Etwas großes erwartet uns - Fanfictions
Kapitel 1


Laharia war eine Insel. In der Mitte der Insel ragten drei Berge in die Höhe, und am Fusse des grössten entsprang der Fluss Kevale. Auf der anderen Seite der Insel ragte ein weiterer Berg bis in die Wolken. Die drei Berge in der Mitte der Insel hiessen die Mutter, die Tochter und die Kleine Schwester, der vierte Berg wurde der Bruder genannt, denn einer Legende zufolge waren sie versteinerte Riesen. Dem Ufer des Kevale entlang lagen die prächtige Kaiserstadt und mehrere kleinere Städte und Dörfer. Der Fluss mündete in einen See, der die Ivene genannt wurde und auf dessen Grund das Wasservolk der Santen lebte. Die Santen wohnten in prächtigen Kristallpalästen in der Kristallstadt und genossen das Leben. Ihr König Lato und ihre Königin Svetia waren weise und gerechte Herrscher, aber lausige Eltern. Ihre Tochter Prinzessin Keva fand das prächtige Leben ohne Spannung nicht sehr ansprechend und beschloss, als erste Santen seit tausend Jahren etwas Neues zu erforschen. Und sie schwamm an die Oberfläche.

Schon als sie von weit unten den Himmel sah, war sie fasziniert. Sie stieg langsam nach oben und streckte ihre mit vier langen Flossen und zwei zierlichen Händen bestückten Arme nach oben und durchstiess die Wasseroberfläche. Erschrocken zog sie ihre Arme zurück. "Dort ist etwas anderes!" hauchte sie: "Kann ich dort denn leben?" Sie bekam ganz heisse Flossen und erkannte, dass sie Angst hatte. Plötzlich vibrierte das Wasser ganz leicht und Keva drehte den Kopf nach oben. Da war etwas Leuchtendes auf der Wasseroberfläche, aber sie wusste nicht, was es war. Kurzentschlossen hielt sie das Etwas über dem Wasser fest, atmete tief ein und tauchte auf. Das Etwas war klein, hatte zwei Beine, zwei Arme, einen Kopf und zwei grosse, dünne Flossen, und es zitterte. Keva liess das Wesen los. Sie fürchtete, dass sie es zu Tode erschreckt hatte. Was würde sie wohl tun, wenn eine riesige Hand sie packte? Das Bild vor Kevas Augen wurde verschwommen und sie tauchte unter, um wieder zu atmen. Dann tauchte sie wieder auf. Das leuchtende Etwas schwebte in sicherer Entfernung über ihr und sah sie mit kleinen, grünen Augen neugierig an. Keva sah sich über dem Wasser genauer um. Erde gab es hier auch, aber sie war fast überall von etwas Grünem überwachsen, das wie Seegras aussah, aber stabiler wirkte und sich nicht in der Strömung wiegte. Manchmal wuchs aus der Erde auch etwas dickes Braunes, das sich weit oben verzweigte und dann auch so etwas Grünes hervorbrachte. Als sie schliesslich ganz nach oben sah und weisse, verlaufene Flecken sah, war sie sich sicher, dass es hier schöner war, als unten bei den anderen Santen. Sie tauchte wieder unter um zu atmen und sah dann zu dem leuchtenden Wesen, dass noch immer über ihr schwebte. Ob sie versuchen sollte, hier zu atmen? Dieses Wesen schaffte es ja schliesslich auch. Keva nahm wieder einen Atemzug unter Wasser und streckte dann dem Wesen ihre Hand entgegen. Das Wesen wich erschrocken zurück.
"Komm schon, ich will dir nichts tun!" murmelte sie, aber sie hörte statt ihrer Stimme nur ein Gurgeln. Schnell tauchte sie unter. Als sie nach einigen hektischen Atemzügen wieder auftauchte, hörte sie eine leise, fremdartige Stimme in einer fremden Sprache sprechen. Trotzdem verstand sie die Worte.
"Du kannst hier atmen, Santen! Weisst du das nicht?" Es war das leuchtende Wesen. Keva presste das ganze Wasser krampfhaft heraus und sog dann das ein, was es hier eben gab.
"Schon lange hat niemand mehr einen Santen gesehen!" sagte das leuchtende Wesen. Keva atmete beinahe panisch ein und aus. Was war, wenn die Santen das Atmen hier verlernt hatten? Schliesslich wussten die Santen nur aus Legenden, dass es diese Welt hier oben gab. Aber sie fühlte sich besser, sie sah wieder klar und fühlte die Taubheit aus ihren Armen und Beinen verschwinden. Sie konnte hier wirklich atmen.
"Was bist du?" brachte sie hervor. Das leuchtende Wesen setzte sich auf Kevas Kopf und sagte: "Ich bin eine Fee! Ich heisse Valis! Und wer bist du?"
"Keva!" murmelte Keva: "Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe!" Valis klopfte mit ihrer Hand auf Kevas Stirn.
"Was ist?" fragte sie: "Willst du hier versauern oder die Welt kennenlernen?"

Valis zeigte Keva die Welt und erklärte alles sehr geduldig. Sie brachte ihr Valekisch bei, denn nur die Feen konnten alle Sprachen verstehen und von allen Wesen verstanden werden. Am Anfang erkundete Keva die Ufer der Ivene und des Kevale, entdeckte vier versunkene Tempel und zwei untergegangene Schiffe, dann ging sie an Land. Sie brauchte sehr lange, um laufen zu lernen, aber zwei von Valis' Freunden unterstützten sie hilfsbereit. Yanor und Sita waren ein Liebespaar und wohnten im Dorf hinter dem Hügel. Yanor war ein Marcoova und Sita war eine Valekerin. Valis war eine Fee im mittleren Alter, die viel zu neugierig ein kleines Tier beobachtet hatte, während die anderen Feen aus ihrem Schwarm weiterflogen. Seitdem suchte sie sie.

Eines Tages hatte Keva die Grundlagen gelernt: "Ich komme aus der Ivene, in die der Kevale mündet! Ich atme jetzt Luft, liege nachts auf einem Laubhaufen und sehe den Sternenhimmel an, wenn ich nicht schlafen kann! Ich esse Früchte von Bäumen und laufe auf Gras! Ich werde von einer Fee, die Flügel hat, einem Marcoova und einer Valekerin begleitet und hoffe, irgendwann die Gipfel der Mutter, der Tochter und der kleinen Schwester erreichen zu können!" Valis nickte.
"Du weisst jetzt schon sehr viel!" sagte sie.
"Aber ich will viel mehr wissen!" sagte Keva: "Ich will es dann den anderen Santen beibringen! Es ist hier nicht gefährlich!" Valis nickte wieder und setzte sich auf eine riesige, blaue Blüte.
"Vermissen dich die anderen Santen?" fragte sie. Keva schluckte, denn daran hatte sie noch nie gedacht.
"Ich weiss es nicht!" murmelte sie: "Es ist seit tausend Jahren kein Santen mehr fortgeschwommen!" Sie zog die Beine an und umschlang sie mit den Armen.
"Vielleicht denken sie, dass dich ein Raubtier gefressen haben könnte!" sagte Valis. Sie faltete ihre Flügel zusammen und tauchte ihre Hand in den Nektar der Blüte. "Du bist jetzt schon sehr lange von den anderen Santen weg!" Sie schleckte den Nektar von ihren Fingern und sah Keva an.
"Es gibt keine Raubtiere dort, wo ich herkomme!" murmelte Keva.
"Aber es gibt Legenden!" beharrte Valis: "Legenden von gefährlichen Monstern und Legenden von hungrigen, fleischfressenden Tieren!"
"Nein!"
"Keine Legenden?" Valis schüttelte den Kopf. "Was war mit dem letzten Santen, der aus der Kristallstadt weggeschwommen ist?" fragte sie: "Ist er zurückgekehrt?"
"Er ist nicht wiedergekommen!" sagte Keva: "Niemand weiss, was mit ihm passiert ist!" Sie sah Valis an. "Du meinst, dass er gefressen worden ist?"
"Ich weiss es nicht!" sagte Valis: "Aber vielleicht denken das die Santen in der Kristallstadt! Und vielleicht denken sie das auch von dir!"
"Du meinst, ich soll zurückschwimmen und den Santen sagen, dass es mir gut geht!" meinte Keva: "Dass mich kein Monster gefressen hat!" Sie blickte nach oben, wo sich eine weisse Wolke nach und nach grau färbte.
"Es wird ein Gewitter geben!" sagte Valis: "Das hast du noch nie erlebt, aber es ist harmlos! Donner und Blitze sind aber ziemlich beeindruckend!"
"Wegen den Santen ..." murmelte Keva: "Ich will hier bleiben! Unten ist es so dunkel! Nur die Kristallstadt leuchtet schwach!"
"Dann solltest du zum Kaiser gehen und Bürgerin von Valeca werden, dem Land, zu dem das ganze Tal des Kevale gehört!" sagte Valis: "Dann gehörst du wirklich hierher!" Keva nickte eifrig.
"Gehen wir gleich los!" rief sie. Valis machte es sich in der Blüte gemütlich und winkte ab.
"Erst morgen!" murmelte sie: "Heute ruhen wir uns noch aus und warten ab, bis das Gewitter vorbei ist!"

Unter den dunklen Wolken und den hellen Blitzen erzählte Valis, was sie von der Kaiserstadt und vom Kaiser wusste. Die Kaiserstadt war quadratisch und von einer hohen Mauer vor Angriffen geschützt. Prächtige Villen, fast Paläste, zierten die vier Hauptstrassen, aber hinter den Villen lagen die Häuser der ärmeren Bevölkerung an engen, belebten Gassen. So arm, dass er hungern musste, war jedoch niemand, glaubte Valis jedenfalls.
Der Kaiser war ein kluger Mann, der sich nicht scheute, zu seinen Ideen zu stehen. Viele Ideen hatte er ausgeführt, so gab es in der Kaiserstadt zwei Krankenhäuser und etliche Suppenküchen.
Der alte Onkel des Kaisers war nach Valis' Vermutung für die Abschreckung von Feinden zuständig. Einmal war der Feenschwarm, dem sie angehörte, in seine Nähe geraten. Er hätte gekocht vor Wut, nur weil ein junger Soldat nicht schnell genug auf sein Pferd steigen konnte, erzählte Valis.
Über die listige Marcoova Yanatu, die seinerzeit den marcoovischen Tyrannen Selcai gestürzt hatte, wusste Valis nicht viel, nur, dass sie ebenfalls im Palast wohnte.
Als der letzte Donnerschlag verhallt war und nur mehr Regen auf das dichte Blätterdach fiel, konnte Keva schliesslich einschlafen. Vage bekam sie noch mit, dass Valis von Palastmagiern und Wachsoldaten erzählte, aber sie hörte nicht mehr wirklich zu. Am folgenden Tag musste sie ja schliesslich für den langen Marsch ausgeschlafen sein.

Die Reise zur Kaiserstadt verlief absolut ereignislos. Valis erzählte einiges über die Sitten und Regeln in einer Stadt, aber Keva war viel mehr mit ihren Füssen beschäftigt. So weite Strecken war sie noch nie zuvor gelaufen. Aber sie bewältigte die Anstrengung recht gut.
Als Keva, Valis, Yanor und Sita die Kaiserstadt erreichten, war es schon dunkel und die Tore des Palastes waren verschlossen. Also suchten sie eine Herberge. Die Bewohner der Stadt sahen Keva neugierig und manchmal ängstlich an. Ein junger Mann mit verkümmerten Flossen an den Armen sprach sie schliesslich an.
"Du bist eine Santen!" murmelte er: "Eine Santen! Eine richtige Santen!"
"Ich bin eine Santen!" bestätigte Keva: "Ich bin Prinzessin Keva!"
"Vanait!" sagte der junge Mann. Er hob seine Arme und deutete auf die winzigen Flossen. "Vor tausend Jahren haben noch Santen die Kristallstadt verlassen, viele von ihnen zählen zu meinen Vorfahren! Prinzessin Keva, es ist mir eine Ehre!" Er neigte den Kopf und legte die Handflächen aufeinander. "Glück, Weisheit und Leben, Prinzessin!"
"Glück, Weisheit und Leben!" beantwortete Keva den Gruss. Sie fasste Vanait an den Armen. "Aber ich bin nicht so wichtig, dass du dich vor mir verneigen und die Flossen bündeln musst!" sagte sie: "Alle Wesen sind gleich viel wert!" Vanait sah Keva verblüfft an.
"In der Kaiserstadt ist dies anders!" sagte er: "Die Soldaten verlangen eine Verbeugung!" Er strich seine braunen Haare zurück und dahinter kamen auf seiner Stirn helle, blaugrüne Punkte zum Vorschein. "Die Soldaten sind allesamt richtige Ekelpakete!"
"Wir wollen morgen in den Palast, weil Keva noch keine Bürgerin ist!" sagte Valis: "Aber irgendwo müssen wir die Nacht verbringen! Weisst du da etwas?" Vanait nickte und winkte ihr, Keva, Yanor und Sita mit ihm zu kommen.
"Ich habe mit einem Freund zusammen einen Gasthof! Es ist nicht ganz so nahe wie die Herberge für die Dorfbewohner, aber dafür wesentlich sauberer!" sagte er: "Für euch gibt es einen Sonderrabatt! Santen sieht man wirklich selten! Schon seit tausend Jahren sieht man keine mehr!"
Im Gasthof angekommen packte Keva zum ersten Mal ihre kleine Tasche aus. Valis sah ihr dabei zu und fragte sie über alles aus.
"Das ist die Kleidung, die Santen an Feiertagen und vor dem König und der Königin tragen!" erklärte Keva und streifte ein hellblaues Kleid statt ihrem normalen dunkelgrünen über. Es war vorne knielang, hinten aber ging es nur bis zur Taille, darunter befand sich ja eine breite Flosse, die beweglich bleiben sollte und ausserdem die Blicke versperrte, dass Kleidung dort nicht nötig war.
"Hübsch!" sagte Valis. Keva legte sich eine feines, silbernes Netz mit Kristallanhängern über den Kopf.
"Das ist der königliche Schmuck der Santen!" sagte sie: "Morgen werde ich beides tragen!"
"Ruhe und Licht aus!" brummte Yanor von der anderen Seite des Raumes: "Ich will schlafen!" Valis deckte Keva bis zum Kinn zu und drehte dann den Docht der Öllampe herunter. Keva befreite sich wieder von der Decke, nahm das silberne Netz ab und zog das Kleid aus. Dann verkroch sie sich entgültig ins Bett.

Am nächsten Morgen servierte Vanait Keva ein delikates Frühstück: rotes Seegras. Keva war begeistert und ass drei Portionen, doch Yanor, Sita und Valis konnten sich damit nicht anfreunden und assen lieber trockenes Brot.
"Essen Santen das ständig?" fragte Valis. Keva schüttelte den Kopf.
"Es gibt in der Kristallstadt genauso viele verschiedene Gerichte, wie hier heroben!" sagte sie: "Es haben aber doch recht viele irgendwelche Seegrasarten dabei!" Sita rülpste leise. Keva grinste und stand auf.
"Wir sollten zum Kaiserpalast gehen!" meinte sie. Sita und Yanor nickten und standen ebenfalls auf. Vanait räumte die Teller weg und fegte versehentlich Valis vom Tisch.
"Bist du blind?" kreischte die Fee. Vanait entschuldigte sich stotternd und lief rot an.
"Schon in Ordnung!" murmelte Keva und legte ihm ihre Hand auf die Schulter: "Nicht nervös werden! Valis ist nicht nachtragend!"
"Kein Problem!" murmelte Vanait grinsend: "Ich überstehe auch einen roten Kopf!"

