss. Der Ofen hatte seinen Zweck erfüllt.
Sachte stellte Link die Schüssel auf seinen Nachttischschrank und warf das kostbare Schmuckstück dabei unabsichtlich dahinter. Mit einem leisen Klappern, auf das weder Link noch Sara wert legten, landete die Tiara in einem Spalt zwischen Wand und Tisch…
Und wieder gab Sara Link Anweisungen. „So, Brüderchen, hilf mir mal, dieses hübsche Wesen aufzurichten, damit ich am Rücken den Reißverschluss dieses teuren Kleides öffnen kann.“ Link tat, wie ihm geheißen. Er setzte sich auf die Bettkante und zog das Mädchen an ihren Armen zu ihm heran. Vorsichtig hielt er sie fest und Sara kümmerte sich um den roten Reißverschluss. Verlegen starrte Link an die braunen Holzplatten seines Dachzimmers und hoffte inständig, Sara würde sich ein wenig beeilen.
Nach wenigen Sekunden hatte Sara den oberen Teil des Gewandes von dem zarten Körper befreit. Noch immer lehnte die junge Lady an Link, der nur an die Wand starrte. Er spielte den Gentleman und sah nicht hin, sah nicht das cremefarbenes Korsett, welches das Mädchen trug oder das auffällige Muttermal in Form eines Dreiecks unterhalb ihrer Brust. Auch von dem Korsett musste Sara dieses Geschöpf befreien. „So Link, jetzt schließt du höflicherweise mal deine Augen.“ Natürlich tat er das. „Und nicht nur so tun, als ob“, warf sie hinterher. „Sonst sage ich ihr das, wenn sie aufwacht.“ Davor hütete sich Link. Er wollte nicht gleich zu Beginn einen schlechten, ungehobelten Eindruck machen, auch wenn jene Eigenschaften wohl in seiner Seele lagen. Sara entknotete das Korsett und legte ein großes Badetuch um die junge Dame.
„So, du kannst die Augen wieder öffnen, Link. Du warst wirklich artig. Hätte ich dir gar nicht zugetraut.“, meinte Sara grinsend.
„Du traust mir viele Dinge nicht zu.“
„Vielleicht ist das auch besser so, mein lieber Bruder.“, meinte sie noch und lachte. Auch Link rang sich endlich mal wieder zu einem Lachen. Etwas, das er schon lange nicht mehr getan hatte.
„Hey? Was war das denn? Du kannst ja sogar noch lachen, Link.“ Er scheute Saras Blick, die langsam verstand, womit sein plötzlich fröhlicheres Gemüt zusammenhing. Dieses Mädchen war der Grund, war der eine Grund, warum Link endlich sein Lachen wiedergefunden hatte.
„Ich frage mich, warum sie nicht endlich mal aufwacht… vielleicht sollten wir doch einen Arzt holen, oder zumindest Mum und Dad Bescheid geben.“, sagte Sara, als sie die Haare des anmutigen Mädchens mit einem Zopfhalter zusammenband. Link dachte nach, überlegte und fand lediglich letztere Idee tauglich. Ihm war immer noch mulmig bei dem Gedanken, jetzt einen Arzt zu rufen. Was, wenn dieser sie gleich mitnehmen würde? Was, wenn sie irgendwohin käme und sie nicht einmal wüsste, wo und warum. Nein, außer seinen Eltern durfte niemand wissen, dass sie existierte…
Er schüttelte mit dem Kopf. „Sara, ich kann dir das vielleicht nicht erklären, aber ich fände es besser, wir rufen keinen Arzt.“
„Sag’ mal. Spinnst du denn? Und wenn dieses Mädchen krank ist und dringend medizinische Hilfe benötigt?“ Link legte eine Hand auf die Stirn des Mädchens und murmelte. „Glaub’ mir bitte, aber ich weiß, dass es ihr gut geht.“ Sara schüttelte mit dem Kopf.
„Du hast einen Schlag. Tut mir leid, aber das trifft die Sache wohl ins Schwarze.“
„Verdammt, Sara.“, fing Link an. Seine Stimme wurde laut und energisch. „Du verstehst das nicht. Sie hat nach mir gerufen, nicht nach einem Arzt. Wenn du so wenig Vertrauen in mich hast, dann ruf’ doch einen Arzt, oder rufe gleich die Polizei. Aber eines weiß ich, bevor hier jemand eintritt, bin ich mitsamt dem Mädchen verschwunden. Und Basta!“ Link sprang auf und brüllte. „Hör’ gefälligst auf, dich hier wichtig zumachen. Sie ist in Gefahr. Sie ist einfach…“ Sara blickte verstummend zu Boden, ein wenig traurig, wie Link sie doch anfahren konnte. „Na gut, ich hoffe, du hast Recht…“
Link blickte ebenso zu Boden. Nachdenklich sah er drein und äußerte: „Ich wollte dich nicht so behandeln, Sorry.“
Sara nickte bloß, aber sah ihrem Bruder nicht in die Augen. Stattdessen zog sie dem Mädchen die restliche Kleidung über den Kopf und rubbelte mit den weichen Handtüchern über die nassen Beine, den nassen Rücken, bis die Dame ganz trocken war. Eingehüllt in Badetücher lag das Mädchen nun auf Links Bett und wiedereinmal sah sie unheimlich zerbrechlich für den jungen Mann mit dem grünen Basecape aus.
Er setzte sich auf die Matratze und blickte zu den geschlossenen Augen. Ihre Augen bewegten sich schnell. Sie musste träumen…
„Sara, siehst du das… sie träumt.“
„Ja, vielleicht träumt sie von dir, du Frauenheld“, sagte sie spöttisch. Link verkniff sich ein Fluchen und erwiderte. „Wenn sie aufwacht, kann ich sie ja gerne danach fragen.“
„Ja, aber erwarte nicht zuviel. Vielleicht ist ihr Charakter wie ihr Äußeres. Eitel. Unnahbar und eigensinnig.“
„Das weißt du nicht.“
„Du aber auch nicht. Was willst du denn von ihr? Sei doch froh, wenn irgendjemand sie abholt. Da sind wir sie wenigstens los.“ Bestürzt sah Link in die graublauen Augen seiner kleinen Schwester. „Ich kann einfach nicht glauben, wie herzlos du doch sein kannst.“
„Und ich kann nicht glauben, wie dumm, naiv und liebenswürdig du sein kannst.“
„Immer noch besser als ein herzloses Monster zu sein. Sara, bitte. Können wir diese sinnlosen Diskussionen nicht endlich beenden?“
„Diese Diskussionen sind nicht sinnlos. Du kannst dieses Mädchen nicht einfach bei uns wohnen lassen.“
„Das habe ich auch gar nicht gesagt. Wenn sie aufwacht, wird sie schon wissen, was zu tun ist.“
„Wenn sie aufwacht!?! Vielleicht liegt sie ja im Koma?“
„Und du wirfst mir vor, ich spinne? Du hast hier den Knall, Sara.“
Verletzt drehte sich Sara um, lief zu der Tür und schlug diese hinter sich zu. „Idiot!“, schallte es von außerhalb.
Link schüttelte mit dem Kopf. Wer hatte den angefangen, Ärger zu machen. Er ja wohl nicht.
Link hatte sich schon öfter wegen belanglosen Dingen mit seiner fünfzehnjährigen Schwester in den Haaren gehabt. Sie waren eben Geschwister, da kamen solche Streitereien vor… Sara würde sich schon wieder beruhigen, denn in ihrem Inneren wusste sie, dass Link mehr als Recht hatte. Stets hatte sie sich von seinen Einfällen, von seiner Sicht die Dinge zusehen, überzeugen lassen. Und genauso würde es wieder sein… dann, wenn dieses Mädchen ihre Augen aufschlug.
Schon seltsam, dass sie einfach nicht aufwachte. Vielleicht war ja etwas Schreckliches mit ihr geschehen. Welcher halbwegs normale Mensch lag schon mitten in der Nacht im Wald, das Gesicht in den Bach gestürzt, wie als wollte sie es verbergen, nicht zugeben, wer sie war. Genauso kam Link diese Gestalt vor… als wollte sie niemandem mehr zeigen, wer sie war.
Link lief zu einem Wäschekorb und holte eine dicke Decke daraus hervor. Sorgsam legte er diese über den bewusstlosen Körper einer Gestalt, die ihm soviel sagte, auch wenn er sie nicht kannte. Er blickte in das anmutige, blasse Gesicht und fragte sich heimlich, warum er sich schon wieder solche Sorgen machte. War es sein natürliches Mitgefühl, seine Hilfsbereitschaft und Empathie für die Menschen in seiner Umgebung. Oder lag es daran, dass sie Schlafendes in seinem Herzen berührte? Sie murmelte irgendetwas und schlug ihren Kopf zweimal von einer Seite auf die andere. Link war sich sicher, sie musste einen Alptraum hinter sich haben. Etwas war mit ihr geschehen. Und Verzweiflung, wie auch Angst begleiteten sie. Er nahm ihre rechte blasse Hand in seine beiden, spürte von ihr ein leichtes Drücken, so als wollte sie ihm etwas mitteilen, als wollte sie ihm sagen: „Hab’ Dank…“
Link begann zu lächeln. Ein ehrliches Lächeln. Auch etwas, wozu ihm in den letzten Wochen und Monaten nie zumute gewesen war. Doch jetzt, da sie hier war… da fühlte er sich, als schiene ein warmer Hoffnungsschimmer auf seine erkaltete, niedergebeugte, jugendliche Seele…
Er lächelte und es fühlte sich angenehm an.
Sara kam zurück und sah das stille, warme Lächeln auf Links Gesicht, das ihre Meinung endgültig änderte. Dieses Mädchen hatte es mit ihrer bloßen Anwesenheit geschafft, einen Eisberg zum Schmelzen zu bringen…
„Link?“
„Hast du weitere Argumente, warum sie verschwinden soll?“, sagte er trocken und löste ihre Hand aus seinen, obwohl sich ihre Finger in seinen festgekrallt hatten.
„Nein… ich wollte mich bei dir entschuldigen. Ich hätte deine Entscheidungsfähigkeit nicht anzweifeln sollen.“
„Also bist du einverstanden, dass sie hier bleiben kann?“
„Ja“, sagte Sara kurz und knapp.
„Danke, Schwesterchen.“
Sara ging nun eine Spur gefasster und beruhigter aus dem Raum: „Ich werde ein paar Wärmekissen holen.“
„Danke noch mal“, sagte Link, als er sich erneut an den Rand des Bettes setzte. Sara blieb noch kurz in der Tür stehen, was Link allerdings nicht bemerkte. Er machte ein zu Tode betrübtes Gesicht und flüsterte: „Es tut mir leid… Es tut mir… so leid.“ Link schien nicht bei Verstand zu sein. Seine Augen blinzelten kurz und schlossen sich dann.
Sara ging aus dem Raum, ließ die Tür ins Schloss fallen und lehnte sich dagegen. Sie begriff nicht, was vor sich ging, verstand die Welt nicht mehr. „Link“, seufzte sie, ahnend, dass er bald nicht mehr der nette, junge Mann, ihr Bruder, sein würde. Er machte sich mehr als nur Sorgen um dieses Mädchen. Sein Blick hatte sich ganz und gar gewandelt. Nun lag soviel Gefühl und Wärme darin, soviel Fürsorge und Verständnis. Als Sara wieder kam, saß er immer noch neben ihr und sah sie einfach nur an.
„Link“, sprach Sara. Dieser erschrak leicht, als wäre er ganz plötzlich wieder zur Besinnung gekommen. „Ich… Ich weiß, es klingt verrückt- aber ich kenne sie...“ Sara glotzte entgeistert. Aber eigentlich hatte sie derartiges schon geahnt. „Na dann, Link, es ist schon spät. Auch wenn morgen das Wochenende beginnt, ich bin hundemüde.“ Link stimmte zu. Es war ein langer Tag gewesen mit verrückten Erlebnissen, die Links ganze Kraft kosteten. Nach einem leichten Seufzen gähnte er und legte eine Hand vor seinen Mund. Sara war verschwunden.
Er verspürte einen leichten Wunsch, die Hand des Mädchens zu halten… nicht, weil er sich zu ihr so hingezogen fühlte, sondern weil…
Erneut begann die Schöne zu zittern und Link legte vorsichtig eine Hand auf ihre Stirn, überrascht von der Samtigkeit ihrer Haut. Nein, sie hatte kein Fieber, aber wohl etwas anderes. War es Angst?
„Hey…“, sagte er und versuchte sie endlich aus ihren Träumen zureißen. „Kannst du mich hören?“, fragte er, eine Spur lauter als vorhin. Er berührte eine ihrer zartrosa Wangen und streichelte gegen seinen Willen mit den Fingerspitzen über die dort befindliche sanfte Haut. Sie seufzte etwas, ein Wort, das Link nicht verstehen konnte.
„Wach bitte auf…“, murmelte er und wünschte sich, er könnte einfach so dreist sein und sie jetzt in seine Arme nehmen. Sie machte ihn so wahnsinnig und zog ihn wie magisch an…
Um sich abzulenken trat Link vor sein Fenster und schaute hinaus in die dunkle Nacht. Einzelne Tropfen fielen von dem dunklen Nachthimmel. Er war müde und fühlte nun die Last seiner Augenlider zu nehmen. Außerdem machte sich seine seltsame Wunde bemerkbar. Das Brennen wurde stärker und löste das eher zu ertragende Ziepen ab. Vorhin noch hatte er nicht einen Gedanken an die Wunde verschwendet, da es wichtigeres gab. Ein wunderbares Geschöpf lag in seinem Bett, jemand, von dem er glaubte, er hätte ihn vermisst, jemand, mit einer unvergleichlichen Aura… aber jetzt brannte seine Wunde wieder heftiger. Es wurde ihm schwarz vor den Augen. Er schleifte seinen mitgenommenen Körper in die Küche, wollte sich noch abstützen, griff mühsam an den Lichtschalter, legte diesen aber nicht um und brach in purer Dunkelheit zusammen…
Link lag auch eine halbe Stunde später noch in dem Zimmer umgeben von Finsternis. Er schlug langsam seine Augen auf und sah Licht, von dem er nicht wusste, woher es kam. Sanfte kleine Engel des Lichtes tanzten in der Küche umher, in welcher kein Gegenstand mehr zu sein schien. Die Einrichtung war verschwunden. Link versuchte sich aufzurichten, aber es ging nicht. Er hatte einfach keine Kraft, alles war so schwer... seine Arme und Beine wie taub. Ein Wind wehte in das hellerleuchtete Zimmer. Er drehte seinen Kopf in die Richtung aus der jener Luftzug rührte und sah eine Pforte in der Küche, dort wo normalerweise der Kühlschrank stand. Helle Vorhänge wehten in dem Wind, der von einem Ort herrührte, der zu einem weitentfernten Paradies führte. Erneut ein Licht, wie jene Strahlen, die lieblich durch den morgendlichen Nebel im Wald fielen. Es blendete, aber Link sah dennoch hin und dann...
Einem Engel gleich erschien eine reine Gestalt aus dem Licht, durchquerte die Pforte. Links Augen schlossen sich, um erneut geöffnet zu werden. Das Wesen strahlte in jenem Licht, welches so warm und zärtlich berührte wie die unsichtbare Wärme des Feuers. Sie ging auf ihm zu, kniete nieder und lächelte sanft. Eine Geste des Mitgefühls, die jegliche Schatten in seinem Herzen betäubte. Sorgsam legte sie eine Hand auf die Wunde seines Bauches, heilte mit einer bloßen Berührung und nahm ihm einen Teil seines Leides. Link blickte in das Gesicht des Engels, erkannte dieses hübsche Gesicht und nahm ihre Hand. Sie zerrte ihn mit einer schnellen Bewegung zurück auf seine Beine. Link blieb angewurzelt im Raum stehen, fühlte sich auf einmal wieder stärker und sah der Gestalt hinterher, wollte, dass sie sich preisgab. „Warte...“, rief er.