Keva, Yanor und Valis begaben sich zum Kaiserpalast, Sita war im Gasthof geblieben.
"Wahnsinn!" flüsterte Yanor, als er den marmornen Palast innerhalb der hohen, grauen Mauer im Sonnenlicht sah. Keva hielt ihre Hände schützend vor die Augen, weil der Palast so hell war.
Valis setzte sich auf Kevas Kopf und murmelte: "Wenn ein Palast hell ist, dann sind alle beeindruckt! Aber Feen sind immer hell, und was sagen die Leute? Oh, hübsche Fühler!" Keva schüttelte den Kopf und Valis fiel herunter.
"Kein bisschen Respekt vor Feen!" knurrte Valis: "Schüttelt die mich einfach runter!"
Schliesslich standen Keva und Yanor vor dem Tor des Palastes und Valis hatte auf Yanors Kopf Platz genommen.
"Was wollt ihr im Palast?" fragte ein Soldat.
"Keva möchte Bürgerin von Valeca werden!" sagte Yanor und deutete auf Keva. Der Soldat nickte und liess die drei durch das Tor in den Garten.
"Und wo müssen wir jetzt hin?" fragte Keva: "Beschildert ist hier nichts!"
"Ist es das denn in der Kristallstadt?" fragte Yanor. Keva schüttelte den Kopf.
"Dort muss man aber auch nicht Bürger werden!" fügte sie hinzu: "Jeder Santen ist das seit seiner Geburt!"
"Ihr scheint nicht zu wissen, wo ihr hin sollt!" tönte es von einem Fenster im oberen Stock. Dann kam ein Schmetterlingsfeenmännchen heruntergeflogen. "Wo wollt ihr denn hin?" fragte es.
"Keva will Bürgerin werden!" erklärte Valis. Das Schmetterlingsfeenmännchen nickte verständnisvoll und flog dann voraus. Keva und Yanor liefen ihm nach. Nach einer Weile standen sie wieder vor einem Tor. Das Schmetterlingsfeenmännchen schlüpfte durch eine Klappe ganz oben und öffnete das Tor von innen.
"Das ist der Thronsaal!" erklärte es: "Aber der Kaiser ist fast nie hier!" Es flog eine lange, geschwungene Treppe hoch und einen hellen Gang entlang. Keva und Yanor liefen hinterher. Das Schmetterlingsfeenmännchen öffnete eine dunkle Holztüre auf der linken Seite. "Suriu! Besuch!" rief es: "Ein Bürgerantrag!" Es flog zurück zu Keva, Yanor und Valis und meinte: "Nicht so schüchtern! Kommt schon!" Keva zupfte ihr Kleid zurecht und betrat den Raum. Yanor schlurfte ihr hinterher und setzte Valis von seinem Kopf auf seine rechte Schulter.
In dem Raum stand ein grosser Holztisch, auf dem Unmengen von Zetteln verteilt waren. Ein alter Mann sah Keva und Yanor grimmig an. "Onkel Lanem, sieh sie nicht so an!" bat ein jüngerer Mann: "Sie fürchten sich ja sonst!"
"Ein Lächeln, Lanem!" knurrte eine Marcoova: "Wir rechnen nachher weiter!" Lanem zog seine Mundwinkel nach oben, aber es sah immer noch nicht nach einem Lächeln aus.
"Willkommen im Sitzungszimmer!" grüsste der jüngere Mann. Er hatte kurze, helle Haare und ein schmales Gesicht. Seine Kleidung bestand aus einem leichten, roten Hemd, einer schwarzen Hose und einem weissglänzenden Umhang, der mit goldenen Schnallen bei den Schultern am Hemd befestigt war. Seine schwarzen Schuhe hoben sich überhaupt nicht von der Hose ab. Keva lächelte freundlich und neigte kurz den Kopf. Yanor legte sich fast auf den Boden. Keva packte ihn im Kragen und zog ihn hoch.
"Du siehst dir die Leute überhaupt nicht an, Yanor!" knurrte Valis: "Menschenkenntnis wäre nützlich!"
"Ich bin kein Monster!" bemerkte der jüngere Mann: "Ich bin ganz normal, wie alle anderen auch!" Keva grinste. "Ich bin Kaiser Suriu!" stellte sich der Mann schliesslich vor. Er lächelte und fragte: "Wer von euch will Bürger werden?"
"Das bin ich!" sagte Keva und hob die Hand: "Ich bin Prinzessin Keva aus der Kristallstadt der Santen!" Sie war überrascht. Sie hatte sich den Kaiser nicht so jung und gutaussehend vorgestellt. Eher so wie Lanem.
"Santen!" murmelte Kaiser Suriu: "Selten über dem Wasser zu finden!"
"Ich bin die erste seit tausend Jahren!" erklärte Keva.
"Und eine Prinzessin auch noch!" murmelte Suriu.
"Nur ein Titel!" brummte Keva leicht verärgert. Suriu trat zu ihr und berührte vorsichtig eine ihrer Armflossen.
"Wie ist es, unter dem Wasser zu schwimmen?" fragte er und blickte in Kevas Augen. "Zu schweben und mit einer kleinen Bewegung alles zu verändern?"
"Es ist nicht leicht!" sagte Keva: "Aber man spürt die Schwerkraft nicht! Die Schwerkraft ist das, was mir hier am meisten Schwierigkeiten macht!"
"Sei froh, dass du den Boden unter den Füssen hast!" meinte Valis frech: "Sonst müsstest du dich genauso oft ausruhen, wie ich!" Keva grinste die Fee an.
"Ich muss einiges wissen, damit Ihr Bürgerin werden könnt!" sagte Suriu: "Wer sind Eure Eltern? Wie alt seid Ihr? Geschwister? Kinder? Was ist Euer Beruf?" Er marschierte zurück zum Tisch und grub nach einem leeren Blatt Papier und einer Feder.
"Meine Eltern sind König Lato und Königin Svetia aus der Kristallstadt!" erzählte Keva: "Ich bin 27 Jahre alt und habe zwei jüngere Brüder! Keine Kinder und keinen Beruf! Was kann ich denn werden?" Suriu notierte alles und blickte dann auf.
"Perlentaucherin vielleicht! Dafür muss man nur gut tauchen können!" meinte er: "Ihr könnt natürlich alles Mögliche werden!" Valis flog zu Keva und liess sich auf ihrem Kopf nieder.
"Perlentaucherin, jawohl, Keva! Da kannst du ordentlich Geld absahnen!" rief sie.
"Was ist Geld, Valis?"
"Das ist ... Ähh, das ist ..." stotterte Valis.
"Das bekommst du, wenn du gut gearbeitet hast! Verschieden viel, je nachdem, wie gut du gearbeitet hast!" erklärte Yanor: "Und das kannst du dann gegen Essen und Kleidung eintauschen!"
"In der Kristallstadt arbeiten alle das, was sie können, und bekommen dafür das, was sie brauchen!" sagte Keva verwirrt.
"Und es gibt niemanden, der weniger arbeitet als er kann, oder mehr nimmt, als er braucht?" fragte Suriu. Keva schüttelte den Kopf. "Ein guter Ansatz!" seufzte Suriu: "Aber bei so vielen unehrlichen Leuten, wie es sie hier gibt, ist die Durchführung unmöglich!"
"Ich denke, ich werde Perlentaucherin!" meinte Keva: "Tauchen kann ich eben!"
"Suriu!" brüllte Lanem: "Ich habe nicht ewig Zeit!" Suriu drehte sich zu seinem Onkel und lächelte.
"Luti gibt dir die Endbilanz der Krankenhäuser!" sagte er. Luti, das Schmetterlingsfeenmännchen, das es sich auf dem Kronleuchter bequem gemacht hatte, sauste quer durchs Sitzungszimmer und verschwand durch ein offenes Fenster. "Ich möchte mehr über die Kristallstadt wissen!" flüsterte Suriu: "Wollt Ihr heute Abend mit mir speisen!" Keva nickte.
"Gibt's da Seegras?" fragte Valis.
"Wer hat gesagt, dass du Nervensäge mitkommen darfst?" knurrte Keva. Valis flog beleidigt zu Yanor und liess sich auf seinem Kopf nieder. "Sehr gerne!" sagte Keva dann zu Suriu: "Wenn Ihr eine Möglichkeit findet, Valis auszusperren!"
"Ganz bestimmt!" murmelte Suriu und zwinkerte fröhlich mit den Augen. Dann deutete er auf die Türe und sagte: "Ich möchte Euch ja nicht rausschmeissen, aber wenn ich meinen Onkel noch länger warten lasse, habe ich heute abend Hausarrest!" Keva lachte leise. "Bei Sonnenuntergang! Vor dem Tor!" flüsterte Suriu.
"Wir sind schon weg!" meinte Keva und zog Yanor am Ärmel durch die Türe.
Valis setzte sich auf Kevas Schulter und flüsterte: "Der steht auf dich, Keva!"
"Beruht auf Gegenseitigkeit!" murmelte Keva kühl: "Und du solltest dich da raushalten!"

Zu Mittag besuchte Keva die Perlentaucher und fragte, ob sie bei ihnen arbeiten könne. Koré, der Anführer der Perlentaucher, sah sie kurz an und murmelte dann: "Santen! Du kannst tauchen, also bist du drin!"
"Wieviel bekommt sie?" fragte Valis.
"200 für kleine Perlen, 300 für grosse und 500 für riesige!" erklärte Koré. Er zeigte mit dem rechten Daumen über seine Schulter und murmelte: "Da hinten ist eine Waage!"
"Und schwarze Perlen?" fragte Keva: "Sie sind viel seltener!"
"Bis jetzt hat noch niemand von uns eine schwarze Perle gefunden!" seufzte Koré: "Die bringen dreimal so viel ein!" Er kratzte sich am Hals und meinte: "Nach dem Mittagessen gehen wir wieder tauchen und kurz vor Sonnenuntergang ist dann Schluss!"
"Schaffe ich es dann, bei Sonnenuntergang in der Stadt zu sein?" fragte Keva. Koré nickte.
"Du müsstest wahnsinnig trödeln, dass du das nicht schaffst!" meinte er grinsend: "Also willst du heute schon anfangen!"
"Warum sollte ich bis morgen warten?" fragte Keva verwirrt. Koré seufzte leise.
"Das ist schwer zu erklären!" murmelte er: "Viele suchen zuerst einen Beruf, bevor sie beschliessen, in der Stadt zu bleiben! Und dann suchen sie eben am gleichen Tag noch eine Wohnung!"
Keva ging mit Koré und den anderen Perlentauchern zum Ufer. "Wenn du dort um diese kleine Halbinsel herumschwimmst, findest du ganz viele!" erklärte einer der Perlentaucher, Kelías.
"Ich schwimme dort hin!" meinte Keva. Kelías grinste und marschierte bis zu den Knien ins Wasser.
"Er ist immer am schnellsten im Wasser!" raunte Koré Keva zu: "Das Wasser kommt ihm gar nicht kalt vor!" Er streckte seine Zehen ins Wasser. "Nimm seinen Tipp nicht so ernst! Er will dich blamieren!" meinte er dann. Keva grinste und schüttelte den Kopf. Sie marschierte zügig an Kelías vorbei und tauchte unter. Das Wasser fühlte sich gut an. Keva spreizte ihre Flossen und schwamm schnell nach oben, dass sie aus dem Wasser heraussprang. Als sie wieder untertauchte, sah sie am Grund Kelías schwimmen. Keva atmete das Wasser ein und schwamm zu Kelías.
"Ganz ehrlich!" meinte sie: "Es ist nicht leicht, besser als eine Santen schwimmen zu können! Santen sind eben fürs Wasser geschaffen!" Dann bewegte sie sich weiter in die Tiefe und fand bald die ersten Perlen. "Ich glaube, ich bin bei den Perlentauchern richtig!" murmelte sie. Sie sammelte die Perlen in ein kleines Säckchen und schwamm weiter. Als sie zum Lager der Perlentaucher zurückkehrte, waren erst Koré, Kelías und ein anderer Perlentaucher, Niban, dort.
"Wieviele hast du?" fragte Kelías.
"18!" sagte Keva.
"Nicht schlecht für den ersten Tag!" meinte Koré: "Ich habe an meinem ersten Tag gar keine gefunden!"
"Sie ist eine Santen!" knirschte Kelías: "Sie kann sogar unter Wasser atmen!" Keva nickte.
"Unter Wasser atmen!" murmelte Koré beeindruckt: "Das ist für eine Perlentaucherin natürlich sehr nützlich!"
"Du solltest deine Perlen jetzt wiegen!" meinte Kelías. Keva tat es. Vier ihrer 18 Perlen waren riesig und neun waren gross. Koré war beeindruckt.
"Du hast an deinem ersten Tag 5700 Knoten verdient!" murmelte er: "Das ist mehr, als die meisten anderen Perlentaucher verdienen!"
"Als Santen bin ich ein Naturtalent!" bemerkte Keva. Kelías nickte und legte seine zwölf grossen und acht kleinen Perlen der Reihe nach auf die Waage. Er hatte 5200 Knoten verdient. Koré öffnete ein kleines Eisenkästchen, in dem unzählige kleine, blaue Münzen lagen. Er zählte 57 ab und füllte sie in Kevas Perlensäckchen, dann gab er Kelías 52 Münzen.
"Ich gratuliere!" sagte Kelías zu Keva: "Du warst schon am ersten Tag besser als der beste!" Keva lächelte freundlich und verabschiedete sich. Sie befestigte ihr Perlensäckchen zwischen ihren beiden linken Armflossen und lief dann so schnell sie konnte in die Stadt.
"Keva! Hier bin ich!" schrie Valis von den obersten Zweigen eines Baumes. Die Fee sprang herunter und fing sich erst in der Höhe von Kevas Augen wieder. "Wieviel hast du verdient?" fragte sie.
"5700 Knoten!" murmelte Keva: "Aber ich weiss nicht, was das wert ist!"
"Das ist viel wert!" rief Valis: "Damit kannst du fünfzehn Tage lang in Vanaits Gasthof wohnen!" Sie flatterte aufgeregt auf und ab und murmelte: "Wenn du so weitermachst, bist du bald wahnsinnig reich!" Keva marschierte an Valis vorbei.
"Ich bin jetzt verabredet!" sagte sie: "Und zwar ohne dich!" Valis flog wieder auf den obersten Zweig des Baumes und schmollte. Keva lief zum Kaiserpalast und suchte das Tor, durch das sie am Morgen in den Garten gekommen war. Das Tor hätte sie niemals erkannt, dafür erkannte sie aber die Person. "Ich grüsse Euch! Ihr habt da eine nette Verkleidung!" sprach sie einen Soldaten an. Es war Suriu. Er kicherte leise und steckte seinen Kopf durch eine Klappe im Tor.
"Kelis, du kannst mich wieder ablösen!" sagte er: "Sie hat mich erkannt. Er zog den Kopf wieder heraus, ohne Helm. Etwas später kam ein Soldat aus dem Garten vor das Tor, der den Helm gerade aufsetzte.
"Habt Ihr Euch nur wegen mir als Soldat verkleidet, oder tut Ihr das öfter?" fragte Keva. Suriu grinste.
"Öfter!" sagte er: "Es ist die ungefährlichste Methode, den Palast zu verlassen! Als Kaiser kann ich nicht in die Stadt gehen!"
"Wieso ist das gefährlich?" fragte Keva. Suriu sah sie verblüfft an.
"Viele Leute meinen, dass es eine gute Verdienstmöglichkeit ist, den Kaiser um seine Knoten zu bringen!" erklärte er. Keva nickte. "Das gibt es in der Kristallstadt auch nicht!" vermutete Suriu. Keva nickte wieder. "Die Leute sind hier viel zu unehrlich!" seufzte Suriu: "Warum habt Ihr dann die Kristallstadt verlassen?"
"Es ist dort langweilig!"
"Gibt es denn keinen Sport, keine Spiele?" fragte Suriu.
"Die gibt es, aber sie sind auch langweilig!" meinte Keva: "Wie stellt Ihr Euch vor, mit Seegrasbällen fangen zu spielen?" Suriu bot ihr seinen Arm an und Keva hakte ein. "Von oben werden die Seegrasbälle fallengelassen und wer seinen als erster gefangen hat, hat gewonnen!" erklärte Keva.
"Sehr spannend!" murmelte Suriu: "Ich würde einschlafen!"
"Das dachte ich mir!" bemerkte Keva: "Und jetzt wisst Ihr auch, warum ich die Kristallstadt verlassen habe! Seegrasballfangen ist das spannendste Spiel!"
"Da ist mein Lieblingswirtshaus!" murmelte Suriu und deutete nach vorne, wo eine kleine, schiefe Hütte stand. Sie war spärlich beleuchtet, aber es sassen Unmengen von Leuten vor der Hütte an kleinen Tischen. Keva roch bereits, dass dort exzellente Speisen zubereitet wurden.
"Es gefällt mir jetzt schon!" sagte sie. Suriu führte sie an einen der kleinen Tische. "Ihr müsst mir helfen!" murmelte Keva: "Ich habe an Land noch nie zubereitete Speisen gegessen! Immer nur Früchte und Wurzeln!"
"Tiere nicht?"
"Andere lebende Wesen zu töten, um sie zu essen, kann ich mir nicht vorstellen!" meinte Keva: "Ich glaube, ich würde mich schrecklich fühlen!" Sie schüttelte sich.
"Es gibt viele Gerichte ohne Fleisch!" beruhigte Suriu sie: "Einige Stämme der Marcoova essen auch kein Fleisch! Die Köche nehmen darauf Rücksicht!"
"Das ist gut!" murmelte Keva. Eine ältere Marcoova trat zu Suriu und Keva.
"Die Speisekarte für die beiden Herrschaften!" murmelte sie und klatschte zwei dünne Hefte auf den Tisch. Dann wollte sie wieder gehen.
"Viaura, wartet kurz!" rief Suriu. Die Marcoova blieb stehen. "Ihr gehört doch einem Stamm an, der kein Fleisch isst!" meinte Suriu. Viaura nickte. "Keva isst ebenfalls kein Fleisch!" sagte Suriu und deutete auf Keva: "Könntet Ihr ihr behilflich sein!"
"Ist gut!" murmelte Viaura. Sie beugte sich über Kevas Schulter und schlug die Speisekarte auf. "Salat mit Nüssen und Pilzen, zum Beispiel!" meinte sie: "Ist sehr gesund!"
"Diese schwarzen Nudeln, was ist mit denen?" fragte Keva.
"Fleisch drin!" brummte Viaura. Sie blätterte um und las vor: "Pilzpfanne mit Grünspitzchen!"
"Ist das gut?" fragte Keva. Viaura nickte. "Dann nehme ich das!" sagte Keva.
"Und zu trinken?" fragte Viaura.
"Ich weiss nicht!" murmelte Keva: "Ich will da keine grossen Experimente machen!"
"Wasser!" brummte Viaura.
"Ich schliesse mich Keva an!" meinte Suriu: "Pilzpfanne und Wasser! Das hatte ich noch nie!" Viaura grummelte leise und verschwand im Inneren der Hütte.
"Was esst Ihr sonst hier immer?" fragte Keva.
"Menü Royal!" murmelte Suriu: "Aber es ist ein Fleischgericht und ich glaube, ich würde Euch keinen Gefallen tun, wenn ich es nähme!"
"Ich hatte noch nie mit Fleischgerichten zu tun!" meinte Keva: "Um die Kristallstadt schwimmen sehr wenig Tiere herum!" Sie lehnte sich zurück, worauf der Stuhl laut knarrte.
"Erzählt mir! Wie sieht die Kristallstadt aus?" bat Suriu. Er lehnte sich ebenfalls zurück und entlockte seinem Stuhl auch ein lautes Knarren.
"Hell!" sagte Keva: "Für dort unten sehr hell! Die Kristalle leuchten schwach und sind dort unten die einzige Lichtquelle! Es gibt keine Türen, nur Vorhänge, die aus Seegras gewebt sind! Und es gibt ausser den Schlafräumen keine Räume, die einer Person alleine gehören!"
"Was ist mit Euren Eltern?" fragte Suriu: "Sie sind König und Königin der Kristallstadt! Was unterscheidet sie denn von den anderen Santen?"
"Sie haben die Macht und ein grösseres Zimmer!" sagte Keva: "Aber die Entscheidungen, die sie treffen müssen, betreffen eigentlich nur streitende Kinder!"
"Keine Verbrechen!" murmelte Suriu: "Kennt Ihr das Wort eigentlich?"
"Früher gab es auch bei den Santen Verbrechen!" meinte Keva: "Diebstahl, Betrug, Schlägereien! Valis hat gesagt, das sind die häufigsten Verbrechen hier heroben!"
"Sie hat recht!" bestätigte Suriu. Er beugte sich etwas nach vorne, worauf der Stuhl wieder knarrte. "Wie steht Ihr zu Euren Eltern?" fragte er.
"Sie sind lausige Eltern!" brummte Keva: "Sie haben nicht begriffen, dass mir dort unten etwas fehlt!"
"Hat denn niemandem ausser Euch etwas gefehlt?" fragte Suriu: "Ihr seid ja schliesslich die einzige Santen hier heroben!" Keva zuckte die Schultern.
"Ich bin die einzige hier, das ist wahr!" seufzte sie. Viaura stellte zwei gusseiserne Pfannen auf den Tisch und legte Besteck daneben. Sie verschwand wieder und brachte dann einen Krug Wasser und zwei Gläser. "Das sieht gut aus!" murmelte Keva und spiesste einen Pilz auf ihre Gabel.
"Es sieht wirklich gut aus!" meinte Suriu überrascht: "Es muss nicht immer das Teuerste sein!" Er schob einige Grünspitzchen auf seine Gabel und probierte. "Die Augen haben nicht getäuscht!" bemerkte er: "Es ist gut!" Keva schob den Pilz in ihren Mund und schloss die Augen.
"Es schmeckt alles viel zarter als roh!" flüsterte sie: "Und auch ganz neu, ganz anders als Seegras!" Sie grinste Suriu an und schob sich den nächsten Bissen in den Mund.
"Also war es eine gute Idee, Euch zum Essen einzuladen!" meinte Suriu.
"Richtig! Eine gute Idee!" murmelte Keva. Sie ass die ganze Pfanne leer, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Suriu störte das nicht, denn er war selbst mit seiner Pilzpfanne beschäftigt.
"Vielleicht noch eine Nachspeise?" brummte Viaura ihnen zu. Keva hob den Kopf und sah Suriu an.
"Vielleicht später!" meinte sie dann. Viaura schlurfte zum nächsten Tisch. "Was ist eine Nachspeise?" fragte Keva dann leise.
"Nachspeisen sind süss und machen dick!" murmelte Suriu: "Aber unglaublich lecker!"
"Ich würde gerne eine Nachspeise probieren!" seufzte Keva: "Aber dick werden will ich nicht!"
"Einmal schadet nicht, Prinzessin Keva!" meinte Suriu. Er lächelte Keva an. "Aber weil es nur ums Kennenlernen geht, werde ich gerne eine Nachspeise mit Euch teilen!" Keva nickte. Suriu winkte Viaura und bestellte eine Portion Waffeln mit verschiedenen Früchten und zwei Gabeln.
"Wie auch immer!" brummte Viaura mürrisch: "Aber zwei Portionen wären schon auch machbar!" Sie verschwand wieder in der Hütte.

"Verzeiht ihr, dass sie so unhöflich ist!" flüsterte Suriu Keva zu: "Sie will nur ein Geschäft machen!"
"Aber es sitzen viele Leute hier!" murmelte Keva: "Sie macht doch ein Geschäft!"
"Im Normalfall gebe ich mehr aus als die anderen!" erklärte Suriu. Er lehnte sich unter Stuhlknarren zurück. "Allerdings ist das heute anders! Und deshalb ist sie so!"
"Ich muss noch viel lernen, was Geld und Geschäft betrifft!" seufzte Keva: "Aber ich denke, im kleinen hat es das auch in der Kristallstadt gegeben!" Suriu setzte sich wieder gerade, wobei der Stuhl knarrte, und sah Keva interessiert an. "Die Kinder haben verschiedene Arbeiten getauscht! Und manchmal mussten die Arbeiten nicht alle gleichzeitig gemacht werden! Also haben sie sich als Beweis, dass sie gearbeitet haben, kleine Muscheln gegeben!"
"Wer Muscheln hat, kann sich davon Arbeit kaufen!" meinte Suriu. Keva nickte.
"In etwa!" bestätigte sie. Suriu lehnte sich wieder zurück, Stuhlknarren. "Könntet ihr den Stuhl dazu bringen, nicht mehr diese Geräusche von sich zu geben?" murmelte Keva. Viaura schlurfte zum Tisch und stellte die Waffeln in die Mitte.
"Und zwei Gabeln!" brummte sie. Suriu beugte sich vor und Keva verzog das Gesicht, als der Stuhl wieder knarrte. Dann nahm sie eine Gabel und probierte die Waffeln. Viaura schlurfte wieder in die Hütte.
"Unheimlich lecker!" sagte Suriu: "Wenn es nach meiner Zungenspitze ginge, würde ich mich nur von solchen Sachen ernähren!"
"Das würde meiner Zungenspitze auch gefallen!" bemerkte Keva. Suriu nahm seine Gabel und spiesste eine Waffel als Ganze auf.
"Manchmal gehen allerdings die Manieren verloren!" kicherte er. Keva blieb bei Waffelstücken.
"Erzählt mir über die Geschichte des Landes!" bat sie: "Ich weiss ja nichts!" Suriu schluckte die Waffel und nickte.
"Natürlich, Keva!" murmelte er: "Die frühe Geschichte mit hunderten verschiedener Kaiser und manchmal ein paar Königen und Fürsten und unzähligen Kriegen ist fürchterlich brutal, aber, wenn man alles zusammen sieht, unglaublich eintönig!" Keva zerteilte eine Waffel in kleine Stückchen und hörte aufmerksam zu. "Kaiser sowieso wurde von Feldherr der-und-der in der Schlacht um das-und-das besiegt, worauf der Kaiser wurde! Und so weiter eben! Mein Urgrossvater hat seinen Vorgänger auch noch in einer Schlacht besiegt!" erklärte Suriu.
"Was ist eine Schlacht?"
"Ein Kampf!" murmelte Suriu: "Mit vielen Soldaten, die eigentlich mit der Sache nichts zu tun haben!"
"Starben viele?"
"Ja, es starben sehr viele!" seufzte Suriu.
"Was geschah, als Euer Urgrossvater Kaiser war?" fragte Keva.
"Er hat den Frieden gebracht!" erklärte Suriu: "Die Grenzen zum Reich der Marcoova, zu Varisaland, zu Lavien und zu Kalarien sind seit ihm fixiert und nur einer hat sie seitdem angefochten!"
"Wer war es?"
"Sein Name ist Selcai!" murmelte Suriu: "Das war vor 22 Jahren!" Er wurde unruhig und beugte sich noch weiter nach vorne. "Er hat den Palast besetzt und die Macht des Kaisers verlangt! Mein Vater lehnte ab und wurde dafür getötet!"
"Das ist ja furchtbar!"
"Selcai heiratete meine Mutter Lanita und wäre dadurch Kaiser geworden, wenn es mich nicht gegeben hätte! Aber niemand sagte ihm das, also glaubte er tatsächlich, er wäre offiziell Kaiser!" Suriu trank ein Glas Wasser. "Zwei Jahre lang wuchs ich bei den Dienstbotenkindern auf! Dann sagte meine Mutter ihm, dass er nie Kaiser war, aber sie belog ihn, was mich anging! Sie sagte, ich wäre mit einigen Feen im Wald!" erzählte er: "Da hat er sie auch umgebracht!"
"Sie auch!" murmelte Keva mitfühlend.
"Er hat wieder geheiratet!" sagte Suriu: "Eine marcoovische Magierin! Sie sollte mich finden und töten! Hat sie aber nicht gemacht!" Suriu stocherte in einer Waffel und lächelte matt. "Sie hat ihn mit einem Schlafzauber belegt und in ein Amulett verbannt! Jetzt ist sie meine Beraterin, Yanatu!"
"Warum hat sie ihn nicht einfach eingesperrt?" fragte Keva.
"Er ist auch Magier! Eigentlich viel besser und stärker als Yanatu, aber sie hat ihn überlistet!"
"Wieso hat er Euch dann nicht selbst gesucht?" fragte Keva.
"Er ist Spezialist für Kampfzauber!" seufzte Suriu: "Suchzauber kann er nicht besonders gut!"
"Gut, dass er schläft!" murmelte Keva. Suriu nickte. "Habt Ihr keine Angst, dass er aufwacht?" fragte Keva. Suriu nickte wieder.
"Das Amulett muss bewacht werden!" sagte er: "Yanatu macht das! Aber irgendwann muss jemand anderes das Amulett bewachen! In jeder Generation wird es jemand machen müssen!" Keva schob eine Waffel in ihren Mund.
"Was geschah danach?" fragte sie, als sie geschluckt hatte: "Nachdem sie ihn überlistet hatte!"
"Sie kam in den Speisesaal der Dienstbotenkinder und gab mir die Kaiserkrone und den Salcan!" erklärte Suriu: "Dann war ich Kaiser! Die marcoovischen Truppen wurden vertrieben und die Magiergilde verbot die Teufelszauber!" Er starrte die arg dezimierten Waffeln an. "Von Selcai blieb nur seine Tochter übrig!" murmelte er: "Dantia, Tochter meiner Mutter!"
"Sie kommt aber nicht sehr nach ihm, oder?" fragte Keva, während sie mit chirurgischer Genauigkeit die letzten drei Waffeln zusammen auf die Gabel spiesste. Suriu schüttelte den Kopf.
"Dantia war ein Jahr alt, als Yanatu Selcai ins Amulett verbannt hat!" sagte er und zuckte zusammen, als ein winziger Regentropfen auf seine Wange fiel. "Viaura, ich möchte zahlen, bevor ich nass wie ein Fisch bin!" rief er.
"Natürlich!" brummte Viaura: "Ich verliere doch nicht meinen besten Stammkunden! Kostet 92 Knoten!" Suriu fischte rote und grüne Münzen aus einem Beutel und legte sie in Viauras Hand. "Danke!" murmelte Viaura, als sie bemerkte, dass es etwas mehr war. Keva stopfte die restlichen Waffeln schnell in den Mund, dann rannten sie und Suriu durch den schnell stärker werdenden Regen.