Als die tanzenden Lichtfunken verglühten, wusste Link genau, dass jenes Mädchen vor ihm stand, welches er gefunden hatte, welches noch nicht bei Bewusstsein war.
„Kehr’ nicht zurück durch diese Pforte...“, sagte Link leise, suchte ihren Blick, wollte in diese himmelblauen Augen sehen. Er lief auf sie zu.
„Ich kann nicht...“, murmelte sie und blieb ihm den Rücken zugewandt stehen.
„Warum nicht... die Welt, in der ich lebe, hat viele schöne Dinge zu bieten...“
„Und was erwartet mich in deiner Welt, in der anderen Welt?“
„Hoffnung... Vertrauen... Freundschaft...“, murmelte Link, nicht sicher, ob er die Welt, in der er lebte wirklich liebte und ob es diese Dinge für ihn dort gab.
Sie blieb weiterhin wie erstarrt stehen, als Link in ihre Richtung lief. Doch er könnte laufen so lange und so viel er wollte, er würde sie nicht so einfach erreichen.
„Bitte bleib’“, sagte Link leise. Eine ehrliche Bitte, ein Wunsch nach Gesellschaft.
„Ist das tatsächlich dein Wunsch, Link? Wirst du mir zeigen, was Hoffnung ist, mir vertrauen können und ein Freund sein?“
„Ich werde dir sein, was immer du verlangst und dir weisen, was immer du begehrst zu verstehen... Aber bitte, kehr’ nicht zurück an einen Ort, an dem nichts ist...“ Sie schwebte auf ihn zu, als das Licht um ihren Körper gänzlich verging, als ihre Gestalt lebendig wurde und ihr Körper menschlich. Sie fiel in seine Umarmung, hielt sich fest, suchte Schutz und Wärme, die Link ihr schenken wollte.
Ein Lächeln aus zwei leicht traurigen Gesichtern.
„Nenn’ mich Zelda...“, sagte sie, bevor Link benommen seine Augen aufschlug.
Tatsächlich war er auf seinen Beinen und das Licht in der Küche brannte. Ein wenig entsetzt stand sein Mund halb offen. Was war das? Ein Traum... nein, wohl kein Traum. Vorsichtig betastete er die Haut seines Bauches, wusste da waren immer noch die Wunden, aber sie brannten nicht mehr so schlimm wie in den letzten Stunden. Langsam zog sich der glühende Schmerz zurück...
Die Erinnerung an das Erlebte versank allmählich in den Sphären des Gedankenreiches und doch vergas Link nicht. Er konnte nicht vergessen... Dieses Mädchen, ihre Aura, ihre Stimme... Ihr Name...
Plötzlich kam seine Mutter in die Küche, sah ihren Sohn aufgrund der fortgeschrittenen Zeit missmutig an.
„Weißt du, wie spät es ist? Was machst du denn noch hier?“ Link sah kurz auf die Armbanduhr an seinem rechten Handgelenk und riss seine Augen erschrocken auf. Es war schon kurz nach vier... Wo war diese verdammte Zeit hin? Hatte er so lange geschlafen?
„Ähm... ich hatte nur Durst.“
„Oh ja. Deswegen trägst du auch immer noch deine Jeans und dein T-Shirt.“ Sie beäugte ihn ganz genau. „Du könntest deiner armen Mutter wenigstens Bescheid geben, wenn du schon abends weggehst.“ Abends Weggehen?
„Aber ich war nicht...“ Sie unterbrach ihn. „Sara hat mir erzählt, du hättest noch etwas zu erledigen. Als dein Vater und ich heimgekommen sind, warst du ja schließlich nicht da.“
„Oh... na dann.“ Sara war ja wirklich einfallsreich und schlau. Link musste sich dafür noch bei ihr bedanken...
„Könnte ich wenigstens erfahren, was du um Himmels Willen diesen Abend getrieben hast?“ Links Augen wanderten an die Decke, hoffend dort oben würde die Antwort stehen, die er vergeblich suchte.
„Ähm...“, stotterte er.
„Mal wieder Weibergeschichten?“, sagte sie. Eigentlich traf sie den Pfeil ins Schwarze. Und der arme, gutaussehende, künftige Held hatte einige brenzlige Geschichten hinter sich, die sich um das Thema Mädchen drehten.
„Mum, nun hör’ aber auf.“
Sie grinste und meinte neugierig. „Mir kannst du das ruhig erzählen...“ Links Wangen färbten sich vor Wut und Verlegenheit ein wenig rosa. „Es ist nicht so, wie du denkst, Mum“, entgegnete er genervt.
„Und ich dachte, du stellst uns endlich mal jemanden vor“, sagte sie keck.
„Mum, jetzt ist’s aber genug.“ Sie lachte laut auf, während die Grübchen und Falten an ihrem Mund sich herrlich in die Breite zogen. Sie lief ans Fenster und schloss dieses, da eine kühle Brise von draußen hereindrang. Nach einer Pause meinte sie: „Aber jetzt gehst du ins Bett. Verstanden? Du hast nämlich ganz schöne Augenringel.“
Link nickte und hetzte dann die Treppen zu seinem Zimmer hinauf, sich fragend, wie beim heiligen Deku er es schaffen sollte, seiner Mutter von dem Mädchen zu erzählen, das immer noch schlafend in seinem Bett lag.
Er betrat das in Dunkelheit gehüllte Zimmer, durchquerte leise den Raum, bis er vor dem Bett stand. Noch immer schlief das einzigartige Wesen darin tief und fest, noch immer lag sie in der Position, wie schon vorhin. Er tastete nach dem Lichtschalter einer winzigen Lavalampe, die auf seinem Nachttisch stand, als ihm die Tiara wieder einfiel. Er beugte sich über den Nachttisch und sah das edle Stück in einer Ecke, die er nur erreichen konnte, wenn er sich über das Bett beugte. Okay, sagte er zu sich.
Sorgsam stützte er sich auf der weichen Matratze ab, direkt neben dem hübschen Gesicht der jungen Lady. Es war gar nicht so einfach, das Gleichgewicht zu halten... Nur mühsam gelangten seine Arme hinter den Schrank und umgriffen das Schmuckstück. Gerade als er sich mit der Tiara in der Hand aufrichten wollte, verlor er den Halt und krachte auf die Matratze, direkt neben den schlafenden Körper der anmutigen Dame. Es quietschte einmal laut. Aber sie öffnete nicht ihre Augen, sondern murmelte etwas und drehte sich in Richtung Wand. Wieder einmal kam sich Link äußerst dämlich vor, so trottelig und unbeholfen. Die Tiara jedoch landete wieder in einem Spalt und war keiner Erinnerung mehr wert.
Link vergas das dumme Schmuckstück und schob einen bequemen, großen Sessel an den Bettrand, lehnte sich entspannt darin zurück und machte es sich im wahrsten Sinn des Wortes gemütlich. Er zog seine Schuhe aus, legte seinen Kopf auf die eine Armlehne und ließ seine Beine über der anderen hinausbaumeln. So richtig müde war er jetzt zwar gar nicht mehr, aber ein wenig Ruhe würde ihm bestimmt gut tun. Wenige Minuten später war Link auf dem Sessel eingeschlafen.
Es war weit nach fünf Uhr, als die Fremde etwa sechzehn- oder siebzehn Jahre alte Person ihre Augen aufschlug. Sie hatte geträumt- von etwas Wichtigen. Sie war doch kurz zuvor noch an einem anderen Ort gewesen, wusste aber nicht mehr wo. Sie richtete sich auf, während ihr Kopf höllisch brannte. Durch den schwachen Schein der Lampe konnte sie einen Blick auf den Ort werfen, an dem sie war: ein großes, gemütliches Zimmer, in grünen und vor allem bräunlichen Tönen gehalten, ein Schreibtisch, zwei Schränke, eine Couch. Dann wanderte ihr Blick zu der Person, die neben dem Bett wachte. Nanu? Wer war dieser junge Mann? Er schlief. Sie starrte ihn eine Weile an, begriff nicht, warum sie es so lieb von ihm fand, dass er neben dem Bett wachte, verstand nicht, warum die Art und Weise, wie er ausgebreitet auf dem Sessel schlief, ihr ein Lächeln auf das Gesicht zauberte.
Zitternd wanderte ihre rechte Hand an ihre Schläfe. „Mein Kopf...“, murmelte sie. Erneut schaute sie sich um, fand jedes Detail in diesem Zimmer bewundernswert und gleichzeitig befremdend. Sie stützte auch ihre andere Hand an ihren Kopf bei dem Versuch zu begreifen. Irgendetwas stimmte nicht... es gab nichts in ihren Gedanken, kein Bild, keine Personen, keine Erinnerungen. Alles war so verschwommen, so leer. Verunsichert hetzten ihre Augen in jede Ecke des Raumes. Sie wollte verstehen, erkennen, erinnern. Aber nichts war da. Nur Ahnungslosigkeit. Unwissenheit und Nichts. Mit jeder weiteren Sekunde, die verging, wurde sie nervöser, ihr Puls raste vor Hilflosigkeit und Anspannung.
Das Mädchen konnte sich nicht erinnern, was passierte, wusste nicht, wo sie war, wer sie war, was sie war.
Leicht irritiert entfuhr es ihr: „Wo bin ich eigentlich?“ Dann bemerkte sie, als sie aufstehen wollte, dass sie gar nichts an hatte. Erschrocken umhüllte sie sich mit der Decke. Ihr Blick fiel wieder zu dem jungen Mann neben dem Bett. Sie sah ihn eine Weile an, wusste, da war etwas… Ein vertautes, angenehmes Gefühl durchfuhr sie, als sie in sein Gesicht sah. Dann seufzte er leicht im Schlaf und blinzelte. Link gähnte und öffnete schließlich seine Augen vollständig. Er sah ihr genau in das Antlitz, und hatte Recht behalten- diese Augen waren wunderschön blau. Sie sahen sich lange an, so als kannten sie einander, als hätten sie einander für eine lange Zeit vergessen müssen, weil es das Schicksal so wollte.
Sie zuckte in dem Moment zurück, als die Realität sich wieder einmischte und lehnte sich an die Wand. „Wo bin ich?“ Und Link erkannte jene Stimme, jenen Klang aus seinen Träumen. War sie es wirklich?
„Du bist im Haus von den Braverys.“ Sie runzelte die Stirn und blickte angsterfüllt in seine Augen.
Link meinte: „In…“ Er begriff, sie war total verwirrt und eine Spur Befangenheit verriet sie. „Du bist hier in Sicherheit. Du… brauchst dich vor mir nicht zu fürchten.“ Sie machte zuerst keine Anstalten ihm in irgendeiner Weise zu glauben, sondern sprach noch einmal bemüht Ruhe zu wahren: „Sagt mir bitte, wo ich bin!“
Link war total verdutzt, als er hörte, wie sie ihn anredete. „Das sagte ich bereits“, meinte er schroff.
„Ich wollte wissen…“
„…in welcher Stadt. Also gut: In Schicksalshort.“
Als sie ein bestürztes Gesicht aufsetzte, sagte er: „ Sagt dir nichts? Wir sind auf der Erde.“
Anstatt eines „Aha“, was Link nun wirklich erwartet hatte, fasste sie sich mit zitternder Hand an den Kopf und sah drein, als hätte sie ein Gespenst gesehen. „Willst du jetzt auch noch die Zeit wissen: einundzwanzigstes Jahrhundert.“
Link hatte eigentlich ein kleines Dankeschön erwartet. Aber jetzt machte er sich Vorwürfe. Vielleicht hätte er sich nicht einmischen sollen- in was auch immer. Er wollte gerade aufstehen und verschwinden, als das Mädchen ihn an der Hand zurückhielt. Überrascht drehte er sich zu ihr und setzte sich wieder. „Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber ich danke Euch…“ Diese Stimme... konnte es sein? Ein Lächeln huschte über Links Gesicht. „Bleiben wir doch lieber bei dem du.“
Erst jetzt bemerkte Link die tiefe Traurigkeit in ihren Augen, die irgendwie rätselhaft mit Schatten überdeckt waren. Ein seltsamer Schatten, der irgendetwas hinter ihren Augen, direkt in ihrer Seele, verbergen wollte. Sie hielt immer noch Links Hand umklammert. Dieses Gefühl kam ihm irgendwie so vertraut vor. Was war das nur?
Link holte einmal tief Luft und sagte dann ruhiger und gefühlvoller als vorhin: „Ich habe dich in den Wäldern gefunden. Es war vor wenigen Stunden. Du lagst mit dem Gesicht in einem Bach. Ich konnte dich dort doch nicht einfach liegen lassen. Also habe ich dich mitgenommen und an diesen Ort gebracht. Dein Kleid und deine restlichen Sachen hängen dort drüben, neben dem Ofen.“
Sie errötete. „Keine Sorge, meine kleine Schwester hat es dir ausgezogen. Du warst starr vor Kälte…“ Link kam mit einem Schlag ein Bild zurück in seine Erinnerung: wie sie am Rande des Baches lag, so hilflos...
„Nebenbei, wer bist du eigentlich?“ Ihre Augen wurden trüb, dann sah sie zur Seite, während eine Hand anmutig ihre Kette am Hals umfasste. „Ich weiß…es… nicht.“ Sie konnte sich an gar nichts erinnern, weder an ihren Namen, noch an irgendwelche Ereignisse. Link verstand nun die ausweglose Situation dieses Mädchens. Er glaubte ihr, warum und mit welchem Zweck, waren andere Angelegenheiten...
„Ich bin gerade eben zur Besinnung gekommen und als ich versuchte mich zu erinnern, da... da war alles weg... es...“
Link sah ihr eine Weile in die Augen, hatte noch nie eine solche klare, himmelblaue Farbe gesehen und konnte nicht anders als sanft und ermutigend zu lächeln.
Er konfrontierte sie zugleich mit der Wahrheit. „Sieht so aus, als hättest du dein Gedächtnis verloren, tut mir leid, dir das sagen zu müssen… Mein Name ist Link.“ Er reichte ihr die Hand. „Hey, wir kriegen schon raus, wer du bist, okay?“ Sie nickte und blickte besinnlich in seine Augen. Das erste Mal war die Spur eines Lächelns auf ihrem Gesicht zuerkennen. Sie gab ihm die Hand.
Ein Händedruck.
Eine Berührung.
Ein Lächeln.
Und ihm wurde bewusst, dass er für dieses Mädchen alles tun würde. Erst jetzt musterte sie ihn genau, sah seine tiefblauen, ernsten Augen, seine blonden Haarsträhnen, die ins Gesicht hingen…
„Link, also.“
„Jep.“
„Ich möchte dir und den Menschen in diesem Haus keine Umstände machen…Ich bin auch gleich weg.“
„Und wo willst du hin? Mit diesem Outfit wirst du mächtig Probleme bekommen. Du kannst, denke ich erst einmal hier bleiben, natürlich nur, wenn du keine andere Lösung hast. “ Sie ließ sich zurück ins Bett sinken.
Nun bemerkte Link mal wieder die Wunden auf seinem Körper. Er spürte, wie ihm der Schweiß über die Stirn trat. Die ganze Zeit hatte er sie erfolgreich unterdrückt. Doch jetzt…
Sein Atem wurde schwerer. Sein Gesichtsfeld war plötzlich verschwommen.