"Wie hat es Euch gefallen, Prinzessin?" fragte Suriu ausser Atem. Keva nickte möglichst bedeutsam, sie hatte ja immer noch nicht geschluckt. Die beiden sausten wie der Wind zwischen den Regentropfen durch. Nach einer Weile erkannte Keva wieder Viauras Gasthaus, sie waren im Kreis gelaufen. Es war schon tiefschwarze Nacht und der Schleier aus Regen machte die Orientierung auch nicht leichter. "Peinlich!" murmelte Suriu: "Der Kaiser verläuft sich in der Kaiserstadt!"
"Macht es euch etwas aus, länger zu laufen?" fragte Keva ihn: "Ich finde zum Kevale! Ich bin eine Santen, ich kann das Wasser spüren! Und vom Lager der Perlentaucher ist es ganz leicht, zum Palast zu kommen!" Suriu nickte und liess sich von Keva durch enge Gassen und über breite Strassen ziehen. Ausser ihnen war niemand auf dem Weg, was bei diesem Wetter auch nicht verwunderlich war.
"Die Orientierung der Santen ist fantastisch!" schwärmte Suriu, als er den Kevale erblickte. Keva stapfte voran durch den Schlamm.
"Das Lager liegt flussabwärts, aber nicht weit!" sagte sie. Suriu stapfte ihr hinterher. Als die beiden um eine bewaldete Landzunge bogen, sahen sie ein blaues Leuchten. Keva schlich neugierig näher und verbarg sich geschickt hinter Büschen. Suriu schlich leise fluchend hinter ihr her.
"Wolltet Ihr nicht zum Palast gehen?" fragte er leicht ärgerlich.
"Das ist Niban!" flüsterte Keva: "Und er hält eine blaue Perle in der Hand!"
"Blaue Perle?" japste Suriu. Sofort hielt er sich den Mund zu. Sehr viel leiser erklärte er dann: "Blaue Perlen sind eine Warnung vor dem Bösen! Und sie entstehen nur in der Nähe von Spiegelwesen!"
"Ich weiss!" murmelte Keva: "Valis hat es mir erzählt!" Sie bog einige Zweige zur Seite, um besser durch den Busch sehen zu können. "Niban ist also ein Spiegelwesen!" sagte sie nachdenklich: "Und die blauen Perlen warnen vor dem Bösen! Was kommt also auf uns zu? Es wird etwas Grosses sein!"
"Das letzte Mal haben die blauen Perlen vor Selcai gewarnt!" sagte Suriu. Keva sah ihn erschrocken an.
"So etwas Furchtbares darf nicht wieder geschehen!" knurrte sie.
"Keva!" hauchte Suriu und deutete auf Niban. Keva starrte durch das Loch im Busch und bemerkte eine dunkel gekleidete Gestalt hinter Niban stehen.
"Ein Spiegelwesen!" hauchte die Gestalt: "Mein zweiter Fund! Und diesmal wird es nicht bei einem Fund bleiben!" Trotz der Entfernung konnten Keva und Suriu seltsamerweise jedes Wort verstehen. Niban sprang schnell auf und lief in den Kevale. Doch noch bevor er bis zu den Knien im Wasser war, wurde er vom Blitz getroffen. Er war sofort tot. Kevas Flossen wurden plötzlich brennend heiss und Suriu neben ihr schnappte nach Luft.
"Wir sollten uns zurückziehen!" flüsterte er ganz leise und Keva stimmte ihm zu. Sie schlichen denselben Weg zurück, den sie gekommen waren, nur ungleich vorsichtiger. Trotzdem schien die dunkel gekleidete Gestalt sie zu bemerken. Sie schritt den beiden gemächlich nach, bewegte sich allerdings so schnell, als würde sie rennen. Keva und Suriu liefen so schnell sie konnten und verloren trotzdem nach und nach ihren Vorsprung.
"Ins Wasser!" zischte Keva.
"Ich bin kein Santen!" protestierte Suriu.
"Wollt ihr vom Blitz getroffen werden?" knurrte Keva und zog ihn zu einer Stelle, von der sie wusste, dass das Wasser auch am Ufer sehr tief war. "Einatmen!" rief sie. Suriu tat es. Dann sprang Keva ins Wasser und zog ihn mit sich. Sie atmete das Wasser ein und schwamm dann so schnell sie konnte zu einem der untergegangenen Tempel, in dem sich, wie sie wusste, noch eine Luftblase befand. Suriu war schon etwas blau im Gesicht, als sie die Luftblase erreichten. Er sog die vermoderte Luft gierig ein und sah dann zu Keva, die sich gerade bemühte, das ganze Wasser auszuatmen.
"Ich danke Euch, Prinzessin Keva!" sagte er, immer noch nach Luft schnappend: "Aber länger hätte ich es nicht mehr ausgehalten!" Er zog sich auf einen moosbewachsenen Steinsockel und fragte dann: "Wo kommt das Licht her?"
"Unter uns ist ein Altar aus demselben Kristall, aus dem auch die Kristallstadt gebaut ist!" erklärte Keva: "Nicht besonders hell, aber es genügt!" Sie setzte sich neben Suriu auf den Steinsockel und starrte die gegenüberliegende Wand an.
"Dieser Fremde hat Niban vom Blitz treffen lassen!" sagte Suriu. Keva antwortete nicht. Suriu starrte in die Tiefe. "Einer der Teufelszauber!" murmelte er dann.
"Wie lange bleiben wir hier?" fragte Keva.
"Ich muss mich erst beruhigen!" seufzte Suriu: "Das war ein schreckliches Erlebnis!" Keva nickte nur. Auch sie war aufgewühlt und unruhig. Allerdings war sie auch noch nie so schnell geschwommen. Angst hatte seltsame Auswirkungen, sie konnte lähmen und anspornen, sie liess einen kämpfen oder flüchten.
"Ich fürchte mich!" brach Keva schliesslich das Schweigen.
"Dieser Fremde macht auch mir Angst!" sagte Suriu. Keva schüttelte den Kopf.
"Ich fürchte mich vor der Zukunft!" murmelte sie: "Wenn dieser Fremde nur der Anfang war ..." Suriu legte einen Arm um Keva und drückte ihre Hand. "Wenn Niban ein Spiegelwesen war, hätte er den Fremden aber kommen spüren müssen und flüchten können!" sagte Keva nachdenklich.
"Wo auch immer er die Perle gefunden hat, jeder andere, der oft dort war, könnte auch das Spiegelwesen sein!" meinte Suriu.
"Einer der Perlentaucher!" flüsterte Keva: "Nur hat Niban die Perle gefunden!"
"Auch Ihr könntet es sein!" sagte Suriu. Keva lehnte sich an ihn und seufzte. "Auch wenn Ihr es seid, hättet Ihr Niban nicht retten können!" erklärte Suriu.
"Ich weiss! Es ging selbst für einen mächtigen Magier zu schnell!" murmelte Keva. Sie seufzte leise und meinte dann: "Wir sollten es für uns behalten, sonst erfährt der Fremde vielleicht, dass wir es gesehen haben!"
"Wenigstens bis die anderen Perlentaucher Niban gefunden haben!" bestätigte Suriu. "Wir sollten in die Stadt zurückkehren!" sagte er dann leise: "Aber wir sollten einen Umweg machen, vielleicht ist der Fremde noch in der Nähe!" Keva nickte und glitt ins Wasser.
"Ich schwimme flussaufwärts bis zum Hafen!" sagte sie: "Aber ich werde auftauchen, sobald es möglich ist!" Suriu stand auf und atmete einige Male tief durch. Keva tauchte unter und atmete das Wasser ein. Plötzlich sprang Suriu kopfvoran ins Wasser. Keva packte seine Hände und zog ihn mit. Als sie das Eingangstor des Tempels durchschwommen hatte, schwamm sie nach oben und tauchte auf. Es regnete nicht mehr, aber die Nacht war noch dunkler geworden. Suriu schloss die Augen und schüttelte sich.
"Keva, das Leben ist hart, aber schön!" murmelte er.
"Los, wir schwimmen weiter!" sagte Keva: "Haltet mich an den Schultern!" Suriu befolgte ihre Anweisungen.
"Ich bin bereit!" sagte er dann. Keva schwamm los und wurde mit jedem Flossenschlag schneller. Nach einer Weile machte Suriu sie auf die drei Navigationslichter der Hafeneinfahrt aufmerksam und Keva hielt auf sie zu.
"Wir tauchen in den Hafen, damit uns niemand bemerkt!" sagte sie dann: "Valis hat mir erzählt, dass der Hafen bewacht wird!"
"Das ist richtig, der Hafen wird bewacht!" bestätigte Suriu. Er atmete tief ein und kniff Keva dann in die Schulter, worauf sie untertauchte und erst im Hafen zwischen zwei Schiffen wieder auftauchte. Keva und Suriu kletterten auf den Landesteg und liefen durch das Tor des Hafens. Niemand hatte sie bemerkt.
"Ziemlich gewaltig!" murmelte Keva.
"Was?"
"Ich gehe das erste Mal aus, und dann passiert das!" Keva lehnte sich an ein junges Bäumchen.
"Aber es liegt weder an Euch, noch an mir!" sagte Suriu. Keva grinste schwach. Suriu berührte sie an der Wange. "Gefahr verbindet!" flüsterte er. Keva grinste immer noch und legte ihren Arm um seine Schulter.
"Ja!" sagte sie: "Gefahr verbindet! Hoffentlich trennt Sicherheit nicht!" Jetzt grinste Suriu. "Hm! Nein, tut sie nicht!" meinte Keva schliesslich: "Meine Eltern leben ja schon eine Ewigkeit in Sicherheit!" Surius Grinsen wurde kaum merklich schwächer, aber Keva bemerkte es doch.
"Wir sollten gehen!" sagte Suriu: "Wir brauchen beide unseren Schlaf!"
"Ja, morgen können wir dann klar denken!" murmelte Keva. Sie klopfte auf Surius Schulter und marschierte zur Stadt. Suriu folgte ihr.

Am nächsten Morgen, als Keva das Lager der Perlentaucher erreichte, schrien dort alle durcheinander. Sie rief sich ins Bewusstsein, dass sie ja mit eigenen Augen gesehen hatte, was mit Niban geschehen war. Aber wer auch immer dieser Fremde gewesen war, er durfte auf keinen Fall erfahren, dass sie von ihm wusste.
"Was ist passiert?" fragte sie Koré.
"Niban ist tot!" sagte Koré. Keva nickte und schob Kelías und Raico zur Seite, um zu dem Toten zu gelangen. Die Perlentaucher hatten ihn an Land gezogen und auf den Rücken gelegt. Keva kniete neben ihm nieder und strich ihm über den rechten Arm. Ein schwaches Schimmern aus seiner verkrampften linken Hand erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie öffnete vorsichtig seine Hand, obwohl die anderen Perlentaucher heftig protestierten, man solle den Toten zufrieden lassen. Doch als Kelías die blaue Perle sah, winkte er den anderen, zu schweigen.
"Das ist eine blaue Perle!" sagte er: "Niban wurde von der uns drohenden neuen Gefahr getötet!" Nun redeten die Perlentaucher alle durcheinander. Koré brachte sie zum schweigen.
"Lasst Kelías erzählen!" sagte er.
"Das letzte Mal wurden blaue Perlen gefunden, bevor Selcai die Macht übernommen hat!" erklärte Kelías: "Ich fürchte, uns steht etwas ähnlich Schreckliches bevor!" Der Rest der Perlentaucher raunte, nur Keva und Koré waren still. "Damals, als Selcai die Macht übernahm, beachtete niemand die blauen Perlen!" erzählte Kelías: "Aber diesmal wird es nicht soweit kommen! Wir werden Yanatu informieren!" Er nahm die blaue Perle aus Nibans Hand und sagte: "Verzeih uns, Niban, dass wir dich hier einfach liegenlassen!" Dann marschierte er auf das Stadttor zu und die anderen Perlentaucher folgten ihm.
"Weisst du, was eine blaue Perle bedeutet?" fragte Koré Keva: "Frag mich, wenn du etwas wissen möchtest!"
"Valis hat mich in allem unterrichtet!" sagte Keva: "Ich weiss, was eine blaue Perle bedeutet! Wenn ich es nicht wüsste, wäre ich bedeutend ruhiger!" Koré nickte. Die Perlentaucher betraten die Stadt und wendeten sich zum Palast. Die Stadtbewohner blickten der Gruppe verwirrt nach.
"Was wollt ihr im Palast?" fragte ein Soldat.
"Wir wollen mit Yanatu sprechen!" sagte Kelías. Der Soldat schüttelte den Kopf.
"Sie ist in einer Besprechung!" erklärte er.
"Wie lange wird diese Besprechung dauern?" fragte Keva. Der Soldat zuckte die Schultern.
"Dann wollen wir mit Luti sprechen!" sagte Keva.
"Er ist in einer Besprechung!" erklärte der Soldat: "Heute haben beide keine Zeit mehr!" Keva verdrehte die Augen.
"Na gut, woran liegt es, dass du uns nicht reinlässt?" brummte sie: "Weil wir Schlammpatschen haben, oder weil wir so viele sind! Lass halt nur Koré, Kelías und mich rein! Wir putzen auch unsere Füsse!"
"Hast du nicht gehört!" schnauzte der Soldat: "Sie haben keine Zeit! Es liegt nicht an mir!" Keva fuchtelte verärgert mit den Händen in der Luft herum, dann kam ihr eine Idee.
"Hat Kelis heute Dienst?" fragte sie.
"Am Südtor!" brummte der Soldat: "Aber er wird euch auch nicht reinlassen!"
"Wir werden sehen!" knurrte Keva und marschierte nach Süden. Die anderen Perlentaucher folgten ihr verblüfft.
"Was wollt ihr im Palast?" fragte der Soldat am Südtor. Keva erkannte ihn, es war Kelis.
"Wir wollen mit Yanatu sprechen!" sagte Kelías. Keva grinste und ergriff selbst das Wort.
"Kelis, es ist dringend!" sagte sie: "Wir müssen Yanatu etwas berichten!" Kelis starrte Keva verwirrt an. "Ich erkenne jeden, wirklich jeden!" half sie ihm auf die Sprünge. Kelis' Mund zog sich in die Breite.
"Natürlich!" sagte er: "Ich hätte Euch erkannt, wenn es gestern nicht so dunkel gewesen wäre!" Er kratzte sich an der Nase und meinte: "Na gut, geht rein, aber der Schlamm an euren Füssen sollte nicht in den Korridoren und Sälen abfallen!"
"Danke!" meinte Keva. Kelis öffnete das Tor und die Perlentaucher betraten den Garten. Beinahe sofort kam Luti angeflogen.
"Kann ich euch helfen?" fragte er. Keva nickte.
"Wir müssen mit Yanatu allein sprechen!" sagte Keva. Luti flog wieder davon.
"Werden wir jetzt wieder abgewimmelt?" fragte Koré. Keva schüttelte den Kopf. Wenig später kam Yanatu zu den Perlentauchern. Luti sass auf ihrer rechten Schulter.
"Nun, was möchtet ihr mir sagen?" fragte Yanatu: "Ich habe nicht ewig Zeit!" Kelías hielt ihr die blaue Perle vor die Nase. Yanatu zuckte zurück. "Wo habt ihr sie gefunden?"
"In der Hand eines toten Freundes!" sagte Kelías. Yanatu klemmte sich eine Lupe vor ihr linkes Auge sah sich die Perle genau an.
"Wir müssen den Kaiser informieren!" sagte sie dann. Kelías machte den Mund auf und wollte protestieren, doch Keva winkte ab. "Folgt mir!" bestimmte Yanatu. Keva, Koré und Kelías marschierten hinter ihr her. Die anderen Perlentaucher machten es sich im Gras gemütlich.
"Der Bürgerantrag gestern!" sagte Luti und flog von Yanatus Schulter auf Kevas Kopf: "Das wart Ihr, nicht wahr?"
"Ich bin sicher, Ihr seht nicht sehr oft Santen, Luti!" bemerkte Keva. Sie, Yanatu, Koré und Kelías traten in den Thronsaal und dann die Treppe hinauf.
"Tut Euch wegen mir keinen Zwang an!" sagte Luti zu Keva: "Es macht mir nichts aus, wenn Ihr den Kopf bewegt!"
"Das ist in Ordnung! Ich bin es von Valis gewöhnt!" meinte Keva: "Allerdings ist Valis sehr viel frecher als Ihr!"
"Das habe ich gestern mitbekommen!" kicherte Luti. Yanatu betrat den Raum, in dem Keva den Kaiser am Vortag angetroffen hatte. "Bleibt heraussen!" sagte Luti: "Lanem einzuweihen, ist keine gute Idee!" Die drei Perlentaucher blieben vor der Türe stehen, bis Yanatu und Suriu aus dem Raum kamen. Yanatu schloss die Türe.