Jetzt hatte er wahrlich Fieber.
„Aber…“, sagte sie und verstand die unglaubliche Freundlichkeit ihres Gegenübers keineswegs. Doch der Anflug des Misstrauens von Beginn an, verschwand mit dem Blick in seine Augen. Sie mochte diese unentrinnbare Farbe darin, diese Tiefe, als ob er mit einem Blick hinter jeden Gedanken eines Menschen Herz gelangen könnte.
Link griff sich selbst an die Stirn, sie glühte geradezu. Ich hätte diese Verletzungen nicht auf die leichte Schulter nehmen sollen, sagte er sich.
„Ich kann wirklich bleiben?“
„Aber nur, wenn du aufhörst, dir Gedanken darüber zu machen, ob du irgendjemandem Umstände bereitest. Sonst trage ich dich eigenhändig aus dem Haus, verstanden?“ Link setzte sein charmantestes Lächeln auf, blickte zur Uhr. „Es ist noch früh am Morgen. Ich bin gleich wieder da und erkläre dir dann einiges“, meinte er und ging aus dem Zimmer, um im Bad einen Blick auf seine ungewöhnlichen Wunden zu werfen.
Das fremde Mädchen blieb noch eine Weile sitzen. Dann fiel ihr die Kleidung neben dem Bett auf. Es war ein enger roter Pullover, aus dünnem Stoff, und dazu eine blassblaue, helle Jeans. Sara gefielen diese Klamotten nicht, war nicht ihr Geschmack, nicht ihre Farben, und nebenbei ein wenig zu eng. Also hatte sie die Sachen mit der Annahme, sie könnten der Fremden passen, als Link und die Dame geschlafen hatten, hier abgelegt. Das Mädchen verstand und zog die Kleidung an- sie passten wie angegossen. Der Pullover stand ihr ausgezeichnet und betonte ohne Umschweife ihre anmutige, weibliche Figur.
Draußen war es immer noch dunkel. Im Schein der Lampe trat sie an den Schreibtisch, auf dem ein schwarzes Buch lag. Aus irgendeinem Grund war sie unheimlich aufgeregt, als sie die goldenen Buchstaben darauf las: ,The Legend of Zelda- Ocarina of Time.’ Neugierig blätterte sie darin herum, fand eine Graphik, die die ganze Seite einnahm und sah sich die Figuren darauf genau an. Links ragte ein königliches Schloss nach oben. Rechts eine dunkle, gefährliche Festung. In der Mitte, von reinem Licht umgeben, ein grünbemützter Junge, einmal als Erwachsener mit einem Schwert in der Hand, ein anderes Mal als Kind mit einer Okarina. Ja, sie kannte das Instrument, ja, sie war sich sicher, sie hatte es einige Male gespielt. Das Buch sah ziemlich mitgenommen aus, so, als wäre es etliche Male angesehen worden.
Link trat inzwischen wieder in den Raum, frisch gekleidet, mit gekämmten Haaren und zwei Tassen Tee in der Hand. Die Schmerztabletten wirkten jetzt vermutlich, denn er war fast frei von Schmerzen. Unsicher sah er das Mädchen nun an und suchte nach Worten um für diese Schönheit eine Beschreibung zu finden. Eine Göttin, fiel im spontan ein... ja, wie eine Göttin.
Sie stand mit dem Rücken vor seinem Schreibtisch. Sie war ungefähr einen Kopf kleiner als Link. Das lange, goldene Haar hatte sie aus dem Zopfhalter gelöst und fiel fast bis zu ihrer Hüfte. Links Blick schweifte sofort zu ihren langen, schlanken Beinen und fand, dass ihr eine Jeanshose besser passte und ihren Körper besser betonte als ein langes Kleid, unter dem diese Beine versteckt wurden. Und was für Beine… eine Schande diese zu verbergen. Eine echte Verschwendung von Schönheit, dachte Link. Und dieses Mädchen brauchte nicht ein Detail ihres Körpers zu verstecken...
Er stutzte und meinte: „Das steht dir sehr gut… Ähm, interessantes Heft nicht wahr?“ Sie drehte sich überrascht, aber nicht verärgert um, da Link sie ohne jede Vorwarnung aus ihren Grübeleien befördert hatte.
„Hab’ ich dich erschreckt?“ Sie schüttelte mit dem Kopf und schenkte ihm einen fast lächelnden Ausdruck in dem edlen Gesicht.
„Wer ist dieses Mädchen auf dem Bild?“
„Du meinst die Dame mit der Krone.“
„Ja, sie hat so einen gefassten Blick.“
„Das ist… Prinzessin Zelda.“
„Aha.“ Eine innere Ahnung beschlich sie.
Und auch Link begriff nun, was Sara vorhin schon lange verstanden hatte. Dieses Mädchen hatte eine unheimliche Ähnlichkeit mit einer Spielfigur... unheimlich...
„Sie sieht aus wie du- seltsam oder?“
„Ja.“
„Und du kannst dich an wirklich nichts erinnern?“
„Nein.“ Link wollte sie in ein Gespräch verwickeln, aber sie schien sichtlich genervt und antwortete teilnahmslos: „Das bin ich nicht… sie ist nur eine Spielfigur!“
„Das habe ich auch niemals behauptet, die Ähnlichkeit ist aber verblüffend.“ Sie würdigte ihn keines Blickes. „Okay, vielleicht warst du auf einer Art Feier und die Leute dort haben sich verkleidet.“ Link redete absoluten Stuss, er begann jetzt mit seinen wahnwitzigen Ideen, die eben typisch Link waren.
„Wäre es eine Schande eine Prinzessin zu sein?“
„Nein, es wäre eine Schande eine Spielfigur zu sein.“
„Hin oder her… wir müssen dir einen Namen geben, oder“, sagte Link, als er ihr den Tee reichte.
Sie nahm dankend einen Schluck und fragte ihn: „ Ja, vielleicht, aber er wäre nicht mein richtiger Name.“ Sie stellte die Tasse auf den Schreibtisch und griff sich an ihren schmerzenden Kopf. Was war nur los mit ihr? Sie fühlte sich so komisch, so fremd, vor allem fremd gegenüber sich selbst.
Sie schwankte ein wenig und fasste sich an ihren trommelnden Schädel. Es hämmerte so entsetzlich...
Plötzlich hielt sie eine starke Hand an ihrem Arm davon ab, umzukippen. „Vorsicht. Vielleicht setzt du dich wieder...“, sagte Link. Sie nickte und ließ sich auf den Rand des Bettes sinken.
„Danke für deine Hilfe. Bist du denn immer so freundlich?“
„Im großen und ganzen ja...“, erwiderte er und setzte sich ebenso auf die Bettkante. „Was willst du jetzt tun, nun, da du hier bist.“
Sie zuckte mit den Schultern und der traurige, verlorene Ausdruck auf ihrem Gesicht bedeutete nichts Gutes. Es stand ihr nicht... ein Lächeln gehörte auf dieses wunderschöne Gesicht mit der porzellanartigen Haut.
„Alles hier ist so befremdend... vielleicht sollte ich doch gehen...“, sagte sie und schaute aus dem Fenster. Nebel lag in der Dunkelheit gleich einem dicken Schleier, welcher jene Nacht noch düsterer machte. Links Miene verzog sich bei dem Gedanken. Er wollte, dass sie blieb. Er brauchte ihre Anwesenheit aus irgendeinem Grund, obwohl er nicht eine Ahnung davon hatte, wie sie hieß oder wer sie war.
„Ich kann dich nicht davon abhalten, zu gehen“, sagte eine einfühlsame, angenehme Stimme. Sie mochte den Klang, den tiefgehenden Klang seiner Stimme.
„Nein, das kannst du nicht...“
Nach einer Weile stand Link schließlich auf, nachdem sie sich erneut minutenlang in die Augen gesehen hatten. Sie würde hier nicht verweilen. Wie nur konnte sich Link einbilden, dieses Mädchen hätte einen Grund seine Anwesenheit willkommen zu heißen?
Diese beklemmende Situation... unheimlich vertraut.
Erinnerung an Abweisung und Sehnsucht...
Sie stand ebenso auf und kam knapp hinter ihm zum Stehen.
„Ich würde sehr gerne bleiben...“, sagte sie. Überrascht wand sich Link zu ihr. „Wirklich?“, fragte er erleichtert und zu tiefst erfreut, als ob sein Überleben von ihrer Anwesenheit abhing.
„Ja, wenn ich dir nicht auf den Wecker gehe, Link.“
„Wahrscheinlich wäre ich froh darüber, wenn du mir auf den Wecker gehst...“, sagte er mit einem Hauch Spitzfindigkeit. Sie lächelte beruhigend. Sachte nahm sie wieder ihre Tasse Tee und trank einen Schluck. „Was ist das eigentlich, was ich hier trinke?“
„Kirschtee mit Vanille. Warum?“
„Ich habe das Gefühl, ich hätte so etwas noch nie getrunken... na ja, unwichtig...“
„Das ist nicht unwichtig. Vielleicht hilft es dir, dich zu erinnern.“
„Mmh... hoffentlich.“
Sie lief ans Fenster und starrte in ihre Gedanken versunken hinaus, beobachtete die rote aufgehende Morgensonne hinter den Wäldern. Ein warmer Schein legte sich über die Stadt, über die vielen Einfamilienhäuser Schicksalshorts, über die kleinen geteerten Straßen. Auch das kam ihr seltsam vor, als ob sie nie etwas derartiges gesehen hätte, als ob sie in einer weitzurückliegenden Zeit zuhause war.
„Du sagtest, du hättest mich in den Wäldern gefunden?“
„Ja, in einem Bach... deshalb warst du so durchgefroren...“, sagte er langsam und leise, und unterdrückte den aufkommenden Schmerz in seinem Magen.
„Ich frage mich, wie ich dort hingekommen bin“, sagte sie und drehte sich zu ihm um. Mit stechendem Kopfschmerz setzte sie sich wieder und hielt eine Hand an ihre rechte Schläfe.
„Das ist eine gute Frage...“, meinte er. „Es dauert bestimmt nicht lange und du erinnerst dich. Nur Mut...“, setzte er hinzu. Sie blickte direkt in seine tiefblauen Augen, versuchte wegzuschauen, aber sein Blick war einfach nur magnetisch. Er kniete aus irgendeinem Grund vor ihr nieder und sah zu ihr auf.
„Warum tust du das für mich? Ich meine, warum hilfst du mir?“
„Nun ja, ich bin wohl irgendwie für dich verantwortlich. Schließlich habe ich dich gefunden.“ Sie nickte und versank halb in diesem unwiderstehlichblauen Leuchten seiner Augenfarbe. „Hast du Kopfschmerzen?“
„Ein wenig, ja.“
„Wie wäre es mit einer Aspirin?“
„Einer was?“, fragte sie unschuldig. Link zuckte ein wenig zurück und sich heimlich annähernd schlich ein seltsames Gefühl in seine Gedanken. Dieses Mädchen kannte viele Dinge der modernen Welt nicht, hatte nicht einmal eine Ahnung davon, was Aspirintabletten waren und musste wohl neben den Erinnerungen, die sie wiederfinden wollte auch anfangen wie ein moderner Mensch zu leben. Sie wich seinem Blick aus und sah beschämt weg. „Hältst du mich für dumm, weil ich von den ganzen Dingen keine Ahnung habe?“
Link schüttelte aufmunternd mit dem Kopf. „Nein, ehrlich gesagt halte ich dich für alles andere als dumm...“
„Was denn?“
„Ähm...“, stotterte Link, „... einzigartig.“ Ja, das traf es wohl am besten. Er sprang aus seinem fast ritterlichen Niederknien vor ihr auf und holte schnell eine Schachtel Aspirin aus seinem Glasschrank. Sie betrachtete sich die Tablette, als hätte sie so etwas noch nie gesehen, wenn nicht sogar mit ein wenig Misstrauen erfüllt.
„Hey, du kannst mir ruhig vertrauen. Das wird dir helfen.“ Sie nickte und schluckte es hinunter.
Eine Pause entstand.
„Diese Stadt heißt Schicksalshort, sagtest du vorhin.“ Wieder suchte sie seinen Blick.
„Mmh.“
„Und dieses Haus? Wohnst du hier alleine oder...“ Link lachte kreischend auf. Das war vielleicht ein Gedanke...
„Um Gottes Willen, nein, du hast eine sehr lebhafte Phantasie. Man sieht es mir vielleicht nicht an, aber ich bin erst siebzehn und“ Er setzte sich wieder auf den Sessel vor seinem Bett und ließ die Beine baumeln. „In diesem Haus wohnen noch meine Eltern und Sara, meine Schwester. Von ihr hast du im übrigen diese Klamotten erhalten.“
„Oh, da möchte ich mich aber bei ihr bedanken...“
„Das kannst du“, sagte Link lächelnd. „Wenn sie aufgewacht ist. Es ist noch früh am Morgen, vor um zehn steht bei uns keiner am Wochenende auf, also wirst du dich noch ein wenig gedulden müssen.“ Sie spielte mit einer Kette an ihrem Hals, ein schöner kleiner verschnörkelter Anhänger baumelte daran. Link sah genau hin und fand, dass es sehr viel Ähnlichkeit mit einem alten Ritterwappen hatte. Eine Art Falke oder Adler war auf dem Anhänger dargestellt, und kleine grüne Smaragde schmückten es.
„Allerdings wissen meine Eltern noch nicht, dass...“ Er sprach den Satz nicht zu Ende. Ein unsicheres Gefühl drängte sich ihm auf- die Sicht der Dinge, wenn seine Mum und sein Dad dieses Mädchen so schnell wie möglich aus dem Haus schmeißen würden. Vielleicht konnte sie bleiben, oder vielleicht würden seine Eltern Wege einleiten, jenes Geschöpf ohne Umschweife von ihm fernzuhalten. Ein unschöner Gedanke. Aber warum? Weshalb setzte es ihm zu, wenn sie gleich wieder ging. Wer zum Kuckuck war sie nur? Seine Seelenverwandte?
„Deine Eltern werden mich fortschicken, nicht wahr?“ Ein trauriger, verunsicherter Ausdruck in den ohnehin mit Sorgen belasteten himmelblauen Augen stach Link entgegen. Ein Druck baute sich in ihrem Inneren auf. Gerade hatte sie sich ein wenig besser gefühlt, nicht mehr so verloren, so hilflos wie am Anfang. Und sie wusste, dass die Anwesenheit dieses selbstlosen Menschen helfen könnte, zu überstehen, was sie befürchtete, zu erinnern... Ihre Stimme bekam Risse als sie weiterredete: „Ich weiß nicht… wohin, ich gehen soll... Link“, sagte sie. Ihre Hände krallten sich zitternd in der Decke fest, die auf dem Bett lag. Sie unterdrückte den Zwang vor Verzweiflung zu weinen und kämpfte mit sich selbst und dem Gefühl der Demütigung.
„Ich flehe dich an, bitte, lass’ mich hier bleiben. Es ist mir unbegreiflich, wie ich dich darum bitten kann... und noch unbegreiflicher zu verstehen, wieso ich dir Vertrauen schenke, aber...“ Link schüttelte mit dem Kopf und unterbrach sie. Dann zeigte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht, eine beruhigende Geste eines mitfühlenden Menschen.
„Wenn du hier bleiben willst, kannst du das. Ich werde nicht zulassen, dass dich jemand herausschmeißt, ja?“ Sie legte eine Hand auf seine linke. „Danke...“, sagte sie lächelnd.