"Kommt mit!" sagte Suriu. Er und Yanatu marschierten ein Stück durch den Korridor und öffneten dann eine Türe auf der rechten Seite. Yanatu schob die Perlentaucher in den Raum dahinter. Suriu betrat ihn ebenfalls und schloss dann die Türe. Yanatu blieb auf dem Korridor stehen.
"Wieso bleibt Yanatu draussen?" fragte Kelías. Suriu öffnete einen Schrank und holte eine grosse Dose heraus. Er klappte den Deckel auf und liess kurz ein kleines Metallgitter in die Dose hängen.
"Das Amulett, das sie trägt, würde den Zauber stören!" sagte er. Er hielt das Gitter knapp vor sein Gesicht und blies das daran haftende Pulver auf die Perlentaucher. Nichts geschah, also hatte keiner der Perlentaucher etwas Böses vor. "Gut!" murmelte er, während er Dose und Gitter wieder verstaute: "Yanatu hat mir erzählt, dass ihr eine blaue Perle gefunden habt!"
"Ja, haben wir!" sagte Koré. Kelías zeigte Suriu die Perle.
"Ich habe heute morgen ebenfalls eine gefunden!" sagte Suriu. Keva trat näher zu ihm.
"Irgendeine Vermutung, wer das Spiegelwesen ist?" fragte sie.
"Luti, das Zimmermädchen oder ich!" antwortete Suriu. Keva nickte.
"Wir wissen nicht, wo Niban die Perle gefunden hat!" sagte Koré: "Folglich wissen wir auch nicht, wer das Spiegelwesen ist!"
"Aber die Vermutung liegt nahe, dass es einer der Perlentaucher ist!" meinte Kelías. Keva nickte wieder. "Was sollen wir tun, um herauszufinden, was auf uns zukommt?" fragte Kelías schliesslich.
"Valis hat mir erzählt, dass es eine Möglichkeit gibt, Spiegelwesen von anderen zu unterscheiden!" sagte Keva nachdenklich: "Wisst Ihr jemanden, der das tun könnte?"
"Ich werde die Palastmagier fragen!" sagte Suriu. Er verliess den Raum. Kelías lehnte sich an die Wand und sah Keva an.
"Du hast etwas Besonderes an dir, Keva!" erklärte er: "Etwas, vor dem jeder Respekt hat! Und es ist nicht die Tatsache, dass du eine Santen bist!" Keva zuckte lächelnd die Schultern. Wenig später kam Suriu mit einer älteren Frau mit einem gelben Regenbogensymbol auf der Stirn zurück.
"Das ist Nivesti!" stellte er sie vor: "Eine Palastmagierin!" Er marschierte zum Schrank, holte die grosse Dose und blies etwas Pulver auf Nivesti. "Gut!" sagte er, als nichts geschah. Dann verräumte er die Dose wieder.
"Sitzt du bequem, Luti?" fragte Nivesti.
"Natürlich, Mutter!" antwortete Luti ohne von Kevas Kopf aufzustehen.
"Yanatu holt die anderen Perlentaucher!" sagte Suriu: "Es wird nicht sehr lange dauern!" Dann deutete er auf den kleinen Kessel und meinte: "Nivesti, bitte!" Nivesti trat zum Kessel und hängte ihn auf. Dann klopfte mit sie ihrem Zauberstab viermal auf den Boden unter dem Kessel, worauf dort ein grellgrünes Feuer zu lodern begann. Sie streckte ihre linke Hand über den Kessel und liess Wasser aus ihrer eigentlich leeren Handfläche in den Kessel fliessen. Dann schüttete sie verschiedene Pulver und Kräuter aus kleinen Säckchen in den Kessel. Yanatu brachte die Perlentaucher und ging dann wieder.
"Ich brauche Grünspitzchen!" sagte Nivesti plötzlich. Suriu suchte ein weisses Ledersäckchen aus dem Schrank und gab es ihr.
"Bitte sehr!" sagte er. Nivesti nahm eine Handvoll Grünspitzchen aus dem Säckchen und warf sie in den Kessel. Dann marschierte sie zu Keva und zog Luti an den Haaren.
"Das hättest du auch sagen können, dass du ein Feenhaar brauchst!" grummelte Luti. Nivesti gab das erbeutete Haar in den Kessel, worauf der Trank wild schäumte. Sie schnippte mit den Fingern und hielt einen Kochlöffel in der Hand, der aus dem Nichts aufgetaucht war. Sie rührte um und stampfte dann auf den Boden. Die grüne Flamme erlosch sofort. Suriu brachte ein Tablett mit Bechern und eine Schöpfkelle. Nivesti füllte jeden Becher und klopfte dann mit dem Zauberstab auf die Unterseite des Tabletts. Suriu liess es los, doch es fiel nicht zu Boden. Alle Anwesenden nahmen einen Becher und würgten den Trank hinunter. Luti trank den Rest in der Schöpfkelle.
"Grässlich!" knurrte ein Perlentaucher, Levar. Raico schüttelte sich.
"Einen Schnaps!" rief er: "Ich gebe alles für einen Schnaps!"
"Da!" rief Nivesti: "Es beginnt!" Sie deutete auf Luti, der blau zu leuchten begann. Wenig später leuchtete Keva ebenfalls.
"Keva! So kurz erst hier, und schon ein Spiegelwesen!" meinte Koré. Keva blickte verwirrt ihre blau leuchtenden Hände an.
"Ich denke, das war's!" sagte Suriu. Nivesti stiess ihm den Ellbogen in die Seite und deutete auf den Spiegel. Suriu starrte entgeistert sein blau leuchtendes Spiegelbild an.
"Also haben wir zwei blaue Perlen und drei Spiegelwesen!" fasste Raico zusammen.
"Die Perle wird noch auftauchen!" meinte Nivesti: "Wir wissen ja, wo wir suchen müssen!" Sie wusch die Becher ab und verräumte sie. "Wie geht es deiner Frau Vilivia?" fragte sie dann.
"Es geht ihr gut!" sagte Raico: "Und Lordas lernt fleissiger als je zuvor! Seine neue Lehrerin ist eine verwandelte Varisaländerin!"
"Dass Varisaländer sich verwandeln müssen!" brummte Nivesti: "Nicht einmal Santen verwandeln sich!" Sie deutete auf Keva.
"Du bist ja auch verwandelt!" bemerkte Luti grinsend.
"Hätte ich meinen grossen Valeker als kleine Schmetterlingsfee heiraten sollen?" knurrte Nivesti ihren Sohn an: "Stell dir vor, du küsst eine Valekerin! Wenn du Pech hast, verschluckt sie dich!"
"Ruhe!" zischte Suriu. Nivesti grinste.
"Das blaue Leuchten hört bald auf!" sagte sie: "Zu Mittag ist es auf jeden Fall weg!"
"Dann sollten wir bis zu Mittag hier bleiben!" meinte Suriu. Nivesti schwang ihren Zauberstab und streute ein Pulver in den Raum. Keva schloss geblendet die Augen und als sie sie wieder öffnete, sah sie Stühle für alle Anwesenden im Raum stehen. Die Perlentaucher, Nivesti, Suriu und Keva setzten sich.
"Nein, halt, irgendjemand muss sich um Niban kümmern!" meldete sich plötzlich ein Perlentaucher. Keva nickte.
"Geh du, Mariás!" sagte sie zu ihm. Mariás stand auf und verliess den Raum. "Wie finden wir heraus, vor was uns die blauen Perlen warnen?" fragte Keva dann.
"Zufall!" seufzte Suriu: "Ich wüsste keine Strategie!" Er schreckte auf, als eine Dienerin ins Zimmer platzte.
"Yanatu ist tot!" schrie die Dienerin. Suriu sprang auf, Luti fiel von Kevas Kopf und Keva selbst fühlte sich, als würden ihre Flossen verbrennen. Nivesti hatte sich als erste wieder gefangen.
"Wo ist sie? Habt ihr sie bereits zugedeckt?" fragte sie.
"Sie ist in ihrem Zimmer und nein, wir haben sie noch nicht zugedeckt! Hätten wir das tun sollen?" Nivesti schüttelte den Kopf und lief dann aus dem Raum. Suriu und Keva hasteten ihr nach.
"Bleibt hier! Wir kommen wieder!" rief Luti zu den Perlentauchern, bevor auch er davonsauste. In Yanatus Zimmer angekommen, schickte Nivesti alle Diener aus dem Raum und schloss die Türe hinter Suriu, Keva und Luti.
"Na gut, dann fangen wir an!" murmelte sie und zeigte mit dem Zauberstab auf Yanatu. "Hilf uns, Zeit!" rief sie, zwar in einer fremden Sprache, aber wegen Luti konnte jeder sie verstehen. Ihre linke Hand zeichnete einen grossen Kreis in die Luft. Nivesti holte tief Luft und fuhr fort: "Zeig uns, was vergangen ist!" Plötzlich wurde der Raum absolut dunkel. Nur der Kreis, den Nivesti in die Luft gezeichnet hatte, leuchtete schwach. "Wie starb Yanatu?" murmelte Nivesti. Dann zeigte der Kreis ein Bild.

Yanatu betrat ihr Zimmer und kramte nach einer Haarbürste.
"Was du tust ist sinnlos!" Yanatu wirbelte herum und erblickte eine schwarzhaarige Valekerin.
"Wer seid Ihr?" fragte sie.
"Man könnte sagen, dass mein Name Sita lautet!" sagte die Valekerin. Yanatu trat näher an Sita heran.
"Man könnte sagen?" fragte sie nach. Sita grinste.
"Das ist unwichtig!" sagte sie: "Wichtig ist, dass das, was du tust, sinnlos ist!"
"Was ist sinnlos?" fragte Yanatu. Sita hob ihre linke Hand und zeichnete einen kleinen Kreis in die Luft.
"Du bewachst das Amulett!" flüsterte sie, dann ballte sie ihre linke Hand zur Faust und der Kreis, den sie gerade gezeichnet hatte, begann zu leuchten. "Es ist sinnlos!" hauchte sie.
Der Kreis zischte auf Yanatu zu, die vergeblich versuchte, eine magische Blockade aufzubauen. Sita stampfte einmal fest auf und verschwand dann bis auf einen feinen, silbergrauen Nebel. Yanatus schwache Blockade hielt nicht mehr stand und der leuchtende Kreis traf sie in die Brust.
Sofort zerbrach das Amulett und ein junger Mann mit türkisgrünen Haaren tauchte aus dem Nichts aus. Jedoch brach er gleich zusammen. Der silbergraue Nebel senkte sich über ihm zu Boden und verschwand in ihm.
"Ich bin wieder da, Yanatu!" kicherte der junge Mann, als er sich aufgerappelt hatte. Er berührte das Amulett kurz, worauf es sich von selbst wieder zusammensetzte. "Braucht ja nicht jeder gleich zu wissen, was passiert ist!" sagte er, dann tippte er mit der Spitze seines linken Schuhs auf den Boden und verschwand.

Nivesti schluckte und fuhr mit ihrem Zauberstab durch das Bild, worauf es verschwand. "Oh nein!" hauchte sie: "Selcai ist zurück!"

Kapitel 2

Das Leben ging weiter, auch seit Keva wusste, dass Selcai zurückgekehrt war. Sita war und blieb verschwunden, weswegen Yanor auch überall verzweifelt nach ihr suchte, aber Keva sagte ihm nicht, was sie gesehen hatte. Niban wurde im Fischerfriedhof begraben. Seine Frau Tescha war vollkommen aufgelöst und hatte ihre ganze Zuversicht verloren, doch die Perlentaucher, besonders Zayadra, die ausser Keva die einzige Frau war, versprachen ihr, sie und ihre zweijährige Tochter Amia zu ernähren. Suriu, der als Soldat verkleidet mit Luti anwesend war, bat Keva, bei Yanatus Beerdigung dabeizusein und Keva willigte ein.
Die marcoovische Magierin Yanatu wurde eine Tagesreise von der Kaiserstadt entfernt bestattet. Keva und Suriu fuhren in einer alten Kutsche zum Magierfriedhof der Marcoova am Rand der Wüste Imarai. Nach den Bräuchen ihres Stammes wurde Yanatu zehn Tage nach ihrem Tod in dünne Strohmatten eingewickelt und den Sand eingegraben. Ihr Sohn Neivas goss einen grossen Krug Wasser auf ihr Grab, wartete, bis das Wasser verdunstet war, und streute dann eine Handvoll Sand in den Wind. Keva wartete schweigend, bis die Zeremonie beendet war, dann stieg sie wieder in die Kutsche und fuhr mit Suriu zurück in die Kaiserstadt. Sie sprachen wenig und nur Notwendiges.

Überhaupt trafen sie sich nach Yanatus Beerdigung nur sehr selten. Suriu stürzte sich verbissen in die Regierungsgeschäfte und richtete eine Hilfsorganisation für Witwen und Waisen ein. Er fühlte sich von Amias Schicksal als Halbwaise betroffen, war er doch selbst eine Waise.
Keva kümmerte sich auch fast nur mehr um ihre Arbeit und lernte in ihrer Freizeit fremde Sprachen, Geographie, Geschichte und auch etwas Magie. Den Stadtbewohnern brachte sie nicht mehr Aufmerksamkeit entgegen, als zum Überleben in der Stadt notwendig war. Zu sehr fürchtete sie, sie würde niemanden schützen können, wenn sie ihre Fähigkeiten nicht Tag und Nacht verbesserte. Nicht selten schlief sie über ihrem dunklen Holzschreibtisch in ihrer neuen Wohnung ein und träumte von der verhüllten Gestalt, die Niban getötet hatte, oder von Sita, wie sie Yanatu tötete, von den beiden Toten, die sie nicht hatte schützen können. Dann wachte sie jedes Mal noch in der Nacht mit brennend heissen Flossen auf und ging sofort zur Arbeit, um sich abzulenken.
Allerdings gab es auch fast ein halbes Jahr lang kein Zeichen von Selcai und auch Sita tauchte nicht wieder auf. Yanor bereiste gemeinsam mit Valis als Übersetzerin alle Länder der Insel Laharia, um Sita zu finden, doch vergeblich. Schliesslich kehrte er am Boden zerstört in die Kaiserstadt zurück und beschloss, sich mit dem Leben ohne Sita abzufinden.

Im Stadtviertel der Perlentaucher, Fischer und Seefahrer hatte es sich mittlerweile herumgesprochen, dass eine Santen in der Stadt lebte und es auch für Perlentaucherverhältnisse zu beachtlichem Wohlstand gebracht hatte. Und eines Tages wurde Keva überfallen. Sie war auf dem Weg in die Bibliothek, um Informationen über Kalarien zu suchen, als plötzlich ein mit einem Dolch bewaffneter Varisaländer mit grimmigem Gesicht vor ihr aus der dunklen Nacht auftauchte.
"Gib mir deine Knoten und ich lasse dich am Leben, Santen!" knurrte er. Keva starrte ihn einige Augenblicke lang verwirrt an, bis sie verstanden hatte, was der Varisaländer wollte.
"Ich brauche meine Knoten selber!" sagte sie mit fester Stimme. Sie hatte damit gerechnet, dass der Varisaländer ihr noch einmal drohen würde, aber er kam gleich zur Sache und stürmte auf sie los. Keva wich dem Dolch aus, zückte den Zauberstab und beschwor Wind. Der Varisaländer kämpfte gegen den aufkommenden Wind an und erwischte eine von Kevas rechten Armflossen. Der Wind wurde stärker, aber der Varisaländer liess nicht los. Keva spreizte die Flosse vorsichtig, um seinen Griff zu lockern, aber ein brennender Schmerz in der Flosse veranlasste sie, damit aufzuhören. Der Varisaländer prallte schreiend vom Wind geblasen an die nächste Hauswand. In seiner rechten Faust hielt er ein Stück von Kevas Flosse, in der linken hatte er den Dolch, von dem Kevas blaugrünes Blut tropfte. Keva blickte erschrocken auf ihre verstümmelte Flosse und rannte dann so schnell sie konnte nach Hause.
"Guten Abend, Keva!" wurde sie vom Hausbesitzer, Kúraen, einem älteren Herrn, begrüsst: "Habt Ihr gefunden, was Ihr gesucht habt?"
"Nein!" keuchte Keva ausser Atem: "Habt Ihr Verbandszeug?" Kúraen blickte Kevas Flosse kurz an und verschwand dann in seiner Wohnung. Etwas später kam er mit einer grossen, grünen Schachtel zurück. Er öffnete sie und gab Keva ein magisch versiegeltes Stoffsäckchen. Keva öffnete das Säckchen, faltete das feingewebte, weisse Tuch auseinander und wickelte ihre verletzte Flosse ein.
"Wird Eure Flosse wieder ganz heilen?" fragte Kúraen.
"In hundertfünfzig Tagen wird man nicht mehr merken, dass sie einmal verletzt war!" erklärte Keva, während sie zum Ausgleich eine der linken Flossen verschnürte, denn sonst würde sie ja immer im Kreis schwimmen.
"Schmerzt sie?" fragte Kúraen.
"Oh ja, das tut sie! Und wie!" murmelte Keva: "Aber schlimmer ist, dass jetzt einfach ein Stück fehlt!" Kúraen nickte und widmete sich wieder seinem Buch über die roten Felsen der Wüste Lorán. Keva beschloss, ihn nicht weiter zu stören und verabschiedete sich leise.