Dann wurde die ernstscheinende Situation von anderen Geräuschen unterbrochen. Ein Magenknurren, aber erstaunlicherweise nicht von Link, der zugegebenermaßen ein großer Vielfrass war. Die junge Lady errötete ein wenig und sah dann verlegen weg.
„Ich nehme an, du hast Hunger“, sagte Link charmant mit einem Grinsen auf dem Gesicht, das dämlicher nicht aussehen konnte. Er half ihr Aufstehen und wies sie an ihm zu folgen. „Ich hoffe, du isst Gemüsesuppe.“
„Na ja... weiß nicht.“, sagte sie. Aber höflicherweise war sie nicht wählerisch.
„Die gab es gestern bei uns. Ein bisschen ist noch übrig. Und so weit ich weiß, war meine Mutter nicht einkaufen. Nächste Woche sind bei uns Schulferien und meine Eltern wollten in dieser Woche in den Urlaub fahren. Deshalb bin ich mir eigentlich sicher, dass es ihnen egal ist, ob ich nun einen Gast habe oder nicht.“ Das klang beruhigend und ausgesprochen ermutigend. Sie wollte diesen Leuten nicht noch mehr Umstände machen als nötig.
Sie folgte Link die Treppe hinab, versuchte so wenig Geräusche zu hinterlassen wie nur irgendwie möglich und lief barfuss auf dem kalten Holz entlang. Sollte sie Link etwa schon wieder um etwas bitten? Nein, aus irgendeinem Grund fühlte sie sich unwohl, ihn um noch mehr zu bitten, als sie bereits getan hatte. Es forderte schon ein großes Stück Mut jemanden anzuflehen, bleiben zu können, den man noch nie im Leben gesehen hatte und der zudem noch im gleichen Alter wie sie war, so nahm sie an und, der auch noch so ansehnlich war wie Link...
Überraschenderweise drehte er sich um und schaute zu ihren Füßen. „Ist dir nicht kalt an den Füßen.“
„Doch“, meinte sie leise.
„Warum sagst du das denn nicht?“, erwiderte Link und öffnete einen Schuhschrank, als sie beide im Korridor standen.
„Was für eine Schuhgröße hast du?“ Sie schüttelte mit den Schultern und sagte: „Das weiß ich leider nicht.“ Das hätte Link doch klar sein müssen. So langsam verstand er dieses Mädchen oder hatte er das nicht schon einmal vor langer Zeit? Nachdem die Zwei ein Paar Pantoffeln für die junge Schönheit ausgesucht hatten, liefen sie schnurstracks in die Küche. Link stellte einen kleinen Topf mit der Suppe auf den Elektroherd und wies das Mädchen an, sich auf die gemütliche Eckbank zu setzten, was sie sofort tat.
Wenig später aß die Lady mit einem einfachen Löffel die Suppe und genoss das Gefühl etwas im Magen zu haben. Link beobachtete sie, während sie aß. Jeder würde sie beobachten, wenn sie das tat, denn sie aß mit einer solchen Eleganz, dass sich Link zunehmend fragte, ob sie von der Erde stammte. Sie aß vorsichtig, legte dabei großen Wert auf ihre Manieren und musste aus der Sicht anderer dadurch sehr eitel wirken. Link fragte sich, was die Menschen von ihr dachten, die ständig mit ihr zusammengewesen waren. Was dachten ihre Eltern, wenn sie doch welche hatte. Oder lebten ihre Eltern in höheren Verhältnissen? Vielleicht war dieses elfengleiche Gesicht ja sogar adliger Abstammung? Wundern würde sich Link dahingehend nicht.
Er setzte sich zu ihr an den Tisch und grinste, als sie um einen zweiten Teller von dem Eintopf bat.
„Du hast gewaltigen Hunger, oder?“ Sie nickte.
„Warum legst du dann einen solchen Wert auf Höflichkeit. Du kannst das Essen ruhig in dich hineinstopfen.“ Ihr Mund bewegte sich zu einem Lächeln. Dennoch aß sie wohlerzogen weiter.
Nach einer Weile versuchte Link sie wieder in ein Gespräch zu verwickeln und begann: „Als ich dich fand, dachte ich...“ Da war es schon wieder. Dieses erdrückende Gefühl der Besorgnis um ihr Wohlergehen, als ob er sie kannte und sie ihm sehr am Herzen lag. „Meine Schwester und ich dachten, du wachst nicht mehr auf, weil du dich einfach nicht wecken lassen hast.“ Sie leerte ihren Teller mit einem letzten Löffel der Suppe und sagte leise: „Da war dieser Lichtweg... in meinen Träumen.“
„Ein Lichtweg?“ Sie stand auf und lief in ihrer Anmut zu der Spüle, um den Teller dort hineinzustellen. Link konnte seine Augen nicht von ihr lassen. Sie war so bezaubernd, so hübsch. Es war seltsam, aber bisher hatte Link noch nie ein Mädchen so attraktiv gefunden, wie jenes, welches er in den Wäldern, bei Nacht und Nebel gefunden hatte. Ihr goldenes langes Haar war ein wenig zerzaust, aber trotzdem verspürte Link den Wunsch, nur einmal dieses Haar zu berühren.
„Ich träumte von einem Weg, den ich entlang ging und dann wurde plötzlich alles echt... und nahm Farbe an. Dann bin ich aufgewacht.“
„Dem Himmel sei Dank bist du aufgewacht“, sagte er und trat zu ihr heran. Erneut blickten sie sich stillschweigend an, träumten in gegenseitigen Blicken. Und ohne jede Spur von Zurückhaltung berührte Link einige Strähnen des Haares, das er berühren wollte. Verdammt, er kannte sie. Sie war echt. Solange schon hatte er von ihr geträumt, ihre Stimme gehört und nun stand sie direkt vor ihm. Er erhielt die Bestätigung, den Beweis, nicht verrückt zu sein. Erleichterung. Sie war wirklich...
„Möchtest du eine Bürste?“, fragte er schließlich, um die Situation nicht als das erkennen zu lassen, was sie war. Ein Annähern.
„Ja, das wäre lieb“, erwiderte sie leise. Aber keiner von beiden unternahm einen Schritt, um aus der Küche zu gehen. Beinahe erstarrt blieben sie voreinander stehen und suchten etwas in den Augen des anderen. Sie stützte sich mit beiden Händen an der Einbauküche ab, während Link einen weiteren Schritt auf sie zuging.
„Ich kenne dich nicht...“, meinte sie.
„Ich dich auch nicht...“
„Macht das einen Unterschied?“
„Nein, das würde es wohl niemals.“
„Gut.“
„Gut.“, sagte Link abschließend. Er stand nun direkt vor ihr und legte seine Hände beidseitig ihrer schmalen Taille ebenso an den Küchenschrank. Sie waren einander angesichts der Tatsache, wie wenig sie sich kannten, vielleicht zu nah…
In dem Moment wurde die Küchentür schnell geöffnet und die etwas rundliche Meira Bravery kam mit ihrem weißen, langen Nachthemd hereinspaziert. Die Augen noch halb verschlossen, sah sie zweimal hin, um sicher zu sein, dass neben Link noch eine weitere Person in der Küche stand.
„Nanu? Was ist denn hier los?“, entkam es ihr ein bisschen zu laut. Ihre großen herausquellenden Augen sagten alles, was Link nicht hören wollte. Natürlich interpretierte sie die Situation sofort ihren Zwecken entsprechend und ging schnellen Schrittes zu dem Mädchen, welches nur knapp hinter einem flehenden Link stand, der hoffte, seine Mutter würde sich nicht im Ton vergreifen. Die junge Lady begutachtend hüpfte sie um jene herum und begann dann zu grinsen.
„Mum, es ist nicht so, wie du denkst.“, sagte Link, der diesen Satz schon tausend mal seiner Mutter um die Ohren warf, den sie aber herzlich ignorierte.
Sie reichte dem Mädchen grinsend die Hand und meinte: „Guten Morgen, junges Fräulein. Ich nehme an, du bist schon lange hier, nicht wahr?“ Ihr vielsagender, erfreuter Blick schwenkte mit leuchtenden Augen zu Link.
Das fremde Wesen sagte leise: „Guten Morgen… ja, das ist richtig, ich bin schon eine Weile hier…“
„Mum, ich muss dir da einige Sachen erklären. Würdest du bitte…“ Link versuchte seine Mutter mit einem gutmütigen Grinsen aus der Küche zu schieben. Jedoch unterbrach sie den verlegenen zukünftigen Helden ohne Scheu und sagte: „Ich verstehe schon…“, meinte sie, da sie sich an das Bild erinnerte, das sie gesehen hatte, als sie in die Küche trat. „Lasst euch von mir nicht stören, aber vielleicht solltet ihr beide euer romantisches Vorhaben in Links Zimmer weiterführen anstatt in der unbequemen Küche.“ Links Kopf glühte in allen erdenklichen roten Farben und fluchend brüllte er: „Mum, ich habe dir bereits gesagt, du siehst da was völlig falsch.“
Meira begann zu grinsen und das Mädchen hinter Link fing herzlich an zu lachen. Die unzweifelhafte Tatsache, dass jene schöne Lady auch zu lachen begann, stimmte ihn noch ratloser. Er drehte sich zu ihr um und sah nur das funkelnde Grinsen in ihren blauen Augen. Er schüttelte frustriert den Kopf und kam sich so dümmlich wie noch nie in seinem jungen Dasein vor.
Link fuhr sich nachdenklich durch seine blonden Haarsträhnen und murmelte, ohne dem Wesen in die Augen zu sehen: „Würdest du in meinem Zimmer auf mich warten, ich erkläre meiner Mutter alles, ja?“ Sie nickte und lief in ihrer anmutigen Art aus der Küche. Doch bevor sie endgültig außer Sichtweite war, rief Link ihr noch hinterher: „Ach ja… die Bürste. Schau einfach in den obersten Kasten des Schuhschranks.“
„Danke.“, hauchte sie. Link wusste, dass dieses Danke nicht dem preisgegebenen Aufenthaltsort der Bürste galt, sondern seinen Bemühungen, sie aus der Diskussion, welche er mit seinen Eltern ihretwegen führen würde, herauszuhalten.
„Also, Mum, ich muss dir einige Dinge erklären. Am besten wir gehen in die Stube.“ Was Link nicht wusste, war, dass jene junge Dame nicht auf sein Zimmer ging, sondern neben der Wohnstube stehen blieb und den Worten lauschte.
Wenig später saß Meira mit Link auf der Couch und hörte sich seine Bitte an, nachdem er ihr die ganze Geschichte, ausgenommen jener Stimme, die ihn rief, erzählte. „Ich habe sie in den Wäldern liegen sehen und konnte sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.“, sagte er leise. „Mum, ich bitte dich darum, dass sie bleiben kann. Sie fühlt sich hilflos und weiß nicht wohin sie gehen soll. Außerdem…“ Er fand nicht den Mut, die Worte auszusprechen, die gerade in seinen Gedankengängen herumkreisten. Außerdem… brauchte er sie…
„Du willst ihr wirklich helfen, die Erinnerungen wiederzufinden, Link?“
„Ja, und ob ich das will.“ Sie stand auf und lief einige Schritte in der Stube auf und ab. Währenddessen kam Links Vater herein, sich fragend, warum seine Frau schon auf den Beinen war.
„Morgen ihr Zwei, was ist denn los?“, war sein erster Satz. Und Link erzählte die Geschichte zum zweiten Mal: „Die Kurzfassung. Ich habe in den Wäldern ein bewusstloses Mädchen gefunden, sie mit hierher gebracht und als sie aufwachte, hatte sie keine Erinnerungen daran, wer sie war oder was sie gerade getan hatte. Und jetzt weiß sie nicht weiter…“
Meira und Links Vater, namens Eric, tauschten Blicke aus. Skepsis, aber auch Zuversicht.
Die rundliche Dame mit einem durchdringenden ernsten Gesicht lief händeringend auf Link zu. „Also…“
Link ahnte es, jetzt kam die Demütigung. Seine Eltern würden sie fortschicken. Sofort dachte er daran, dem Mädchen zu sagen, dass sie unerwünscht war und gehen müsste. Es war aus. Er stellte sich das verzweifelte, wunderschöne Gesicht vor und kniff aussichtslos seine Augen zu, als er es in seinen Gedanken erschuf. Warum setzte es ihm so zu, wenn sie ging?
„Also…“, wiederholte Link für seine Mutter. „Ich weiß, dass sie bei uns nichts zu suchen hat und ich ahne, was du sagen willst: Schick’ sie zur Polizei. Oder schick’ sie ins Einwohnermeldeamt. Und dann auf Nimmerwiedersehen. Zum Teufel mit ihr.“
„Link, das habe ich nicht gesagt.“, meinte seine Mutter. „Aber sie ist eine Fremde. Du weißt nichts von ihr. Du kennst ihren Namen nicht, ihre Vergangenheit. Und womöglich stimmt etwas nicht mit ihr.“ Das fremde Mädchen neben der Stubentür sah mit bangem Blick zu Boden, unterdrückte die aufkommende Hilflosigkeit und den gemeinen Druck in ihrem Inneren ganz auf sich alleine gestellt zu sein, in einer Welt, die ihr so fremd war, in einer Zeit, die sie für merkwürdig hielt…
„Das ist mir egal.“, sagte Link gedämpft. „Und wenn sie ein Monster wäre, würde ich ihr helfen wollen.“ Mit sich selbst kämpfend trat Link zu dem Kamin in der Wohnstube.
„Warum, Link? Warum ist dein Mitleid für sie so groß?“, sagte sein Vater, um auch endlich mal das Wort zu erheben.
„Es ist kein Mitleid…“, fuhr er seinen Vater an. „Entschuldige… es ist wohl eher Mitgefühl“, setzte er ruhiger hinzu.
Meira runzelte die Stirn und Links Vater lief in die Richtung, wo seine Frau stand.
„Bitte, ich flehe euch an. Lasst sie bleiben. Sie wird niemanden schaden.“
„Link… du bist ein verständnisvoller, junger Mann. Das respektiere ich. Aber das ist uns leider nicht möglich. Wir können sie nicht einfach hier aufnehmen und so tun, als wäre nichts. Was, wenn ihre Eltern sie vermissen oder andere Leute nach ihr suchen?“, sagte sein Vater. Link schwieg.
„Es tut mir leid, mein Sohn. Aber du wirst ihr jetzt sagen müssen, dass sie gehen muss.“
Eine kleine Träne lief dem anmutigen Geschöpf über die zartrosa Wange, als sie neben der Tür wartete und sich umdrehte. Sie rannte schnellen Schrittes die Treppe hinauf, hinein in Links Zimmer und kauerte sich in dem Sessel zusammen. Was jetzt, sagte sie zu sich selbst. Ein Schlussstrich. Wohin sollte sie gehen, wenn sie nicht einmal jemandem vertrauen konnte. Sie wusste, da war Gefahr… irgendwo da draußen suchte jemand nach ihr und diese Sache machte ihr Angst. Nur hier fühlte sie sich sicher und irgendwie aufgehoben. Aber das war vorbei. Nur wenige Stunden hatte sie hier verbracht und dennoch setzte es ihr zu, diesen Ort wieder verlassen zu müssen.
Sie versuchte nachzudenken. Überlegte, was sie tun könnte… aber es gab nichts zu tun. Ihre Situation war ausweglos. Warum hatte Link sie gefunden… es wäre besser gewesen, er hätte sie gelassen, wo sie war. Dann würde sie vielleicht jetzt nicht wach sein, sie würde sich nicht so hilflos fühlen, so allein und verlassen…
Sie legte ihre Füße hoch und wartete auf Link, der ihr mitteilen würde, es war Zeit zu gehen.
Der Abschied kam, ohne das ein Wiedersehen richtig begonnen hatte…
Link starrte seinen Vater in die grauen Augen, die er hatte und schüttelte stur mit dem Kopf. „Das werde ich nicht.“
„Link. Jetzt sei doch vernünftig.“
„Ich war nie vernünftig.“, entgegnete er, „Und ich habe nicht vor, meinen Charakter zuändern.“
„Nenn’ mir einen plausiblen Grund, weshalb du sie hier haben willst.“, betonte sein Vater. Dieser Satz brachte ein austüftelndes Grinsen auf Meiras Gesicht zum Vorschein. „Weißt du Liebling, wenn du das Mädchen sehen würdest, könntest du sie auch nicht mehr weglaufen lassen. Unser Sohn hat sich in jemanden verguckt.“
„Das stimmt doch mit keiner Silbe“, entgegnete Link genervt.
„Wenn ich ein junger Mann in deinem Alter wäre, hätte ich das aber.“ Die rundliche Frau gab ihren Mann einen Stups an den Arm. „Ach Liebling. Lass’ den jungen Leuten doch ihren Spaß.“, sagte sie.
Verwirrt und im nächsten Augenblick mit einem Hoffnungsschimmer auf dem ansehnlichen Heldengesicht sah Link in die Augen seiner Mutter. Dann lächelte sie und überzeugte damit sogar ihren ernsten Gatten.
„Ich werde das Bett in dem Gästezimmer überziehen. Einverstanden?“ Sie zwinkerte und lief aus der Wohnstube. Link sah ihr schockiert hinterher. War das ein endgültiges Ja?
Sein Vater trat neben ihn und legte eine Hand auf seine Schulter. „Also, Link, dann hoffe ich, du wirst diese Entscheidung deiner Mutter zu schätzen wissen.“
„Jep, das werde ich.“, meinte Link erfreut und lächelte jetzt ebenfalls.
„Aber sobald sie sich erinnert, wirst du sie dorthin bringen, wo sie hingehört. Verstanden?“
Link nickte und konnte nicht in Worte fassen, wie dankbar er seinen Eltern im Moment war.
„Auch wenn deine Mutter schon wieder so übereifrig ist, wir haben’s noch früh und ich hatte gestern einen langen Arbeitstag. Ich schlafe noch ne Runde. Ich kann das Mädchen ja auch später kennen lernen, jetzt da sie eine Weile hier bleiben wird. Gute Nacht, Link.“ Der jugendliche Held sagte nichts dazu und machte einen Luftsprung, als sein Vater verschwunden war. Mit einem lauten: „Juhu“, rannte er die Treppen hinauf und wollte der Fremden die guten Neuigkeiten berichten.
Lächelnd öffnete er die Tür zu seinem Zimmer und wunderte sich zunächst, wo die junge Schönheit war. Besorgt schaute er sich im Zimmer um und fand das zerbrechliche Geschöpf in dem Sessel liegen. Ihre Augen waren geschlossen und kristallenfarbene Tränenspuren zeigten sich auf den zartrosa Wangen. Schlief sie etwa?
Vor ihr niederkniend sagte er sanft: „Ich habe gute Neuigkeiten für dich. Du kannst bleiben, Zelda.“ Zum Teufel? Was war ihm da rausgerutscht? Zelda? Oh ja… natürlich Link. Drehst du jetzt vollkommen am Rad? Er gab sich selbst eine Ohrfeige für diesen peinlichen Ausrutscher und fragte seinen gesunden Menschverstand, wieso ihm das passieren konnte. Zelda? Heiliger Strohsack, nur gut, dass sie schlief und nicht gehört hatte, was ihm da passiert war…
Doch so falsch, wie Link diesen Namen für ihr Wesen fand, war er gar nicht. Und die Dame bräuchte einen Namen. Wenn sie schon hier war, konnte Link sie nicht immer mit Du oder Hey oder Hallo, du Fremde, anreden. Und jener Name, war ohne Zweifel genau der Richtige für dieses Mädchen, denn allein schon ihre Seele trug ihn…
Sie schlief schon wieder. Und die Tränen? Hatte sie wirklich geweint? Link tat diesen Gedanken als seiner merkwürdigen Phantasie entsprungen ab und kramte nach einer Decke. Er deckte sie wieder zu. Sie murmelte etwas unverständliches und kauerte sich noch weiter zusammen. In dem Augenblick spürte Link einen gemeinen Schmerzstich in seinem Magen. Richtig die Wunden… diese hatte er ja auch noch. Er nahm sich ein weiteres Schmerzmittel und trank den kalten Tee aus seiner Tasse, die noch im Zimmer stand.
Er wischte sich einige Tropfen des Getränkes von seinen Lippen und ging für eine halbe Stunde aus dem Zimmer. Er lief in die Stube, und begutachtete dort seine verrückten Wunden. Er löste den Verband, der klebrig auf der Wunde haftete, blickte sich die Blessuren angeekelt an. Die Wunde nässte und noch hatte der Heilungsprozess nicht wirklich eingesetzt. Link ließ sich mit freiem Oberkörper auf den Boden sinken und fragte sich, wie lange er solche Wunden ohne medizinische Hilfe ertragen könnte. Er tat sich ein wenig schwer einen frischen Verband umzulegen, schaffte dies aber, streifte sein grünes T-Shirt über den Oberkörper und ging dann erneut in sein Zimmer. Er musste das Mädchen leider aufwecken, um ihr die Neuigkeiten zu unterbreiten.
Als er eintrat, hörte er ein Rascheln von der anderen Zimmerecke. Das Mädchen war aus ihrem kurzen Schlummer aufgewacht und stand mit einem traurigen Ausdruck auf dem Gesicht gegenüber von Link. Noch immer war das goldene Haar zerzaust…
Sie verschränkte ihre Arme, schaute aus dem Fenster und hatte diesen bekümmerten Blick in den wunderschönen Augen.
„Sag’ es nicht. Es hätte mir klar sein müssen…“, sagte ihre zittrige glockenhelle Stimme. Wovon redete sie? Link war sprachlos. Sie lief auf ihn zu und brachte den Versuch eines Lächeln hervor.
„Du… du hast es versucht…“, murmelte sie und nahm seine linke Hand in ihre beiden. „Du bist Linkshänder…“, meinte sie schwach.
„Ja“, war alles, was er hervorbrachte.
„Ähm… vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder, Link.“, sagte sie gedämpft und kämpfte damit, bettelnd vor ihm auf die Knie zu fallen. Aber das würde sie nicht, nein, dafür war sie viel zu stolz.
„Leb’ wohl“, sagte sie und lief in Richtung Tür, als Link sie überraschend an ihrem rechten Handgelenk festhielt.
Er versuchte es mit einem Grinsen, um von der Verlustangst abzulenken, die er verspüren würde, wenn sie verschwand.
„Jetzt habe ich meine Eltern überzeugt, bedroht und um den Verstand gebracht, damit du bleiben kannst und du willst trotzdem gehen. Also… das ist ein wenig… ähm… unglücklich für mich, weil ich dann…“
Ihr Gesichtsausdruck erhellte sich. „Du hast sie überzeugt?“
„Ja, das habe ich, wenn auch mit anfänglichen Schwierigkeiten.“ Sie legte erfreut und den Tränen nahe eine Hand über ihren Mund. Sie wollte ihm gegenüber nicht weinerlich wirken, aber…
„Danke, Link.“, sagte sie und wischte einige blasse Tränen unter ihren Augen weg. „Ich dachte, das wäre es. Ich wüsste nicht, was ich tun sollte, wenn ich nicht hier bleiben könnte.“
Link begriff irgendwie. „Du hast gelauscht, oder?“
Nickend meinte sie: „Es hörte sich so an, als ob…“
„Hey, kein Grund jetzt noch darüber nachzudenken, oder? Du kannst das Gästezimmer haben.“ Sie lachte heiter auf. „Und das nächste Mal, hörst du dir das Gespräch, welches du belauschst, bis zum Ende an, glaub’ mir, das ist effektiver. Klar?“
„Klar“, stimmte sie zu und ärgerte sich über ihre voreiligen Schlussfolgerungen. Sie dachte wirklich, sie müsste gehen. Doch jetzt? Sie wusste mit Links Hilfe war der größte Teil dessen, was sie zu bewältigen hatte schon siegreich überstanden.
„Du bist ein Schatz, Link.“
„Äh…“, sagte er verlegen und hielt eine Hand hinter seinen Kopf. „Sag’ das bloß nicht noch mal, sonst bilde ich mir zuviel darauf ein.“ Sie lächelte ihm entgegen und zusammen gingen sie in das Gästezimmer. Link zeigte ihr dann das gesamte Haus, führte sie in den Keller, wo sie sich nach Herzenslust von den Getränken bedienen konnte, zeigte ihr den Dachboden, wo neben sinnlosem Schrott noch ein alter Bogen stand, den Garten und am Ende das Badezimmer.
„Möchtest du ein Bad nehmen? Das würde dir gut tun und entspannt.“
„Ja, gerne.“
„Warte. Ich hole dir frische Handtücher.“ Geschwind verschwand Link aus dem Raum. Sie drehte mit Links hilfreichen Anweisungen die Heizung auf und schloss das Fenster. Warum verstand sie sich nur so gut mit ihm? War das normal? Manchmal erschien es ihr, als würde er ihr alles aus den Augen ablesen können. Er war wirklich ein Schatz oder ein Schutzengel…
Es war keine vierundzwanzig Stunden her, dass er sie gefunden hatte und sofort, ohne etwas dafür zu verlangen, hatte er sich ihrer angenommen, seine Zeit für sie geopfert, seine Eltern überzeugt, sie bei ihnen wohnen zu lassen. Warum tat er das?
Dann probierte sie, den Wasserhahn aufzudrehen und ein heißer Strahl floss in die Wanne, gerade als sie testen wollte, wie warm das Wasser war, umfasste eine starke Hand ihren Oberarm. „Nicht. Das Wasser ist glühend heiß. Du verbrennst dich noch daran“, sagte Link, der wiedereinmal schnell gehandelt hatte.
„So langsam komme ich mir stumpfsinnig vor, weil ich von nichts eine Ahnung habe und mich ständig bei dir bedanken muss. Das muss dir auf den Geist gehen…“
„Ach Quatsch. Ich helfe gern. Und damit du dir keine Sorgen machen musst, du brauchst dich nicht für jede Kleinigkeit bei mir zu bedanken. Es ist okay.“ Und schon wieder. Allein seine verständnisvollen Worte hätten Lob und Dank verdient. Sie nahm ihm das Badetuch ab und schaute zu den Behältnissen mit Duschgel, wohlriechender Körpermilch und anderen Dingen.
In dem Augenblick griff sich Link leise aufstöhnend an seinen Bauch, hasste die brennende Wunde und wusste, er konnte seinen Körper nicht noch mit mehr Tabletten voll stopfen.
„Alles okay?“, fragte sie sanft.
„Ja“, stotterte Link. „Es ist nichts.“ Aber sie wusste irgendetwas stimmte nicht. Der junge Mann neben ihr kam ihr immer rätselhafter vor und sie wusste, er hatte Probleme, die er jedoch nicht zugeben wollte. Doch sie würde herausfinden, was ihn belastete, genauso wie sie ihn noch besser kennen lernen würde. Eines Tages würde sie in sein Herz sehen können. Doch was sie dann fand, könnte ihr selbst Angst machen…
Link drehte den Wasserhahn auf die kälteste Stufe und beobachtete das Mädchen, als sie vor dem Spiegel stand und ihre Haare zusammenband.
„Bei deinen langen Haaren hat es wohl keinen Zweck, sie zusammenzubinden…“, murmelte er und stellte sich hinter sie, blickte ebenso in den Spiegel und dachte ungewollt, wie gut sie beide doch zusammenpassen würden. Himmelhochjauchzend, jetzt wird’s ernst, dachte er. Kläglich sendete er eine Bitte an seine vorschnellen Gedanken, sie würden aufhören, solchen Mist von sich zu geben. Sich wünschend, er hätte seine Gefühle ein wenig besser unter Kontrolle, griff er sich an seine warme Stirn, sich fragend, ob diese so glühte, weil er eine schreckliche Wunde hatte oder weil dieses wunderschöne, anmutige Geschöpf direkt vor ihm stand.
„Äh, ich meine, du kannst die Haare nach dem Bad ruhig föhnen. Weißt du, was das ist?“
Sie schüttelte mit dem Kopf. In ihrer Welt gab es wohl keine elektrischen Geräte. Peinlicherweise erklärte er ihr dann auch noch diese Angelegenheit und zog sich grinsend aus dem Bad zurück. Doch bevor er ganz hinter der Tür verschwand, schaute sein Kopf schmunzelnd durch den Türspalt.
„Glaubst du, du schaffst den Rest ohne mich oder brauchst du weiterhin meine Hilfe?“ Verlegen öffnete sie ihren Mund und wollte ihn für seine dreiste Art zurechtstutzen.
„Du möchtest wohl zu schauen?“ Nun war es an Link beschämt drein zu gucken. Diese Dame konnte wohl genauso gutmütig hinterhältig sein wie der künftige Held selbst.
„Ich könnte dir den Rücken schrubben.“ Jetzt trieb Link das Spielchen erst Recht auf die Spitze.
„Du könntest auch gleich zu mir in die Badewanne steigen.“ Aber mit soviel Ungeniertheit und Flegelhaftigkeit hatte er nicht gerechnet. Es war aus. Sie hatte ihn mundtot gestellt. Zum Teufel, das hatte doch noch niemand geschafft. Mit hochrotem Kopf schloss Link die Badetür und hörte selbst im Korridor noch ihr angenehmes, liebliches Lachen… Ein Lachen, das ihn tatsächlich um den Verstand brachte. Wieder erkannte er diese Stimme aus seinen Träumen…
Wissend es war Bestimmung, sie zu finden, folgte er ebenso lachend den Treppenstufen hinauf ins zweite Stockwerk, um sich ein wenig auszuruhen.
In einem anderen Raum des Hauses hüpfte Sara froh und munter aus ihrem Bett. Bereit für den Tag öffnete sie das Fenster, genoss den Sonnenschein und die weißen dicken Wolkenbällchen, die am Horizont vorüberzogen.
Sie lief aus ihrem Zimmer, erspähte hastig einen Blick auf ihre Armbanduhr, welche auf acht Uhr stand und ging zuerst in die Küche, um zu sehen, ob ihre Mutter schon auf den Beinen war. Aber niemand war in der Küche. Also, und zur Freude ihrer Eltern und ihres zwei Jahre älteren Bruders setzte sie Kaffee auf, erwärmte die restliche Milch und steckte eine Toastbrotscheibe nach der anderen in den Toaster.
Dann hörte sie das laute, dröhnende Geräusch des Föns vom Badezimmer aus. Sie wunderte sich. War ihre Mutter doch schon wach? War doch sonst nicht ihre Art? Und niemand sonst in diesem Haus fönte sich die Haare. Link beispielsweise ließ seine Haare immer von der Luft trocknen, selbst wenn tiefster Winter war. Recht hatte sie… denn egal, was er tat, eine richtige Erkältung hatte sich ihr großer Bruder noch nie zugezogen. Und wenn er sich in ein Klassenzimmer vollgepumpt mit Viren setzte. Noch nie hatte er sich bei irgendjemanden angesteckt… Eine weitere von Links Ungewöhnlichkeiten…
Sie folgte dem Geräusch und stand in Kürze vor der Badezimmertür. Sie klopfte.