Am nächsten Morgen stand sie nach dem Albtraum eines geglückten Überfalls sehr früh auf, wollte aber noch nicht zum Lager der Perlentaucher gehen. Stattdessen marschierte sie zum Palast, um Suriu nach langer Zeit wieder zu besuchen. Als sie das Palasttor erreichte, sah sie sofort, dass ein absolut übermüdeter Kelis Wache hielt.
"Habt Ihr keine Zeit zum Schlafen, Kelis?" fragte Keva. Kelis verzog das Gesicht.
"Suriu hat mich um einen Gefallen gebeten!" erklärte er: "Ich soll Euch direkt zu ihm schicken, wenn Ihr vorbeikommt!"
"Deswegen komme ich ja eigentlich!" meinte Keva verwirrt.
"Er will unbedingt mit Euch sprechen!" sagte Kelis: "Es steht auch jemand im Perlentaucherlager!" Er öffnete das Tor und Keva trat ein. "Erinnert Suriu bitte daran, mich ablösen zu lassen! Er ist im Thronsaal!"
"Das werde ich!" meinte Keva, kurz bevor Kelis das Tor schloss. Sie marschierte durch den Garten und betrat den Thronsaal. Suriu sass schief im Thron und döste. Keva trat zu ihm. "Suriu?" sagte sie leise. Suriu schreckte auf.
"Ah, Keva! Endlich!" murmelte er. Er sah nicht gut aus. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und seine rotblonden Haare standen wirr in alle Richtungen.
"Was ist los?" fragte Keva besorgt. Suri stand auf und lief einmal im Kreis.
"Dantia ist gestern nachmittag hysterisch in die Universität gerannt und nicht wieder zurückgekommen!" erzählte er: "Einer der Magieprofessoren hat mich informiert, dass sie einen Engelstrank mitgenommen hat!"
"Engelstrank!" murmelte Keva: "Für Verwandlungen!" Sie rieb die verbundene Flosse und fragte dann: "Welcher Engelstrank?"
"Santen!" sagte Suriu leise.
"Ihr meint, dass sie in die Kristallstadt schwimmt?" fragte Keva. Suriu nickte.
"Bitte schwimmt ihr nach! Ihr seid die einzige, die das kann!" sagte Suriu: "Jeder andere müsste auch einen Engelstrank nehmen und schwimmen lernen!"
"Ich kümmere mich um Eure Schwester!" sagte Keva. Suriu lächelte dankbar und umarmte sie. Keva stand verdutzt da und rührte sich nicht. Als Suriu sie wieder losgelassen hatte, grinsten sie sich verlegen an. Schliesslich wandte sich Keva zur Türe.
"Es tut mir leid!" murmelte Suriu. Keva drehte sich zu ihm.
"Was tut Euch leid?" fragte sie.
"Als wir aus dem versunkenen Tempel zurückkehrten, habe ich Euch abgewiesen!" sagte Suriu. Keva dachte nach. "Ich habe Euch missverstanden!" erklärte Suriu: "Ich hätte erst denken sollen und erst dann reden!"
"Kümmern wir uns um die Gegenwart!" meinte Keva: "Sie bietet genug!" Suriu nickte. "Ich sollte gehen!" murmelte Keva.
"Ich werde die Ablösung für Kelis schicken!" sagte Suriu, dann öffnete er die Türe und Keva ging.
Keva lief nach Hause und packte die Dinge ein, die sie damals aus der Kristallstadt mitgenommen hatte. Sonst nahm sie nur noch den Zauberstab mit. Sie erklärte Kúraen, dass sie etwas erledigen musste, lief zum Ufer des Kevale und stieg ins Wasser, allerdings vermied sie es, einem der Perlentaucher zu begegnen.

Am Grund der Ivene war es so dunkel, dass das schwache Licht der Kristallstadt sehr weit zu sehen war. Keva schwamm auf das Schimmern am Horizont zu. Nach einer Weile bemerkte sie schon das hektische Treiben in der Kristallstadt, so wie sie es nicht kannte. Einige Santen bemerkten sie und schwammen zu ihr.
"Wer bist du?" fragte ein Santenkind: "Ich bin Licu!" Keva schwamm an ihm vorbei direkt auf den Thronsaal zu. Licu folgte ihr, konnte jedoch nicht aufholen. Sie war zu schnell für ihn. Keva glitt durch den ersten grossen Eingangsbogen und versteckte sich hinter einer Säule.
"Wer seid Ihr, Marcoova?" hörte sie ihre Mutter Svetia fragen.
"Unwichtig!" antwortete ein fremder Santen, den Keva nur von hinten sah. Sie vermutete, dass er einen Engelstrank genommen hatte und jetzt das Zeichen der Marcoova auf der Stirn trug. "Aber ich weiss, dass vor mir eine Valekerin angekommen ist!" fuhr der marcoovische Santen fort.
"Dantia ist also schon hier!" murmelte Keva.
"Dantia heisst die Frau, die vor ihm gekommen ist, aber sie hat Angst vor ihm, also verstecken wir sie vor ihm!" flüsterte Licu, der Keva jetzt erreicht hatte.
"Dantia!" brüllte der marcoovische Santen: "Ich weiss, dass du mich hörst! Komm her!"
"Dantia heisst die, die Ihr sucht!" meinte Kevas Vater Lato: "Vielleicht wissen die Seegrasbauern etwas!"
"Ihr lügt, König Lato!" zischte der Marcoova. Er streckte die Hand aus und deutete auf Lato. Kevas Atem stockte und sie holte schnell ihren Zauberstab aus der Tasche. "Jetzt sagt mir, wo Dantia ist!" knurrte der Marcoova. Lato wurde kalkweiss im Gesicht und zuckte herum. Keva zeigte mit dem Zauberstab auf ihren Vater.
"Silberner Kristall und blaue Perle, schützt meinen Vater!" murmelte sie. Lato leuchtete kurz silbrigblau auf und wurde dann ruhig und bekam wieder eine normale Farbe. Der Marcoova drehte sich um sich selbst und sah sich um. Einen Augenblick sah Keva in rote, kalte Augen.
"Selcai!" murmelte sie. Licu versteckte sich hinter der Säule und verhielt sich so leise wie möglich.
"Ich habe Euch gesehen, Magier und Spiegelwesen!" schrie Selcai: "Mir gefolgt zu sein, wird Euch zum Verderben!" Keva umklammerte den Zauberstab und verliess die Deckung.

"Ich glaube, ich habe gerade Euer drittes Opfer gerettet!" meinte sie kühl.
"Ihr wart am Ufer!" bemerkte Selcai. Keva nickte. "Es war klug von Euch, ins Wasser zu flüchten!" sagte Selcai: "Aber jetzt schützt Euch das Wasser nicht mehr! Ich bin jetzt auch ein Wasserwesen!"
"Ich kann mich selbst schützen und habe die Hilfe der Magier der Santen!" sagte Keva.
"Magier der Santen! Ha!" lachte Selcai: "Habt Ihr jemals einen richtigen Magier in Aktion gesehen?"
"Das habe ich!" knurrte Keva: "Und ich selbst habe auch einige Ahnung!"
Selcai verzog seinen Mund zu einem höhnischen Grinsen und zeigte dann mit dem Finger auf Keva. Von seinem Finger schlängelte sich eine rote Linie auf Keva zu.
"Halt! Nicht Keva!" schrie Svetia: "Wir sagen Euch, wo Dantia ist!" Selcai wandte sich ihr zu.
Keva riss ihren Zauberstab in die Höhe und schrie: "Erstarre in Eis, Santen!" Selcai erstarrte tatsächlich, aber die rote Linie schlängelte sich weiter auf Keva zu.
"Miga Lestu! Tut etwas!" schrie Svetia.
"Keva! Flieh!" rief Lato. Keva schwamm innen an der Kuppel des Thronsaales entlang zu Lestu.
"Gibt es einen Gegenzauber?" rief sie hastig.
"Es gibt einen!" murmelte Lestu, dann atmete er tief durch und schrie: "Kehre zurück, wir wollen dich hier nicht!" Er streckte seine Hand der roten Linie entgegen. Svetia und Lato starrten die Linie gebannt an, bis sie sich schliesslich auflöste.
"Keva!" rief Svetia: "Wo bist du nur gewesen! Wir haben uns Sorgen gemacht! Wir haben sogar deinen Bruder Naicor geschickt, dich zu suchen!"
"Es geht mir gut, Mutter!" sagte Keva: "Aber jetzt muss ich wieder fort!"
"Keva!" murmelte Lato bittend: "Dantia hat uns erzählt, dass dort oben ein Krieg droht! Hier bist du sicher!" Keva schüttelte den Kopf.
"Hier ist auch niemand mehr sicher!" seufzte sie: "Er hat Engelstrank zur Verwandlung in Santen!"
"Der Eiszauber ist ein sehr einfacher Zauber! Sogar der Gegenzauber ist leicht!" meinte Lato: "Und Dantia hat erzählt, dieser Marcoova wäre ein mächtiger Magier! Das passt nicht zusammen!"
"Vielleicht ist er einfach aus der Übung!" sagte Keva: "Er war ja schliesslich über zwanzig Jahre in ein Amulett verbannt!"
"Oder Ihr habt ihn überrascht, Prinzessin Keva!" bemerkte der Magier Lestu: "Er hatte nicht mehr die Zeit, den Gegenzauber auszusprechen!"
"Wir müssen etwas tun!" sagte Keva: "Sobald ich einschlafe, wird Selcai auftauen!"
"Wir flüchten an die Oberfläche!" bestimmte Lato: "Wenn wir uns mit den Landbewohnern verbünden, haben wir mehr Möglichkeiten!" Keva schüttelte den Kopf.
"Versteckt euch in der Steinstadt!" sagte sie: "Dort wird Selcai nicht hinfinden!" Lato nickte.
"Ist er weg?" tönte eine dünne Stimme von einem Eingangsbogen. Keva, Lato, Svetia und Lestu drehten sich um. Eine junge Santen mit dem Zeichen der Valeker auf der Stirn schwamm etwas unbeholfen in den Thronsaal.
"Weg nicht, aber Prinzessin Keva hat ihn vereist!" sagte Lestu.
"Dantia, Schwester des Kaisers!" sagte Keva.
"Ihr kennt mich?" fragte Dantia verblüfft.
"Euer Bruder macht sich Sorgen um Euch!" erklärte Keva: "Er hat mich gebeten, nach Euch zu suchen!"
"Ich habe ihm doch gesagt, dass ich mich verstecke!" murmelte Dantia. Keva bemerkte den grauenvollen Akzent, Dantia musste Sant in einer Augenblicksaktion notdürftig gelernt haben.
"Nein, Ihr habt nur aus dem magischen Institut der kaiserlichen Universität einen Engelstrank für Santen mitgenommen!" meinte Keva: "Suriu erzählte, dass Ihr hysterisch herumgerannt seid!"
"Suriu?" Dantia schmunzelte. "Das heisst doch Kaiser Suriu!" meinte sie. Keva zuckte die Schultern.
"Ich bin ja für ihn auch nur Keva!" sagte sie. Lestu schwamm einmal um den erstarrten Selcai herum.
"Was tun wir mit ihm?" fragte er dann.
"Versteckt euch in der Steinstadt und baut einen magischen Schild, dass er euch auch nicht mit Magie finden kann!" sagte Keva: "Ich schwimme mit Dantia zurück in die Kaiserstadt!"
"Prinzessin Keva!" murmelte Dantia: "Ich würde lieber bei den Santen bleiben!"
"Mir ist es recht!" meinte Keva: "Was Euer Bruder dazu meint, weiss ich nicht!"
"Ist es bei den Santen sicherer als in der Kaiserstadt?" fragte Dantia. Keva dachte nach.
"Suchzauber kann er nicht besonders gut!" murmelte sie: "Wenn ihr einen magischen Schild habt, seid ihr also sicher!" Svetia nickte und winkte Lestu, der in ein Blasinstrument aus Kristall blies. Kaum später drängten sich fünftausend Santen im eigentlich grossen Thronsaal und beäugten den eingefrorenen Selcai.
"Ruhe!" schrie Lato. Sofort verstummten alle Santen und sahen ihren König erwartungsvoll an. "Wir verlassen die Kristallstadt!" sagte Lato. Die Santen raunten. Svetia bedeutete ihnen, still zu sein. "Wir ziehen in die Steinstadt!" sagte Lato: "Folgt mir!" Er schwamm durch einen der grossen Bögen aus dem Thronsaal. Keva packte den gefrorenen Selcai und schwamm ihm hinterher.
"Vater, ich verabschiede mich!" sagte sie, dann wandte sie sich ihrer Mutter zu und küsste sie auf die Nase.
"Richtet meinem Bruder bitte aus, dass es mir gut geht!" flüsterte Dantia Keva zu. Keva nickte und schwamm dann in eine andere Richtung weiter. Sie hielt es nicht für klug, mit Selcai unterm Arm durch die Kaiserstadt zu spazieren, deshalb stellte sie ihn neben einem der versunkenen Tempel ab.

Vor ihrer Wohnung wurde Keva von Kelías erwartet. Sie begrüsste ihn mit einen freundlichen Lächeln.
"Ich habe mir Sorgen gemacht!" sagte Kelías leise: "Als du heute morgen nicht ins Lager gekommen bist, habe ich dich gesucht! Yoela hat mir erzählt, dass du gestern überfallen worden bist!"
"Das war halb so wild!" murmelte Keva, während sie umständlich am Schloss der Wohnungstüre herumhantierte. Dann zog sie Kelías am Ärmel in ihre Wohnung. "Allerdings sind andere Dinge geschehen!" sagte sie: "Schlimmere Dinge!"
"Was ist geschehen, Keva?" fragte Kelías.
"Die Schwester des Kaisers ist vor Selcai in die Kristallstadt geflohen! Er hat sie verfolgt!" sagte Keva.
"Ist ihr etwas geschehen?"
"Nein!" Keva schüttelte den Kopf. "Aber Selcai weiss jetzt, dass ich ein Spiegelwesen bin!" seufzte sie: "Er wollte meinen Vater töten und ich habe es mit der Macht des silbernen Kristalls und der blauen Perle verhindert, was ich eben kann, weil ich ein Spiegelwesen bin!" Sie verräumte hastig ihr Gepäck.
"Du hast sehr viel Magie gelernt!" bemerkte Kelías.
"Nein, leider nicht!" murmelte Keva: "Ich konnte mich selbst nicht retten! Ohne Lestus Schutzzauber wäre ich jetzt tot!"
"Weisst du, Keva, damals, als Selcai die Macht hatte, war ich einer seiner persönlichen Diener!" sagte Kelías. Keva blickte ihn an.
"Persönlicher Diener?" murmelte sie.
"Er hat mit mir Fechten geübt! Ich bin einige Male fast gestorben, aber er hat mich immer geheilt! Ich habe mir oft gewünscht, einfach sterben zu können!" Kelías lehnte sich schwer atmend an die Holzwand.
"Diesmal wird er die Macht nicht bekommen!" knurrte Keva. Sie knallte die Schublade zu, in der sie ihre königliche Kleidung aufbewahrte, und marschierte zur Türe.
"Wo willst du hin?" fragte Kelías.
"Zum Kaiser!" sagte Keva: "Ich muss ihm sagen, dass es seiner Schwester gut geht!"
"Sie ist noch nicht wieder im Kaiserpalast?" murmelte Kelías verdutzt.
"Sie hat beschlossen, bei den Santen zu bleiben!" sagte Keva. Sie zog Kelías wieder am Ärmel aus ihrer Wohnung und verschloss dann die Türe. Dann liess sie ihn einfach stehen und lief zum Palast.