„Mum, bist du da drin?“
Keine Antwort. Stattdessen wurde die Tür geöffnet und ein Paar leuchtende blaue Augen blickten sie durchdringend an. Sara fiel sofort auf, was für eine schöne Farbe diese Augen hatten- ein Blau genauso klar wie das von Link, nur ein wenig heller und nicht so durchdringend tief.
„Ähm… hallo. Du bist ja aufgewacht.“, sagte Sara und begutachtete ihre Kleidung an der Dame. Die junge Lady nickte und sagte kurz und ruhig: „Guten Morgen.“
Sara grinste: „Du kannst froh sein, dass diese Klamotten mir ein wenig zu groß sind und zu eng. Sonst müsstest du jetzt nackt rumlaufen.“ Sara wollte mit ihr ins Gespräch kommen, und was eignete sich da besser als etwas humorvolles.
„Ja, danke. Du bist Links Schwester?“
„Ja genau, auch wenn man es mir nicht ansieht. Und du, wie heißt du?“
Die Fremde ging aus dem Badezimmer und lief in die Küche. Links Schwester wusste ja noch nichts davon, dass sie hier eine Weile wohnen würde und, dass sie ihr Gedächtnis verlor. Ihre Hände zu Fäusten geballt, meinte sie. „Das ist leider nicht so einfach. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, wer ich bin, aber das weiß ich leider nicht.“
Sara setzte sich mit der fremden Schönen an den Frühstückstisch.
„Das musst du mir erklären“, sagte Sara und ergänzte, „Willst du was von dem Toast?“ Das Mädchen ohne Namen schaute Sara ein wenig ratlos an, begriff aber dann was Toast war, als Sara ihr eine Schüssel damit gefüllt reichte.
„Ich bin vor einigen Stunden aufgewacht und erinnerte mich an nichts mehr. Es war alles weg, wie als ob ich vorher noch an einem anderen Ort gewesen wäre…“
Sara biss genüsslich von ihrer mit Marmelade bestrichenen Brotscheibe. Sie schien nicht überrascht zu sein und blickte das Mädchen nur aufmunternd an: „Na ja, kann man halt nichts machen. Ist nun mal passiert, dass du hier bist. Willst du Milch oder Kaffee?“
Milch war dem Mädchen irgendwie vertrauter als Kaffee, demnach entschied sie sich für das Erstere. „Milch, bitte.“
„Mit Honig?“
„Ja, gerne.“
Sara grinste: „So trinkt Link die immer. Er trinkt gar keinen Kaffee. Weiß der Teufel warum, aber Milch liebt er.“ Die Fremde lächelte leicht und musterte Sara nun genau. Links Schwester hatte tatsächlich keine Ähnlichkeit mit ihm, was nebenbei nicht möglich war. Sara wirkte ziemlich ungehobelt auf die Menschen ihrer Umgebung, was sicherlich an ihren frechen blaugrauen Augen lag, ihrer kurzen Frisur und der Tatsache, dass sie liebend gerne grüne Kleidung trug. Wie eine kleine Koboldin erschien sie, zwar nicht gierig, aber extrem unverschämt. Sie hatte außer dem Aussehen, viel mit Link gemeinsam und ließ sich ihren Mund nicht verbieten.
„Sind meine Eltern einverstanden, dass du hier bleibst?“
„Ja, das sind sie. Link hat ihnen vorhin alles erklärt.“
„Das ist echt lieb von ihm, nicht wahr?“
„Er ist ein sehr guter Mensch. Das weiß ich, seit ich aufgewacht bin…“ Sara grinste: „Ja, allerdings und gutaussehend, aber das brauche ich dir nicht mitteilen, das sieht man auch so…“ Nach der Bemerkung blickte die Schöne weg.
„Aber die Art und Weise, wie er vielleicht einen Eindruck bei den Menschen hinterlässt, ist rätselhaft. Er schleppt viele Probleme mit sich herum und tut manchmal nur so, als wäre er fröhlich. Manchmal kommt es mir vor, als würde ich ihn nicht kennen… das solltest du wissen, wenn du schon hier bist und das verheimliche ich auch nicht vor dir.“
Die Fremde verstand die kleine Warnung. „Aber egal. Wo ist denn der Held überhaupt?“
„Held?“, sagte die junge Dame dann. Sara kicherte daraufhin und erwiderte: „Das erkläre ich dir später, wenn wir einen Namen für dich gefunden haben.“, meinte Sara mit einem Wink.
Richtig, die junge Dame war ja immer noch auf der Suche nach einem Namen...
„Aber dein Alter könnten wir schätzen“, ergänzte Sara noch. Das Mädchen mit den braunen, kurzen Haaren stand auf und holte einige weitere Teller aus dem Schrank, deckte schnell den Tisch und ging mit der Fremden aus dem Raum. „Ich würde meinen, du bist in etwa so alt wie Link.“ Die Unbekannte stimmte dieser Sache zu.
„Gibt es irgendeinen Namen, der dir gefällt?“, fragte Sara und lief den Korridor zu Links Zimmer entlang.
„Nein...“
„Und welche Namen findest du gut?“
„Ach, ich weiß es wirklich nicht. Das ist gar nicht so einfach...“, erwiderte die Fremde.
Sara drehte sich zu ihr um, besah sie sich von unten bis oben und grinste unverschämt: „Ich habe eine Idee, aber Link köpft mich dann, wenn ich das laut sage.“
Die Fremde öffnete ihren Mund, wollte wissen, was Sara mit ihrer Heimlichtuerei bezweckte, aber diese kicherte nur und meinte noch: „Der Name würde zu dir passen, wirklich, aber Link... wird sicher nicht begeistert davon sein.“ Die Fremde zuckte teilnahmslos mit den Schultern. „Egal, ich brauche nur einen Namen, unwichtig welchen.“
Sie ereichten das Zimmer von Link und klopften, aber es öffnete ihnen niemand.
„Nanu? Ist er denn nicht in seinem Zimmer?“
„Weiß nicht.“, sagte das unbekannte Mädchen. „Er sagte nicht, dass er fortgehen wollte. Ich dachte, er wäre in seinem Zimmer.“ Sara klopfte erneut, aber Link schien nicht da zu sein.
Ohne weiter zu überlegen, traten die zwei Mädchen in sein Zimmer und fanden ihn schlafend auf dem Fußboden. Sara rüttelte an seinen Schultern und gab ihm dann einen Klaps an seine rechte Wange: „Link?“ Schläfrig machte er die Augen auf, setzte sich aufrecht und gähnte. „Mensch Sara, wie spät ist es denn?“ Die Fremde stand hinter ihm und zuerst registrierte er sie nicht.
„Es ist halb Neun? Du bist eingeschlafen.“, sagte Sara.
Links Erinnerungen kamen wieder und seinen Kopf schüttelnd murmelte er unabsichtlich: „Wo ist überhaupt Ze...“
„Was?“, sagte Sara laut. Hämisch begann sich ihr Gesicht zu einem Grinsen zu verziehen.
„Nichts.“ Link drehte sich um und sah die schöne Unbekannte lächelnd an der Tür stehen.
„Lust auf Frühstück, Brüderchen?“
„Jep“, meinte Link und sprang vom Fußboden auf. Er ließ sich seine Schmerzen erneut nicht anmerken und schauspielerte. Es ging eben gegen seinen Stolz vor der Unbekannten den Jammerlappen zu spielen und somit tat er so, als wäre nichts, ignorierte das Brennen, versuchte das Schwindelgefühl zu unterdrücken.
Link erzählte Sara ausführlich davon, wie er seine Eltern überzeugt hatte, redete mit der Unbekannten als würde er sie schon lange kennen. Und so verging die Zeit wie im Fluge.
Seine Eltern schlossen die Dame sofort ins Herz und waren von ihr noch begeisterter als Link selbst...
Nach dem Mittagessen überlegten die drei Jugendlichen in Links Zimmer, wie man für die Fremde einen guten Namen finden könnte.
„Ich weiß“, sagte Sara und kramte nach vielen, vielen leeren Papierzetteln. „So Leute, lasst uns Namen auf diese Zettel schreiben und dann werfen wir sie in einen Beutel und du...“ Sie deutete zu der Fremden. „... du ziehst irgendeinen davon heraus. Und der Name, der auf dem Schnipsel steht, wird deiner sein.“
Link und das Mädchen stimmten dem Vorschlag zu und jeder schrieb irgendwelche Namen, die ihnen in den Sinn kamen, darauf.
Der junge, zukünftige Held verschwand für eine Weile aus dem Raum, als die Fremde Sara wegen der Sache von vorhin ansprach: „Sara, welchen Namen hast du vorhin gemeint...“
„Das wirst du erfahren, wenn du einen bestimmten Zettel ziehst. Und wenn du diesen Zettel unbewusst auswählst, dann ist das entweder Zufall oder Schicksal...“
„Du bist geheimnisvoll, Sara.“
„Nö, ich bin bloß schlau und das sieht man nicht nur an meinen Schulnoten und ich bin nicht eingebildet.“ Die Fremde lächelte. „Das habe ich auch niemals angenommen. Aber irgendetwas verbirgt sich hinter dir.“ Sara sah die Fremde mit einem ernsten Blick an. Die Fremde blickte ebenso in Saras Augen.
„Du siehst viele Dinge, die niemand sehen kann, Sara... aber du hast Angst davor.“ Und die Situation zwischen Sara und dem fremden Mädchen wandelte sich von locker zu gehemmt und angespannt. Als würde das fremde Mädchen Dinge hinter den Augen eines Wesen erkennen, die das Wesen selbst nicht preisgeben wollte, als wüsste sie mehr als jeder andere.
„Du siehst Dinge, bevor sie geschehen und doch hast du diese Fähigkeit noch nie als solche erkannt...“ Die junge Lady mit dem Blick einer weisen, mächtigen Persönlichkeit nahm Saras Hand und sagte leise: „Fürchte dich nicht vor dir selbst, Sara...“
„Aber ich...“, murmelte Sara und blickte verwirrt und eine Spur angsterfüllt weg. Die Fremde stand auf und wunderte sich wohl über sich selbst
„Verzeih mir Sara, ich wollte nicht...“ Ein wenig schockiert legte sie eine Hand über ihre Lippen, verstand nicht, wusste nicht, was in sie gefahren war. Und da war es wieder... irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie war anders als andere Menschen und gegenüber Sara hatte sie einen weiteren Beweis dafür.
„Du bist genauso verrückt wie Link, weißt du das?“, sagte Sara um die beklemmende Situation zu überspielen.
„Apropos Link... du wolltest vorhin wissen, was ich gemeint habe, als ich sagte... Held?“
Das Mädchen drehte sich langsam um und nickte lediglich verlegen mit dem Kopf.
Sara hüpfte zu Links Schreibtisch und blätterte in dem Spielberater von ,Ocarina of Time’ herum. „Siehst du, sein Name ist auch Link.“ Und Sara deutete vielversprechend auf die mit einer Tunika bekleidete Figur.
„Wirklich?“
„Ja, lustig... aber er mag es nicht, wenn man ihn nur wegen seines Namens mit einer Spielfigur vergleicht. Er hasst es sogar...“
„Aber ich würde mir dieses Spiel gerne einmal ansehen.“ Und sie strich mit ihren Fingerspitzen über eine Abbildung des Helden der Zeit, tupfte über dessen Gesicht als wäre er echt.
„Solltest du vielleicht.“, entgegnete Sara.
In dem Augenblick kam Link zurück. Sofort bemerkte er, wie die beiden Mädchen über dem Spielberater gebeugt, amüsiert und grinsend darin herumblätterten.
„Und noch etwas… Link sieht der Spielfigur ähnlich. Krass, nicht wahr?“, sagte Sara, die noch nicht bemerkt hatte, dass Link in dem Zimmer stand. Die Schöne meinte nichts dazu, sondern dachte, wie demütigend es für ihn sein muss, stets damit verglichen zu werden. Eine Spielfigur war nun mal nicht wirklich, aber Link war es… Es musste ihn belasten, denn das Zeldaspiel war wohl in aller Munde…
„Ja, krass. Echt nett Sara. Und du hast nichts besseres zu erzählen, als dass eine Spielfigur mir ähnlich sieht und noch genauso heißt wie ich. Danke… ich dachte immer, du wärst anders als die meisten. Aber ich habe mich wohl getäuscht.“ Link blickte Sara mit einem verächtlichen Blick an, wie er es noch nie getan hatte.
„Entschuldige Link, das…“
„Ich habe es schon kapiert, da ich nicht so naiv und schweigsam wie eine grünbemützte Spielfigur bin. Danke für deine Verspottung…“, sagte Link und fuhr ihr mit seinen Worten über den Mund. Wütend lief er in die Mitte der beiden Leute zu dem Schreibtisch, nahm das schwarze Heft an sich und legte es in einen Schrank, bedacht, dass es nicht gesehen wurde, als wäre es eine Art Rettung für sich selbst, wenn es das Tageslicht nicht mehr sah. Ebenso wie ein Land gerettet werden könnte, wenn es nicht mehr existierte…
Sara sah reumütig weg und das fremde Mädchen sah sich die beiden Menschen genau an, wusste und verstand zuviel… sie sah Dinge in dem Herzen eines Menschen, ohne es zu wollen.
Eine lange unangenehme Pause entstand. Die Fremde ergriff die Initiative, nahm den Beutel mit den Namensschildchen zur Hand. Anstatt es einfach seinen Lauf nehmen zu lassen, hatten die Geschwister in diesem Haus eine Wissenschaft daraus gemacht, der Fremden einen Namen zu geben. Aber war dieser ganze Aufwand denn nötig? Fühlte sie nicht vielleicht doch schon, welcher ihr Name war?
„Am besten du ziehst gleich den Schnipsel“, sagte Link. „Dann machst du die Sache nicht so spannend.“ Sie nickte und kramte in dem Beutel herum.
Sie hatte einen Zettel und öffnete das zusammengefaltete Stückchen Papier sehr vorsichtig. Ein wenig irritiert sah sie in Links tiefblaue Augen und ahnte, dass ihm dieser Name gar nicht gefallen würde.
Sie sagte nichts, sondern reichte ihm den Zettel. Entsetzt, aber wohlwissend, welche Schrift diese auf dem Stückchen Papier war, sah er seine kleine Schwester an: „Du willst mich wohl endgültig in die Klapsmühle bringen, was?“, sagte er verärgert.
Schnell sah Sara auf den Schnipsel und hätte auch vorher gewusst, welchen Zettel die unbekannte Schöne gezogen hatte. Aber Sara lächelte nur: „Also, dann nennen wir dich Zelda.“ Sie schmunzelte. Wie schön es sein konnte, wenn sich harmlose, aber wohlgemerkt gewisse interessante Vorahnungen bewahrheiteten. Sara wusste, dass jene Dame diesen Zettel an sich nehmen würde.
Link ließ sich genervt auf seinen Sessel sinken und schüttelte bloß mit dem Kopf. „Das hast du ja toll hinbekommen, Sara… fein… fein…“
„Gut, oder nicht. Zelda passt doch zu ihr.“ Und Sara deutete vielsagend zu der schweigenden Unbekannten.
„Und was soll’ ich anderen Leuten erzählen, wenn sie mich fragen, was passiert ist? In etwa: ,Link findet Zelda’ Spitze, weiter so. Fehlen nur noch die sechs Weisen und der König von Hyrule…“, meinte er ironisch. Aus irgendeinem Grund störte ihn etwas. Nicht, dass der Name der Fremden nicht stehen würde, nein, aber vielleicht war es aus anderen Gründen nicht richtig.