"Was willst du im Palast?" fragte ein Soldat.
"Ich überbringe eine Nachricht für den Kaiser!" sagte Keva ausser Atem.
"Der Kaiser hat für heute alle Audienzen abgesagt!" schnauzte der Soldat.
"Hat Kelis Dienst?" fragte Keva barsch. Der Soldat verneinte. Keva rollte die Augen. "Melde wenigstens, dass ich da bin!" knurrte sie.
"Wie sprichst du mich an!" fuhr der Soldat auf.
"Alle Wesen sind gleich viel wert, nur manche müssen dringender zum Kaiser, als andere!" brummte Keva. Der Soldat sah sie grimmig an. "Ich habe keine Angst vor Soldaten mit einem übergrossen Ego!" meinte Keva grinsend. Dann zückte sie ihren Zauberstab und murmelte: "Erstarre in Stein, Valeker!" Sie trat durch das Tor und drehte sich um. "Jetzt kannst du dich wieder bewegen!" sagte sie. Der Soldat wirbelte herum und durchbohrte Keva mit seinen Blicken.
"Ich werde melden, was du getan hast, Hexe!" sagte er kalt, doch Keva schloss das Tor vor seiner Nase. Sie schüttelte verärgert den Kopf und marschierte zum Thronsaal. Suriu sass wieder auf dem Thron und döste. Keva berührte ihn an der Schulter.
"Dantia ist in Sicherheit!" sagte sie. Suriu blickte auf und lächelte. "Sie steht unter dem persönlichen Schutz meiner Eltern!" erklärte Keva: "Und die Santen verstecken sich in der Steinstadt, wo niemand sie finden kann! Auch Selcai nicht!"
"Selcai!" flüsterte Suriu.
"Er hat Dantia verfolgt!" sagte Keva: "Aber er hat sich von mir überrumpeln lassen!"
"Ihr habt ihn verzaubert?"
"Ich wollte mich ihm eigentlich nicht zeigen, aber nachdem ich mit der Macht des silbernen Kristalls und der blauen Perle meinen Vater vor dem Tod gerettet hatte, musste ich! Er wusste ja schon, dass ein Spiegelwesen in der Nähe war!" erzählte Keva: "Und dann wollte er mich töten, um meine Eltern zu zwingen, Dantia auszuliefern! Also habe ich ihn zu Eis erstarren lassen!"
"Er hat nicht gezaubert?"
"Doch, das hat er schon, aber Lestu, ein königlicher Magier der Santen, hat den Zauber aufgehoben, bevor er mich erreichen konnte!" sagte Keva. Suriu starrte den Boden an.
"Wo ist Selcai jetzt?" fragte er dann.
"Ich habe ihn neben dem versunkenen Tempel abgestellt!" erklärte Keva: "Und weil ich noch nicht eingeschlafen bin, steht er immer noch dort!" Suriu nickte. "Er hat bestätigt, dass er Niban getötet hat!" murmelte Keva dann.
"Konnte er nicht, da war er noch gefangen!" korrigierte Suriu. Keva sah ihn an.
"Sita?" murmelte sie.
"Nivesti sagt, der Nebel, den Sita zurückgelassen hat, könnte Selcais Seele gewesen sein!" erklärte Suriu: "Also hat sie Niban getötet, obwohl sie es nicht wollte! Genau wie sie Yanatu getötet hat!"
"Aber wie lange ist dann Selcais Seele schon frei?" fragte Keva: "War seine Seele vielleicht gar nie gefangen!"
"Yanatus Zauber war sicher!" meinte Suriu: "Selcai konnte weder seinen Körper noch seine Seele befreien! Irgendjemand muss ihm geholfen haben!"
"Sita!" murmelte Keva: "Wieso sollte sie sich sonst jetzt verstecken? Sie weiss, dass es wieder Spiegelwesen gibt, die ihre Verbindung zu Selcai spüren können!"
"Grübeln nützt nichts!" meldete sich Luti vom Kronleuchter: "Wendet euch der Gegenwart zu! Wenn ihr mehr wisst, könnt ihr weitergrübeln!" Keva blickte zu ihm.
"Valis und Yanor sind zurückgekehrt!" sagte sie: "Wollt Ihr sie nicht begrüssen?" Luti flog zu Keva und setzte sich auf ihren Kopf.
"Natürlich will ich die beiden begrüssen!" meinte er: "Aber ich will euch beide nicht mit eurer Grübelei alleine lassen!"
"Luti, flieg bitte zu Nivesti und sag ihr, dass Selcai neben dem versunkenen Tempel steht! Sie soll sich etwas überlegen, wie sie ihn fangen kann!" bestimmte Suriu. Luti stand auf und flatterte mit den Flügeln.
"Wenn ihr das Grübeln Nivesti überlasst, könnt ihr euch ja anderen Dingen widmen! Die Bilanz der letzten zehn Tage ist noch nicht fertig!" sagte er, dann flog er durch eine kleine Klappe ganz oben in einem der riesigen Fenster.
"Nivesti kann besser grübeln als wir!" meinte Keva grinsend: "Sie kennt sich ja mit Magie aus!" Suriu lächelte matt.
"Wisst Ihr, Keva, ich habe nicht mehr geschlafen, seit Dantia fortgegangen ist!" sagte er: "Ich sollte es nachholen!" Keva nickte. Plötzlich tauchte Nivesti mitten im Thronsaal auf.
"Selcai als Santen?" rief sie: "Wie konnte er ins magische Institut eindringen und Engelstrank stehlen?" Keva schreckte auf.
"Er hat Dantia verfolgt, vielleicht hat er ihr einen Teil ihres Trankes genommen!" vermutete Suriu.
"Ein Trank reicht nur für eine Person!" fuhr Nivesti auf: "Er muss einen eigenen Trank gehabt haben!"
"Für einen Engelstrank zur Verwandlung in Santen braucht man Santenblut!" murmelte Keva. Sie streckte Nivesti ihre verletzte Flosse entgegen.
"Er hat Euer Blut genommen!" murmelte Nivesti: "Wieso habt Ihr das nicht früher gesagt?"
"Ich dachte, es wäre ein ganz normaler Überfall!" meinte Keva: "Ein Varisaländer hat mich bedroht und meine Knoten verlangt!" Sie seufzte. "Aber wenn ich recht darüber nachdenke, war er richtig wild darauf, mich anzugreifen!"
"Selcai kann nicht ins magische Institut eindringen, sonst hätte er es getan!" sagte Nivesti: "Dann bin ich wieder beruhigt! Tut mir leid, dass ich so hereingeplatzt bin!" Sie tippte mit der Schuhspitze auf den Boden und verschwand.

"Sie ist beruhigt, weil ich überfallen worden bin!" brummte Keva.
"Nehmt es ihr nicht übel!" meinte Suriu: "Sie denkt eben viel weiter als wir!" Keva kicherte.
"Deswegen kann sie auch so gut grübeln!" sagte sie.
"Wie seid Ihr eigentlich hereingekommen?" fragte Suriu: "Weder Kelis noch Ligon haben Dienst!"
"Ich war eine schlimme Prinzessin und habe die Wache einfach kurz erstarren lassen!" meinte Keva leise und senkte die Augenlider.
"Nur sehr mächtige Magier kommen ohne Erlaubnis durch den Palastschutzschild!" murmelte Suriu überrascht: "Dass Ihr es geschafft habt, ohne den Schild zu bemerken! Seltsam!"
"Aber ich hatte doch die Erlaubnis!" erklärte Keva: "Nicht von der Wache, aber von Euch! Ihr habt mich gebeten, Euch zu berichten, wie es Eurer Schwester geht! Nun, Ihr seid eben die meiste Zeit im Palast!"
"Hm, natürlich, wenn man es so sieht!" grübelte Suriu: "Dann ist es natürlich klar!" Er streckte seine rechte Hand nach Kevas verletzter Flosse aus. "Habt Ihr Schmerzen?" fragte er. Keva schüttelte den Kopf. Suriu berührte die Flosse mit seiner linken Hand. "Ich möchte auch einmal so schwimmen können wie Ihr!" sagte er: "Vielleicht einmal, um meiner Schwester mitzuteilen, dass Selcai wieder verschwunden ist!" Keva lächelte.
"Ich werde mein Bestes tun!" sagte sie. Suriu blickte in ihre Augen.
"Das werden wir alle!" sagte er. Keva nickte.
"Jetzt, da Ihr wisst, dass es Eurer Schwester gut geht, solltet Ihr Euch ausschlafen!" sagte sie: "Ihr seht unglaublich müde aus!"
"Ich könnte jetzt kein Auge zutun!" seufzte Suriu: "Ich werde mich eher der Bilanz widmen!"
"Soll ich Euch helfen?" fragte Keva. Suriu nickte dankbar. Dann stand er auf und marschierte einige Male um Keva herum, um seine Füsse wieder ans Laufen zu gewöhnen.
"Kommt mit zum Sitzungszimmer, Prinzessin Keva!" meinte er. Er führte Keva über die geschwungene Treppe und durch den Korridor in den Raum, in dem Keva ihren Bürgerantrag gestellt hatte. Lanem sass gebeugt über den Unmengen von Papier und schrieb eine lange Tabelle. Er bemerkte nicht, dass Suriu und Keva eintraten.
"Onkel Lanem!" sagte Suriu vorsichtig.
"Ich grüsse dich, Drückeberger!" knurrte Lanem.
"Du kannst dich bestimmt an Prinzessin Keva aus der Kristallstadt erinnern!" meinte Suriu.
"Natürlich!" brummte Lanem: "Alle reden davon, dass sie deine Schwester suchen muss! Aber ich finde, Dantia hat gut daran getan, in die Ivene zu flüchten! Dort ist sie sicher!"
"Sie war es nicht!" sagte Keva: "Selcai ist ihr gefolgt!" Lanem hob den Kopf und sah zu Keva.
"Hat er ihr etwas getan?" fragte er.
"Ihr ist nichts geschehen! Sie und die Santen sind in ein uraltes Kriegsversteck geflohen!" erklärte Keva: "Die Steinstadt konnte nicht einmal von Nago eingenommen werden!"
"Nago?" fragte Suriu.
"Hm, mächtiger, böser Santenmagier!" meinte Keva: "Er versuchte vor etwa 1000 Jahren, die beiden Santenreiche Ivenaya und Santo unter sich zu vereinen!"
"Äquivalent zu Selcai!" brummte Lanem.
"Nein, ganz so würde ich das nicht sagen!" bemerkte Keva: "Nago hat am Anfang die Leute mit viel Charme um die Flossen gewickelt!"
"Um den Finger!" korrigierte Suriu.
"Erst als die beiden Könige Dargis und Mitred seine Bewegung verboten hatten, wurde er wirklich gewalttätig!" erzählte Keva: "Die Könige und die ihnen treuen Santen flüchteten in die Steinstadt! Nago verlor seine Anhänger, sie flüchteten vor ihm an die Oberfläche! Am Schluss stand er allein da. Nebrim, der oberste königliche Magier von Santo hat ihn dann getötet!" Sie rieb die verletzte Flosse. "Man erzählt sich, dass er einen verbotenen Zauber benutzt hat und deshalb nicht wieder zu den Santen zurückgekehrt ist! Er war der letzte Santen vor mir, der an die Oberfläche gekommen ist!"
"Sehr interessant!" sagte Lanem: "Aber die Bilanz ist wichtiger!"
Suriu setzte sich ihm gegenüber und begann eine neue Liste. Keva sah ihm über die Schulter und fragte ihn über die Bilanz aus. Dann setzte sie sich ebenfalls und bearbeitete auch einen Stapel Papier. Plötzlich tauchte mitten im Raum eine sehr schmutzige Santen auf.
"Er ist nicht mehr dort!" schrie sie.
"Was? Wie? Wer seid Ihr?" fuhr Suriu auf. Die Santen rieb den Schlamm von ihrer Stirn und deutete auf das Zeichen der Schmetterlingsfeen.
"Ich bin Nivesti!" rief sie: "Selcai steht nicht mehr neben dem Tempel!"
"Aber ich habe nicht geschlafen!" protestierte Keva.
"Er ist nicht mehr dort!" sagte Nivesti: "Vielleicht seid Ihr eingenickt, vielleicht hat ihn auch jemand geholt!" Sie trat zu Keva und nahm deren Zauberstab in ihre linke Hand. Sie schwang ihn kurz durch die Luft und war sauber.
"Gibt es eine Möglichkeit herauszufinden, ob er noch gefroren ist?" fragte Keva. Nivesti gab ihr den Zauberstab zurück und schüttelte den Kopf.
"Wir könnten nur nach ihm suchen und schauen, ob er kalt ist!" brummte sie. Keva seufzte.
"Wird er versuchen, Dantia zu finden?" fragte Suriu.
"Ich sagte doch, nicht einmal Nago konnte die Steinstadt einnehmen!" meinte Keva: "Ausserdem wird Selcai die Steinstadt nicht einmal finden! Und vermutlich weiss er auch gar nicht, dass sie existiert!"
"Wisst Ihr, wo sie ist?" fragte Nivesti. Keva nickte.
"Die königliche Familie weiss es, aber sonst niemand!" sagte sie: "Selcai wird nicht hinfinden!"
"Dann sind wir ja jetzt alle beruhigt!" murmelte Nivesti: "Ich trinke jetzt einen Engelstrank! Eine Santen zu sein fühlt sich doch seltsam an!" Keva grinste.
"Ich bin sicher, Ihr könnt Euch an die Flossen nur schwer gewöhnen!" sagte sie. Nivesti nickte und verschwand. "Ich könnte mich ja auch nur schwer daran gewöhnen, als Landbewohnerin keine Flossen zu haben!"
"Nivesti musste sich auch daran gewöhnen, als Valekerin keine Flügel zu haben!" sagte Suriu. Keva lächelte und wandte sich wieder ihrem Stapel Papier zu.