„Wenn andere fragen, kannst du ihnen ruhig die Wahrheit erzählen.“ Link funkelte Sara eindringlich an, als wollte er sagen. ,Die Wahrheit? Soll ich anderen sagen, was ich träume, oder dass ihre Stimme nach mir gerufen hat?’
Er ärgerte sich maßlos über Sara und in dem Augenblick war ihm alles zuviel. Seine Wunde brannte und verärgert murrte er: „Du bist einfach nicht mehr bei Trost, Sara.“
„Du bist hier nicht mehr bei Trost“, sagte sie eingeschnappt.
„Mag sein, aber ich demütige andere Leute nicht noch mit geistreichen Erfindungen, die keinen interessieren. Diesmal hast du total daneben gegriffen, Sara.“ Die Schöne mischte sich ein und begann mit einem: „Hey, beruhigt euch doch. Diese Sache ist doch kein Grund, sich aufzuregen, weil…“ Aber sie wurde unterbrochen von zwei griesgrämigen Gestalten, die sich wegen etwas so Stupiden, wie einem einfachen Namen in den Haaren hatten.
Link und Sara zankten sich so lange, bis Sara aus dem Raum rannte und die Tür hinter sich zu schlug. Jetzt würde sie wohl nicht mehr so leicht dem Frieden unter Geschwistern einwilligen…
Beschämt über diese stumpfsinnige Demonstration eines läppischen Geschwisterstreits, suchte Link nach einem neunen Thema zur Ablenkung. Aber er verschwendete seine Zeit mit Überlegungen.
„Streitet ihr beide euch öfters“, fragte die junge Lady mit den blonden Haaren und setzte sich auf den Drehstuhl, welcher gegenüber von dem Schreibtisch stand.
„Ja… irgendwie immer wegen solchen Kleinigkeiten. Ich bin so hirnlos. Weißt du, eigentlich will ich Sara gar nicht anschreien, aber da ist diese Sache mit dem Spiel…“
„Du willst eben keine Spielfigur sein. Hey, wer will das schon?“, sagte die Fremde. Sie suchte seinen Blick und lächelte. „Sie ist dir bestimmt nicht böse. Ich glaube, jemandem wie dir vergibt man gerne den größten Fehler…“, setzte sie hinzu.
Link sah nur dumm aus der Wäsche. War das gerade ein Kompliment? Wie bescheuert. Er zeigte hier auf eine abfällige Art und Weise ein spätpubertäres Streitproblem mit seiner Schwester und die Fremde machte ihm noch Komplimente deswegen…
Er setzte ein charmantes Grinsen auf und nickte bloß.
„Aber wegen dem Namen…“, sagte er. „Ich finde…“
„Ja?“ Und das Mädchen ihm gegenüber rutschte einige Zentimeter näher an ihn heran.
„… er passt ausgesprochen gut zu dir… auch wenn ich es wohl nicht wahrhaben will.“
„Wirklich?“
In dem Moment fiel Link auch wieder das Schmuckstück ein, welches hinter dem Nachttischschränkchen lag. Er stand auf und beugte sich zähneknirschend über den Schrank. Seine Wunde brannte stärker, wenn er unangemessene Bewegungen machte, aber vor diesem hübschen Gesicht würde er keine Schwäche zeigen, nicht heute, nicht morgen…
Diesmal krallte er sich das kostbare Schmuckstück und reichte es dem verdutzt drein sehenden, hübschen Gesicht ihm gegenüber.
„Du hast diese Tiara in deiner rechten Hand gehalten, als ich dich fand und nicht loslassen wollen. In der Nacht ist es dann unabsichtlich hinter dem Schrank gelandet. Es gehört dir und deshalb nimm’ es.“ Sie sah sich das edle Stück an und irgendwie war etwas Abstoßendes daran. Etwas haftete daran, das ihr nicht geheuer war, etwas so Unberechenbares, Kaltes.
„Ich will dieses Ding nicht haben.“, sagte sie und bezeichnete das Schmuckstück damit als etwas Unnutzes, das keinen Wert hatte. Angewidert legte sie es auf den braunen runden Tisch in der Zimmermitte.
„Irgendwie macht es mich krank. Wenn du möchtest, kannst du es irgendwo verkaufen.“ Sie lief zum Fenster, was, so nahm Link an, ihre Lieblingsbeschäftigung war, und blickte mit verschränkten Armen hinaus.
Link packte das Schmuckstück in eine Schachtel und steckte diese in den erstbesten Kasten. Er trat neben sie und nahm an dem Ausblick teil.
„Das ist eine seltsame Welt da draußen…“, sagte Link gedämpft, den aufkommenden Schmerz unterdrückend.
„Ja… jeder lebt ohne richtig den Sinn erkennen zu wollen…“, antwortete sie. „Aber warum ist dir diese Welt fremd? Du hast eine sorgende Familie und du führst ein normales Leben…“, sagte sie.
„So normal ist mein Leben nur leider nicht“, entgegnete er. Sie sah ihn von der Seite an und fürchtete sich fast davor, einen Blick hinter seine Fassade zu werfen. Er war so unbeschreiblich anziehend, so rätselhaft… Tiefe Geheimnisse lagen in seiner Seele und belasteten ihn. Das fühlte sie…
Er drehte seinen Kopf zu ihr und versuchte es mit einem seines sanften, charmanten Lächeln.
„Also… Zelda…“, murmelte er, überrascht, wie schön der Name doch klang, wenn man ihn richtig aussprach.
„Also, Link“, sagte sie.
„Was möchtest du heute tun? Ich würde dir ja gerne einmal die Stelle zeigen, wo ich dich fand, aber es ist so neblig draußen und nieselt. In den Wäldern ist es unangenehm, wenn solches, schmieriges Wetter ist.“
„Da stimme ich dir zu. Bist du denn häufig dort unterwegs?“ Link nickte nur. „Es ist, als ob mich etwas schon immer dort hingezogen hätte…“
„Als ob du früher dort gelebt hättest…“
„Ja, genau.“ Sie erwiderte seinen nachdenklichen Blick. Unmöglich… sie verstand ihn, kannte seine Gedanken. Und es war das erste Mal in Links Leben, dass ihn jemand auf diese Art und Weise verstehen wollte. Das erste Mal, dass er sich so mit einer Menschenseele unterhalten konnte.
„Ich danke dir, Zelda“, meinte er.
„Wofür?“ Überraschung stand in ihren Augen.
„Ach, einfach nur so.“
Sie blickten sich erneut so lange an wie möglich, bis einer von beiden mit den Wimpern zuckte.
„Du gibst mir Mut, auch wenn ich nicht verstehen wieso…“, sagte sie, „Ich fühle mich irgendwie so sicher hier, aufgehoben und äußerst wohl. Wie kann ich dir nur danken, dass ich hier bleiben kann?“
„Mir fällt später bestimmt was ein…“, sagte er grinsend, verkniff sich aber besagtes Grinsen wieder, als seine Wunde sich bösartig einmischte. Er atmete tief ein und stützte sich leicht auf der inneren Fensterbank ab.
Plötzlich fühlte er eine warme sanfte Hand auf seiner Stirn. Seine Augen begegneten ihren, die sichtbar besorgt dreinblickten. „Du brauchst mir nicht die heile Welt vorspielen, die es für niemanden gibt… und dir brauchst du diese auch nicht vorspielen…“, murmelte sie ein wenig unsicher. Sie wusste, ihm ging es nicht gut. Sie fühlte sein Fieber beinahe, als wäre es ihr eigenes.
Er sagte nichts auf ihre Worte, nahm ihr Handgelenk und führte jene warme Hand, trotz des durchaus angenehmen Gefühls ihrer Haut auf seiner Stirn davon weg.
Link lief einige Runden im Raum hin und her, beachtete Zeldas ernsten Blick nicht und lief zur Zimmertür. Verdammt, er wollte vom Thema ablenken, und hatte keine Ahnung wie. Sie hatte ihn durchschaut, sie wusste zuviel…
„Warte, Link. Könntest du mir dieses Spiel denn einmal zeigen?“
Er schüttelte mit dem Kopf. „Ich habe Sara versprochen, es nicht anzurühren… frag’ sie deswegen.“ Und er legte eine Hand auf den Türgriff.
„Link, ähm…“ Sie wollte zu ihm durchdringen. Das schien aber eine Lebensaufgabe zu sein. Er verheimlichte so vieles, nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst…
„Ja“, fragte er ohne sich umzudrehen.
„Bitte rede mit mir. Erzähl’ mir etwas von dieser Welt, Link.“ Er öffnete die Tür.
„Später…“, murmelte er und ging aus dem Raum. Sie folgte ihm, wollte wissen, was mit ihm nicht stimmte, ihm helfen, da er ihr geholfen hatte. Sie schritt ebenso aus dem Raum und wunderte sich zunächst, wo Link so schnell abgeblieben war.
Zelda lief in die Stube und sah Links Eltern dort vor dem Fernseher sitzen. Genüsslich schaufelten sie sich ein paar Chips in den Mund und lachten über eine stupide Videoaufzeichnung.
„Suchst du Link?“, fragte Meira in einem Moment, als sie ihr schrilles Lachen unterbinden konnte.
„Ja, das tue ich.“
„Er hat seine Jacke angezogen und ist ohne ein Wort abgerauscht. Komm’ ja nicht auf den Dreh ihm hinterher zurennen. Du holst ihn sowieso nicht ein.“
„Warum denn nicht?“
„Weil er zu schnell ist und seine Geheimverstecke kennt.“
„Und wo ist Sara?“
„Die ist bei Mike, einem Freund.“ Zelda lief zu der Couch, wo das Ehepaar gemütlich saß und auf einen neuen Flachbildfernseher schaute. Meira stand auf und beäugte das Mädchen wieder. „Sara sagte, man soll’ dich mit Zelda anreden?“ Sie nickte und lächelte leicht schief. „Ein schöner Name. Aber egal, du weißt nicht, was du tun könntest, oder?“
„Ja, ich brauche wohl einfach nur eine Beschäftigung.“
„Das kann ich gut verstehen. Möchtest du vielleicht ein wenig lesen? Ich habe einige Phantasieromane, Horrorgeschichten und Krimis, wenn du magst. Da fällt mir ein, du kannst auch gerne irgendeine DVD aus der Sammlung meines Mannes schauen.“ Und Links Vater sah das Mädchen grinsend an.
„Danke, aber ich würde gerne irgendetwas Nützlicheres tun…“
„Nützlicheres gibt es bei uns am Wochenende nur leider nicht, nur Entspannendes… da hätte dich unser Sohn früher finden müssen.“ Und Zelda lächelte.
„Wegen Link…“, fing Zelda an. Sie setzte sich auf einen großen, cremefarbenen Hocker mit weichem Bezug. „Gibt es denn nichts, was ich für ihn tun könnte, wie ich mich bei ihm revanchieren könnte.“
„Du möchtest aus der Situation, so wie sie ist, eben das Beste machen. Das ist uns klar“, sagte Links Vater und Zelda sah sich diesen das erstemal genau an. Er hatte graublaue Augen, so wie Sara, trug einen Dreitagebart und war eigentlich sehr schlank, vielleicht sogar ein bisschen zu mager. Das auffälligste an ihm war eine große Narbe an seiner rechten Wange und die Brille auf der Nase.
„Ich würde dich ja gerne damit beauftragen, Links Schränke auf Unrat zu sortieren, aber du könntest wahnsinnig werden bei dem ganzen Kram, den er aufbewahrt und zweitens mag er es nicht, wenn jemand in seinen Sachen herumschnüffelt.“
„Vielleicht lese ich doch ein Buch…“, sagte Zelda dann.
Meira führte sie dann in ihre persönliche kleine Bibliothek, die aus einem großen Regal in ihrem Schlafzimmer bestand. „Was möchtest du? Harry Potter? Oder eher etwas von Wolfgang Hohlbein? Dean Koontz ist auch nicht schlecht oder… Marion Zimmer Bradley lesen auch viele.“
„Ja, also? Wenn ich ehrlich bin, sagt mir keines der Bücher irgendetwas…“
„Tja… das muss wohl an deinem Gedächtnisschwund liegen.“
„Nein, da steckt mehr dahinter.“, seufzte Zelda, während sie die Bücher durchkämmte. Meira sah verwirrt drein und legte eine Hand auf die Schulter des Mädchens. „Wie auch immer, genieße deine Zeit hier doch einfach.“ Zelda nickte und entschied sich für ein Buch der Donovan- Saga.
Meira schmunzelte. „Aber ich warne dich. Diese Bücher sind immer ein wenig… nun ja… romantisch…“ Zelda tat diese Tatsache ab und nahm an, dass sie dies selbst herausfinden würde. Wenn es dann zu romantisch werden sollte und ihr das Lesen keinen Spaß machen würde, könnte sie das Buch auch wieder zu klappen.
Meira folgte dem Mädchen in das Gästezimmer. Ein schönes Zimmer mit einem Ehebett, das Zelda für sich alleine hatte, stand in er Mitte. Ein Schreibtisch, eine kleine Couch, sogar ein Fernseher und ein Radio.
„Fühl’ dich ruhig wie zuhause.“ Was Zelda natürlich tun würde. Sie setzte sich vor den Schreibtisch und hatte spontan einen weiteren Gedanken. „Ähm, Meira, könntest du mir noch einen Gefallen tun?“
„Ja, was möchtest du?“
„Ich hätte gerne ein paar Blätter Pergament und eine Feder.“ Meira begann herzlich zu lachen und kugelte sich schon. Ihren Atem kontrollierend lehnte sie sich an die Wand. Seit wann benutzte man in der modernen Welt Federn zum Schreiben?
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, meinte Zelda leise und erneut verlegen.
„In unserer Welt benutzt man keine Federn mehr, armes Kind.“
„Oh…“, sagte Zelda, „entschuldige bitte…“
Meira lief hastig auf sie zu. „Nana… dafür brauchst du dich doch nicht zu entschuldigen. Es klang nur so witzig. Ich müsste mich für mein Gelächter entschuldigen… Warte ich hole dir Schreibzeug und ein Notizbuch.“
Zelda ließ sich beschämt mit dem Rücken auf das Bett fallen und hielt das Buch schützend vor ihren rotglühenden Kopf. Wie peinlich… wie demütigend…
Sie wusste einfach nichts, kannte sich in dieser Welt nicht aus und kam sich mit ihrer stumpfsinnigen, alten Art ziemlich unpässlich vor. Alles war befremdend… die Gegenstände…die Menschen…
Da war wieder dieses Gefühl etwas wissen zu müssen, was sie nicht wusste, was sie nicht erinnerte und doch war es von Bedeutung, nicht nur für sie- irgendwann vielleicht für diese ganze, moderne Welt. Während sie so dalag, wendete sie ihren Kopf zu der Fensterscheibe, sah Regen, der beinahe wütend vom nebulösen Himmel niederfiel. Etwas wartete da draußen. Jemand suchte nach ihr. Das ahnte sie, fühlte sie. Eine ihrer wunderbaren Fähigkeiten, mit denen sie nichts anzufangen wusste.
Etwas Bösartiges, unmenschlich Finsteres lauerte da draußen und wartete, begehrte Macht, verlangte nach Rache…
Meira kam frohen Mutes in das Zimmer gestolpert und brachte die aus den Gedanken gerissene Zelda total aus dem Konzept. Dies schien wohl ihre beste Fähigkeit zu sein: Leute, besonders ihren Sohn, aus dem Konzept bringen wollend.
Sie hatte einen A4- Block unter dem Arm und eine Federmappe in der Hand.
„Bitte sehr. Darf’ ich auch fragen, wozu du diese Dinge benötigst.“ Zelda sprang vom Bett auf und nahm Meira die Sachen ab. „Ich möchte meine Gedanken notieren und vielleicht einige Träume aufschreiben, um festzuhalten, was wichtig ist…“
„Na, da scheint unser Junge ja tatsächlich eine Prinzessin gefunden zu haben“, sagte Meira kichernd und pflanzte sich in einen Sessel neben dem Schreibtisch.
„Ich danke dir sehr, Meira. Ich wäre verloren, wenn Link mich nicht gefunden hätte und ich nicht hier wohnen dürfte.“
„Er hat ja auch lange dafür argumentiert, dass du bleiben kannst.“ Zelda lächelte. „Und ich denke, ihn hat es irgendwie erwischt, als er dich sah. Du bist wirklich sehr hübsch. Das muss dir einfach mal jemand sagen.“ Zelda sah verlegen zu Boden und ihre Wangen färbten sich schwach rosa. „Danke für das Kompliment.“
„Nicht der Rede wert.“ Nach einer Pause ergänzte Meira noch: „Ehe ich es vergesse, Eric und ich fahren morgen in den Urlaub und Sara hat uns bereits darum gebeten, ob sie mitkommen kann. Das heißt, du bist mit Link allein in diesem großen Haus. Nächste Woche Sonntag sind wir dann wieder da. Nur, dass du Bescheid weißt.“ Zelda nickte. „Okay und nun tu’ das, was dir Spaß macht, Zelda.“
Und das Mädchen breitete sich wieder auf dem Bett aus, nahm sich das Buch und begann zu lesen.
Gerade mal zwei Minuten später kam Meira wieder herein und ergänzte: „Und wenn du Hunger oder Durst hast, sag’ einfach Bescheid, ja?“
„Ja, danke…“
Wie herzlich diese Menschen doch waren, bei denen sie gelandet war. Ob wohl viele Leute in dieser modernen Welt so freundlich gesinnt waren und soviel Verständnis zeigten?
Zelda las mit Bedacht und Bewunderung jenes Buch und vergas darüber hinaus, wie die Zeit davonrannte.
Spät abends wurde Zelda aus ihrer Lektüre herausgerissen. Es läutete an der Haustür. Sie sprang auf und lief aus dem Raum hinaus. Auf der Treppe klingelte es erneut. Nanu? Warum öffnete denn niemand die Tür? Wo waren denn Meira und Eric? Wieder drang das Klingelgeräusch an ihre Ohren. Schnell hastete sie zur Tür und blickte durch den Späher. Link stand davor, total durchnässt, mit triefenden Haaren.
Zelda öffnete ihm mit einem: „Hey.“ Er trat wortlos ein und hielt sich nach Luft schnappend am Türrahmen fest. In dem Augenblick wusste das unbekannte Mädchen, dass es ihm alles andere als gut ging.
„Ich habe wohl meinen Schlüssel vergessen…“, sagte er leise, worauf Zelda nur lächeln konnte.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie. Aber Link sagte nichts darauf.
Langsam stolperte er hinauf zu seinem Zimmer und Zelda entschlossen hinter ihm her. Soll er doch schweigen wie ein Grab, sie würde schon herausfinden, was mit ihm nicht stimmte, dachte sie. Sie wollte sich für seine Hilfe, sein Mitgefühl, irgendwie bedanken und hatte diesbezüglich schon eine Idee.
In seiner riesigen Stube angekommen, wunderte sich Link zunächst über die fremde Schönheit, da sie ohne die Spur von Zurückhaltung hinter ihm hergeschlichen war. Merkte sie denn nicht, dass er seine Ruhe haben wollte?
Er betätigte den Schalter seiner Schreibtischlampe, riss sich sein vom kalten Regen durchgeweichtes Cape vom Kopf und legte es neben den Ölofen. Es war düster draußen, viel zu düster…
Erschöpft von seinem kleinen Spaziergang machte sich Link auf seiner Couch breit. Er war bis auf die Knochen durchgeweicht, aber es interessierte ihn nicht. Weiterhin tat er so, als ob Zelda nicht im Raum wäre und schaltete seinen Fernseher ein, beobachtete stupide Figuren des Samstagnachmittagsprogramms.
„Ich… störe, nicht wahr?“, meinte sie leise. Dabei hatte sie gehofft, Link könnte ihr einige Dinge über diese Welt erzählen. Seine Augen begegneten ihren für einen kurzen, unbedeutenden Augenblick und doch konnte Link darin die Sorgen sehen, die Hilflosigkeit und sogar eine Spur Angst.
„Wenn du möchtest, dann setz’ dich doch…“, erwiderte er, inzwischen verdutzt über die Worte aus seinem eigenen Mund. Hatte er sich vorhin nicht gewünscht, seine Ruhe haben zu können? Sicherlich wollte er das, andererseits mochte er ihre Anwesenheit und genoss es, wenn sie blieb.
„Weißt du, wo meine Eltern sind“, sagte Link, um einen Anfang zu machen. Zeldas Augen funkelten kurz in einem fast unnatürlichen Licht auf und dann setzte sie sich neben ihn auf die Couch. Auch sie machte es sich gemütlich und legte ihre Beine hoch.
„Wahrscheinlich packen sie ihre Taschen für morgen und Sara ist bei einem Freund…“
„Aha, bei Mike, nehme ich an“, meinte Link und sein Blick wanderte zu ihr. Vorhin noch wirkte sie auf ihn so zerbrechlich, so unnahbar und irgendwie nicht von dieser Welt. Aber seit Zelda die Jeans und die Bluse trug, schien sie wie ausgewechselt zu sein, wirkte in seinen Augen wie ein gewöhnlicher Mensch mit einem unbeschreiblichen Lächeln.
„Ja, Mike hieß er, soweit ich mich erinnern kann.“
„Sie tut immer so als wäre er nur ein Freund, aber ich habe sie durchschaut…“, sagte Link und schmunzelte leicht. Er legte eine Hand auf den Verband unter seinem grünen T-Shirt, unterdrückte das Brennen. Doch Zelda merkte nichts davon…
„Du meinst, Mike ist ihr Freund?“
„Jep“, beendete Link. Wieder schaltete er durch das Programm und suchte nach lohnenswerten Sendungen.
„Eigentlich bin ich gar kein Freund davon seinen Tag mit dem Fernseher zuzubringen, aber bei dem Wetter da draußen, gibt es wohl nichts sinnvolles, was man tun könnte.“
„Ich wünschte, ich wüsste, was ich bei solchem Wetter getan habe…“, sagte sie trübsinnig und starrte auf den Bildschirm. Link rutschte ein wenig näher zu ihr und murmelte leise: „Hab’ ein wenig Vertrauen… so schnell geht das nicht mit den Erinnerungen.“ Zelda wich seinem Blick aus und verkrampfte sich kurz aufgrund seiner unmittelbaren Nähe.
„Ich mache mir einfach nur Sorgen… wer weiß, was ich jetzt hätte tun müssen…“ Er versuchte zu grinsen, das war aber wegen seines eher jämmerlichen Zustandes nicht so einfach. „Richtig, wer weiß. Also, mach’ doch das Beste draus, dass du hier bist.“
Daraufhin lief Zelda ans Fenster, schaute hinauf in den Himmel, wo sich die Regenwolken langsam zurückzogen. Was sich in dieser Welt wohl dort oben verbarg, hinter den Wolken, hinter dem so alltäglich gewordenen Sonnenuntergang?
„Ich habe vorhin ein interessantes Buch gelesen.“, meinte sie und sah einen Bussard über den Wäldern im Süden verschwinden.
„Einen Roman von meiner Mutter, nehme ich an.“
„Es gibt so viele Dinge, die ich darin einfach nicht verstanden habe, so viele Dinge, Begriffe, von denen ich noch nie hörte.“ Sie stütze eine Hand an ihren viel zu schweren Kopf, wo etliche erdrückende Gedanken herumkreisten. Sich fragend wieso, sich fragend warum ihr alles so unvertraut war, begann sie an ihrer eigenen Existenz zu zweifeln. Sie blickte sehnsüchtig in das weite Himmelszelt, wissend, es gab soviel mehr als diese Welt und doch verstand sie ihr eigenes Wissen nicht. Der Mond gab sich preis und durchbrach den dunklen Schleier jener Wolken, die sein Licht zu versiegeln versuchten.
„Ich…“, fing Zelda an, wusste aber doch, wie dumm das, was sie sagen wollte, klang.
Link stand plötzlich neben ihr und schaute hinauf ans Himmelszelt.
„Du… liebst den Himmel…“, sagte er, erstaunt, woher er doch wissen konnte, was ihr auf der Zunge lag. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte kurz. „Du kannst meine Gedanken lesen. Hast du das irgendwo gelernt?“
„Nein. Das funktioniert nur bei dir…“, erwiderte er ehrlich.
„Da muss ich demnächst ja vorsichtig sein.“
„Hast du Angst, etwas Falsches zu denken?“ Und eine Spur Heiterkeit stach aus seiner Stimme heraus.
„Nein, ich habe eher Angst das Richtige zu denken…“ und ihr Kopf drehte sich wieder zu dem in grauen Farben versinkendem Abendhimmel.
„Nur so als Hinweis… ich bin gewappnet für jeden von deinen Gedanken.“
„Bei manchen Gedanken bricht selbst der stärkste Schutzwall“, meinte sie und grinste dann.
„Du siehst aber ehrlich gesagt so unschuldig aus, dass deine Gedanken nicht so gefährlich und todbringend sein könnten.“
„Das Äußere kann trügen.“, erwiderte sie und ihr Lächeln verschwand. „Ich glaube, ich bin nicht so harmlos wie ich auf andere wirke, wie ich vielleicht auf dich wirke.“
„Du hast Angst vor dir selbst, Zelda…“, murmelte er. „Glaub’ mir, ich kenne dieses Gefühl nur zu gut.“ Sie nickte vielsagend.
Link wusste, wovon er redete. An manchen Tagen fühlte er sich tatsächlich zu mehr imstande, als er tun sollte. Sein Erscheinungsbild mochte das eines Jugendlichen sein, doch innerlich verbarg sich ein Mensch, der schon vielmehr Tod und Leid gesehen hatte als jeder andere.
„Gelegentlich, wenn ich in das Blau des Himmels sehe, überkommt mich so ein… beunruhigendes Gefühl.“, meinte sie, „So als…“, sie suchte nach richtigen Worten…
„Als ob es nicht ewig halten könnte…“, sagte er für sie.
„Wenn du dich weiterhin in meinen Kopf einschleichst, endete das noch böse“, erwiderte sie kichernd.
„Alles wird gut“, meinte er spöttisch und schmunzelte.
Nach einer Weile andächtigem Bestaunens des Abendhimmels, fragte Zelda: „Meinst du, er hält ewig, meinst du, das Blau des Himmels wird immer bleiben?“
„Ich denke, es wird immer jemanden geben, der dafür sorgt, dass es bestehen bleibt.“
„Das ist eine zuversichtliche Sichtweise.“
„Ja, und wenn nicht, übernehme ich den Job.“
„Job?“ Sie lachte über diesen Gedanken. Wie könnte ein Siebzehnjähriger schon dafür sorgen, dass die Sonne am Himmel scheinen würde, besonders einer, der die Rettung des Himmels als Job ansah. Sie schüttelte über ihren kleinen Gedankenspaziergang den Kopf. Warum machten sie sich jetzt Gedanken um das Ende der Welt? Als ob der Teufel von der Hölle aufgestiegen wäre. Wie weit die beiden Jugendlichen vom Thema abgekommen waren, bemerkte das fremde Mädchen nun und wunderte sich ein bisschen.
„Jep. Nächste Woche sind Schulferien, also habe ich Zeit für das ein oder andere Abenteuer.“
Sie grinste ihn an. „Ich bin also bei einem Abenteurer gelandet.“
„Erstens hätte dich ein Langweiler niemals gefunden und zweitens erlebst du in der Gesellschaft eines Abenteurers mehr.“
„Da bin ich aber froh, Link“, sagte sie grinsend.
„Und ich erst…“, murmelte er, nicht sicher, wie genau er das meinte. Er war froh, dass sie hier war, obwohl er sie nicht kannte. Ja, in der Tat, aber war das die volle Wahrheit?
Link tapste zu dem Schreibtisch und knipste gleichzeitig seinen Fernseher aus. „Ich habe eine Idee. Sara hat mir zwar verboten, den Gamecube anzurühren, aber ich könnte dir ein Gameboyspiel zeigen, welches sich um Zelda dreht. Und du wolltest doch etwas darüber wissen, nicht?“
„Doch“, sagte sie und hüpfte ebenso von der Couch. Link erklärte ihr daraufhin einige Dinge über ein wissenswertes Spiel mit dem Namen: ,Minish Cap’. Zelda zeigte Begeisterung und verliebte sich sofort in das Spiel. Es besaß etwas, das sie erinnern wollte. Etwas rüttelte an ihr, als sie den Sinn des Spiels verstand…
Nach einer Weile schaltete Link das Spiel aus und ließ sich auf sein Bett sinken. Fast automatisch fielen ihm die Augenlider zu.
„Zelda“, sagte er, bemüht seinen Zustand zu verheimlichen. Sie kniete vor ihm nieder, so wie er es getan hatte, als sie aufwachte.
„Mmh?“
„Ich weiß, ich wollte dir etwas über diese Welt erzählen, aber…“
„… es geht dir nicht gut“, beendete sie für ihn. Er sah sie wieder an, erkannte so etwas wie Gewissheit in ihren Augen und Verständnis. Er nickte bloß. „Soll ich dich alleine lassen?“
„Bitte…“, meinte er. Nun gut, sie respektierte das. Wenn er sie darum bat zu gehen, dann hatte er sicherlich seine Gründe. Sie legte kurz eine Hand auf seine Wange und murmelte noch: „Danke noch einmal Link und schlaf’ schön, damit es dir bald besser geht.“
Link sah ihr hinterher, als sie das Zimmer verließ und für einige Sekunden erneut einen Blick zu ihm wagte. „Gute Nacht“, sagte Link schwach. Dann war sie verschwunden und Link war allein mit seinen Problemen, so allein wie eh und je. Aber vielleicht wusste Zelda schon lange, was nicht stimmte… vielleicht konnte sie irgendwann zu ihm durchdringen und ihm helfen, so wie er ihr geholfen hatte.
Link krabbelte erschöpft unter seine Decke und machte ohne weitere Bewegungen oder Gedanken die Augen zu. Noch ganz in seiner Bekleidung schlief er ein, wünschte sich, es gäbe diese Nacht keine Träume in seiner Welt… keine Monster… keine fremden Gesichter. Niemand durfte jemals Zutritt zu dem Link haben, der er in Wirklichkeit war, niemand durfte jemals sehen, was sich hinter dem jugendlichen Gesicht Links verbarg.
Nicht seine Eltern. Nicht Sara oder seine Freunde. Auch nicht Zelda…
Sie durften niemals herausfinden, was in ihm vorging. All die Dinge, die Begegnungen mit dem Bösen in seinen Träumen, die unheimlichen Wunden, würden sie vergessen lassen, dass immer noch Link- ihr Sohn vor ihnen stand. Er wollte nicht zugeben, wie schlecht es ihm ging. Es war ganz leicht mit den Schmerzen fertig zu werden… doch, das würde schon irgendwie funktionieren.
Von Kindesbeinen an redete sich Link ein, er könne nur stark sein, wenn er Ängste, wahre Empfindungen… nicht zugab. Er bezahlte den Preis für die Wanderung an die Grenzen seiner eigenen Kräfte. Doch wofür? Wofür ging er denn die ganze Zeit durch die Hölle? Er war sich selbst eine Erklärung schuldig.