Mit der Zeit ersetzte Keva Yanatu völlig, auch wenn sie immer noch vormittags nach Perlen tauchte. Suriu ernannte sie sogar offiziell zu seiner Beraterin. Luti und Nivesti verstanden sich prächtig mit ihr und auch Lanem hatte sie akzeptiert.
Suriu und Keva assen etwa jeden zweiten Tag in Viauras Wirtshaus und kamen sich auch recht nahe, auch wenn sie die meiste Zeit über Selcai nachdachten. Sehr oft trafen sie die Perlentaucherin Zayadra, die, wie sich herausstellte, Viauras Tochter war. An einem leicht bewölkten und für die Jahreszeit angenehm kühlen Tag sassen sie vor der schiefen Hütte und überlegten.
"Wo ist er jetzt?" grübelte Suriu, während er die Nudeln auf seinen Löffel schob: "Was hat er vor?"
"Er wird wohl seinen Stamm aufrüsten lassen!" murmelte Keva: "Von den Neltane ist schon lange keine Nachricht mehr gekommen!" Suriu nickte.
"Aber selbst wenn die valekische Armee das erreicht, was ich als Ziel angegeben habe, können wir ihn dann besiegen?" fragte er.
"Seinen Stamm, ja! Aber ihn?" Keva seufzte und trank einige Schlucke Wasser.
"Es gibt schon fast 400 Palastmagier!" murmelte Suriu: "Und die magischen Institute hier und in Kelkuri bilden auch schon fünf mal soviele Magier aus wie früher!"
"Nehmt an, Ihr könnt ihn mit Magiern erwarten! Ihr habt gesagt, er hätte damals über 30 gute Magier auf einmal getötet, ohne dass man ihm irgendeine Anstrengung ansehen konnte! Wieviele Magier wird er töten, nur um dann zu verschwinden, sich auszuruhen und nach ein paar Tagen gleich wieder zu kommen? Oder er erstarrt sie zu Stein und lässt sie von seinen Kämpfern töten, wenn sie sich nicht wehren können!"
"Die Magier dürfen sich ihm eben nicht zeigen!" meinte Suriu: "Er darf nicht bemerken, dass sie da sind!" Er widmete sich wieder seinen Nudeln. Keva stützte den Kopf auf ihre rechte Hand. "Die Palastmagier suchen alle Bücher durch, um irgendetwas zu finden, das Selcai nicht abwehren kann, aber bis jetzt trauen sie ihm jeden Abwehrzauber zu!" seufzte Suriu. Keva nickte.
"Irgendetwas muss es geben!" murmelte sie dann: "Niemand ist allmächtig!"
"Nur ob Selcai nicht trotzdem mächtiger ist als wir?" flüsterte Suriu. Er schob den Rest seiner Mahlzeit in seinem Teller zusammen und fuhr sich durch die Haare
"Macht Euch keine Sorgen!" sagte Keva: "Er wurde schon einmal besiegt! Wir können ihn wieder besiegen!" Sie nahm einen Schluck Wasser und seufzte. "Wasser!" murmelte sie dann. Sie blickte auf. "Das Buch der Wasser!" sagte sie: "Es gibt nur zwei Exemplare! Eines ist im magischen Institut der Universität Tuibe und das andere habe ich!" Suriu winkte Viaura und bezahlte das Essen. Dann standen er und Keva auf und eilten durch die Gassen des Händlerviertels und des Viertels der Fischer und Seefahrer, bis sie in Kevas Wohnung ankamen.
"Ihr wohnt hier sehr schön!" murmelte Suriu. Er betrat nach ihr den kleinen Vorraum, in dem nur ein Kleiderständer, ein halbhoher Schrank mit Schubladen und hinter der Türe zwei Besen standen. Keva schloss die Türe ab, legte ihren Beutel mit Knoten in die zweite Schublade und schob dann einen blauen Vorhang vor einem Bogendurchgang zur Seite. "Schade, dass ich hier noch nie war!" murmelte Suriu: "Es ist perfekt!" Keva lachte leise. Dann nahm sie ein dickes, graues Buch aus einem der beiden Bücherregale und legte es auf den Tisch.
"Mal sehen, ob wir etwas finden!" murmelte sie. Suriu beugte sich über ihre Schulter.
"Das ist Sant!" murmelte er dann überrascht: "Wieso ist ein Buch in Sant geschrieben?"
"Ich weiss es nicht! Bücher lösen sich im Wasser ja auf!" meinte Keva und blätterte um. "Da, das könnte etwas ... nein, das betrifft nur Santen!"
"Da, rechts unten ..." murmelte Suriu: "Wasser wegnehmen!"
"Verschwindet, denn ich nehme Euch das Wasser, das Ihr zum Leben braucht!" las Keva vor. Sie kratzte sich an der Nase und dachte nach. "Das könnte funktionieren!" murmelte sie dann: "Allerdings glaube ich, der Zauber wäre viel mächtiger, wenn man ihn in Sant sprechen würde!" Sie wiederholte den Satz in Sant.
"Es funktioniert!" meinte Suriu: "Ich habe Durst bekommen!"
"Ich sollte die Zaubersprüche wohl nicht vorlesen!" murmelte Keva, während sie die Sant-Buchstaben auf ein quadratisches Blatt Papier schrieb. "In der Küche habe ich fliessendes Wasser!" sagte sie dann und deutete auf einen weiteren blauen Vorhang. Suriu schob ihn zur Seite und füllte sich ein Glas mit Wasser.
"Wie konntet Ihr so schnell so gut Valekisch lernen?" fragte er dann: "Und dabei Sant nicht vergessen!" Keva lächelte.
"Valis war eine gute Lehrerin!" meinte sie: "Ich lernte sehr gut Valekisch, aber meine Muttersprache kann ich nie vergessen!" Suriu trank das Glas Wasser leer und stellte es ab.
"Ich vermisse die Welt, wie sie vorher war!" sagte er: "Aber wenn die Welt wieder so wäre, wie sie war, würde ich die Welt vermissen, wie sie jetzt ist!"
"Das ist eine eigenartige Erkentnis!"
"Ich kannte so viele, die er getötet hat, aber ich würde nicht wollen, Euch nicht mehr zu kennen, Prinzessin Keva!" Er fasste mit seiner rechten ihre linke Hand. Keva sah ihn schweigend an. "Ihr bedeutet mir mehr als alle, die ich kannte!" sagte Suriu. Er nahm Keva die Feder aus der Hand. "Ich liebe Euch, Keva!" Er schloss kurz die Augen und berührte Keva dann mit seiner linken Hand an der Wange.
"Ich bin überrascht!" flüsterte Keva: "Es fällt mir schwer, zu glauben, was ich gehört habe!" Suriu liess mit seiner rechten ihre Hand los und berührte ihre andere Wange.
"Glaubt es, Keva!" hauchte er, dann berührte er mit seinen Lippen die ihrigen. Keva spreizte ihre Flossen ausser der verletzten und legte ihre Arme um seine Taille. Suriu berührte sanft ihren Nacken und drückte sie an sich.
"Suriu!" murmelte Keva.
"Ja?" flüsterte Suriu.
"Die Palasttore werden geschlossen!" sagte Keva: "Es ist spät!" Suriu nickte, liess sie aber nicht los.
"Stört es dich, wenn ich bleibe?" fragte er leise. Keva lachte.
"Ich fürchte, ich kann keinen kaiserlichen Komfort bieten!" meinte sie: "Den bekommst du nur im Palast!"
"Ich bin mit königlichem Komfort schon mehr als zufrieden, Prinzessin Keva!" erklärte Suriu.
"Königlicher Komfort der Santen ist aber viel bescheidener als an Land!" sagte Keva grinsend: "Aber wenn du willst, kannst du bleiben!" Sie lehnte ihren Kopf an Surius Schulter. "Und vielleicht will ich das ja auch!" flüsterte sie. Suriu streichelte zärtlich ihren Rücken. "Wir sollten schlafen gehen!" sagte Keva dann und löste sich von ihm. Sie verräumte das Buch und trat dann durch einen weiteren von einem Vorhang verdeckten Bogendurchgang.
"Keva, wo soll ich schlafen?" fragte Suriu. Keva streckte ihren Kopf wieder durch den Bogendurchgang und blickte ihn verwirrt an.
"Schlafen Valeker nicht normalerweise in einem Bett? Santen tun das!"
"Schon, aber ich möchte dir den Platz nicht nehmen!" erklärte Suriu.
"Genug Platz da!" meinte Keva: "In mein Bett würden drei oder vier Leute passen!" Suriu nickte und trat zögernd ein paar Schritte auf sie zu. Keva lächelte ihn an. "Es ist auch sehr bequem!" sagte sie. Dann nahm sie eine der beiden Waschschüsseln und trat in die Küche, um sie mit Wasser zu füllen. Als sie zurückkam hatte Suriu das Kettenhemd und die Schuhe abgelegt. Keva wusch ihre Füsse und schüttete das Wasser dann in ein Rohr mit Deckel, das in der Ecke hinter dem Schrank verborgen war.
"Gibt es hier eine Wasserreinigung?" fragte Suriu interessiert.
"Erst seit ich die entsprechenden Zauber dafür kann!" erklärte Keva: "Davor sind jeden Monat zwei Magier gekommen und haben den Wassertank mitgenommen! Hat recht viel gekostet!"
"Magier zu sein spart Knoten!" meinte Suriu.
"Es ist aber auch anstrengend, das alles zu lernen!" Keva grinste, packte die Bettdecke an zwei Enden und schüttelte sie durch. Dann liess sie sich aufs Bett fallen und sah Suriu an. "Im stehen kannst du nicht schlafen!" erklärte sie.
"Keine Nachtkleidung?" murmelte Suriu.
"Die Kleidung der Santen wird ständig gewaschen! Und meine auch, ich bin ja Perlentaucherin!" sagte Keva grinsend. Suriu legte sich neben sie.
"Dann muss ich eben morgen tauchen gehen!" meinte er. Keva lächelte. "Na dann, gute Nacht!" sagte Suriu. Er zupfte die Decke zurecht und legte den Kopf auf seinen Ellbogen.
"Gute Nacht!" murmelte Keva. Sie schloss die Augen und schlief beinahe sofort ein.

Als sie aufwachte, war es mitten in der Nacht. Der Kristallsplitter, den sie aus der Kristallstadt mitgenommen hatte, schimmerte etwas, dass sie ihre Umgebung schemenhaft erkennen konnte. Sie und Suriu waren im Schlaf näher zusammengerückt, er hatte sogar einen Arm um sie gelegt. Dabei lag seine Hand leider auf Kevas verletzter Flosse, die nun fürchterlich schmerzte. Keva zog sie vorsichtig unter seiner Hand hervor und schmiegte sich an ihn.
Doch der pochende Schmerz in der Flosse blieb und hielt sie wach. Sie murmelte einige einfache Heilungszauber vor sich hin, hatte aber keinen Erfolg, denn ohne Zauberstab war sie kaum fähig, irgendetwas zu zaubern. Schliesslich schloss sie wieder die Augen und versuchte, sich vom Schmerz abzulenken. Und irgendwann schlief sie dann tatsächlich wieder ein.

"Keva!" murmelte Suriu. Keva öffnete die Augen und lächelte.
"Guten Morgen!" murmelte sie: "Gut geschlafen?" Suriu nickte und zog verwirrt seine Hand, die um Kevas Taille lag, zurück. "Es wird wohl richtig gewesen sein!" sagte Keva. Suriu stützte den Kopf auf die Hand und sah sie an. "Gestern hast du mich geküsst, heute umarmst du mich nicht?"
"So gesehen ..." murmelte Suriu: "Ich bin nur verwirrt!" Keva setzte sich auf und zupfte ihr Kleid zurecht.
"Du bist ja Frühaufsteher!" meinte sie dann.
"Ich weiss nicht, wie spät ist es denn?"
"Das weiss ich nicht!" erklärte Keva: "Aber ich habe den Kristall verzaubert, dass er hell leuchtet, wenn ich aufstehen muss!" Kaum einen Augenblick später ging vom Kristall ein gleissendes Licht aus. "Genau so!" meinte Keva und lief zum Kristall. Sie nahm ihn in die Hand, worauf das Licht verschwand. Übrig blieb nur ein schwaches Leuchten.
"Also gehst du jetzt tauchen?" fragte Suriu. Keva legte den Kristall wieder auf den Tisch und sah ihn an.
"Ich könnte auch einen freien Tag einlegen!" erklärte sie.
"Wieso arbeitest du eigentlich noch als Perlentaucherin?" fragte Suriu: "Als meine Beraterin könntest du im Palast wohnen!" Keva grinste.
"Du bist ja auch Soldat!" sagte sie. Suriu kratzte sich am Ohr.
"Das stimmt!" murmelte er: "Ich habe das alles gelernt! Ich bin sogar Offizier, nämlich Wachtruppenführer!" Keva grinste noch breiter.
"Und warum bleibst du nicht im Palast?"
"Langeweile?" Suriu seufzte. "Damit habe ich meine Frage selbst beantwortet!" Er schnallte sich das Kettenhemd um und nahm seine Schuhe vom Boden auf.
"Wir müssen noch nicht gleich los!" meinte Keva: "Frühstücken geht sich noch aus!" Sie schob den Vorhang zur Seite und verliess den Schlafraum. Suriu folgte ihr. Keva stellte Brot, zwei Teller und eine Schüssel Marmelade auf den Tisch und setzte sich. Suriu setzte sich ihr gegenüber und griff zu.
"In deiner Nähe fühle ich mich normal!" sagte er: "Die Verantwortung lastet nicht so schwer auf mir!"
"Ich glaube nicht, dass es viele gibt, für die Selcai ein Vorteil wäre!" meinte Keva: "Die Verantwortung, Selcai nicht herrschen zu lassen, liegt bei allen!" Suriu nickte kauend. "Aber wir müssen versuchen, ihn schon am Anfang zu besiegen!" murmelte Keva. Sie biss von einem Brot ab und stützte den Kopf auf die Hände.
"Wir werden sehen, ob die Palastmagier noch etwas gefunden haben!"
"Die Palastmagier können ja auch das Buch der Wasser durchschauen!" meinte Keva: "Sie kennen sich mit Zaubersprüchen besser aus als wir!" Suriu schluckte und stand auf. Keva deckte Brot und Marmelade mit einem Tuch zu und stand ebenfalls auf.
"Informierst du zuerst die Perlentaucher, dass du heute frei nimmst?" fragte Suriu. Keva nickte. Sie befestigte ihren Knotenbeutel zwischen ihren linken Armflossen und hängte sich die Tasche mit dem Buch der Wasser um die Schulter, während Suriu seine Schuhe anzog. Dann verliessen sie Kevas Wohnung.

Keva und Suriu gingen zuerst ins Lager der Perlentaucher und informierten Koré, dass Keva sich freinahm. Koré grinste die beiden breit an und nickte. Dann machten Suriu und Keva sich auf den Weg in den Palast, doch auf halbem Weg kam ihnen Nivesti, mittlerweile wieder eine Valekerin, entgegen.
"Wir waren in Sorge!" erklärte Nivesti: "Wir haben in der ganzen Stadt gesucht!"
"Jedoch nicht in Kevas Wohnung!" sagte Suriu. Nivesti seufzte. Dann berührte sie Keva und Suriu am Arm und teleportierte sie und sich ins Sitzungszimmer. Lanem war nicht da. Keva packte das Buch der Wasser aus und gab es Nivesti.
"Ich kann kein Sant lesen!" seufzte Nivesti.
"Es ist ein Zauberbuch!" erklärte Keva: "Und es gibt nur zwei Exemplare! Selcai kennt also die Zauber da drin vermutlich nicht!" Nivesti nickte.
"Hoffentlich finden wir noch etwas in der kurzen Zeit!" meinte sie.
"In der kurzen Zeit?" fragte Suriu.
"Ja, in der kurzen Zeit!" rief Lanem von der Türe: "Was denkst du dir dabei? Die Neltane haben den Schagon den Krieg erklärt und du bist nicht erreichbar!" Suriu seufzte. Nivesti teleportierte sich mit dem Buch weg.
"Na gut!" meinte Suriu: "Was können wir tun?"
"Aufrüsten, Suriu!" sagte Lanem: "Das, was du die letzte Zeit auch getan hast!" Suriu nickte und verliess das Sitzungszimmer. Keva folgte ihm.
"Du solltest den Palast nicht verlassen!" sagte Suriu: "Wenn Selcai dich erwischt ..." Keva nickte.
"Ich bleibe!" sagte sie.
"Ausserdem habe ich dich so in meiner Nähe!" flüsterte Suriu. Keva lächelte. Suriu legte einen Arm um sie und führte sie einen Stock höher in sein kaiserliches Gemach. Keva sah sich beeindruckt um. Suriu verschwand in einem Nebenraum und kam umgezogen wieder zurück. Er trug wieder eine schwarze Hose, ein rotes Hemd und den weissglänzenden Umhang, der mit goldenen Schnallen an seinen Schultern befestigt war. Keva marschierte auf den Balkon und blickte über die Stadt. "Kaum ein Gebäude in der Stadt ist höher als dieser Balkon!" sagte Suriu und trat neben Keva: "Nur die Universität und die vier Wachtürme!"
"Es ist immer so, dass Könige und Kaiser alles überblicken!" murmelte Keva: "Die Kuppel des Thronsaals der Santen ist auch der höchste Raum der Kristallstadt!"
"Was uns alles nicht stört, die Aussicht zu geniessen!" meinte Suriu: "Habe ich recht?"
"Du hast recht!" sagte Keva: "Wir geniessen die Aussicht!" Sie legte ihre Arme um Suriu und lehnte den Kopf an seine Schulter. Suriu drückte sie zärtlich an sich.
"Schön, dass du bei mir bist!" flüsterte er. Keva schloss die Augen und machte es sich in seinen Armen bequem. Suriu strich ihr über den Kopf und den Rücken und sagte leise: "Was auch immer geschieht, ich werde dich immer lieben!" Keva umarmte ihn noch fester und küsste ihn auf die Wange.
"Ich liebe dich, Suriu!" sagte sie dann. Suriu sah in ihre Augen und liess sie los. Keva sah ihn verwirrt an.
"Warte hier!" sagte Suriu, dann lief er in sein Gemach. Keva kratzte sich verwundert am Kinn. Wenig später kam Suriu zurück, in der Hand hielt er ein silbernes Diadem. "Willst du meine Kaiserin sein?" fragte er. Keva war sprachlos. Suriu hielt das Diadem knapp über ihrem Kopf und sah in ihre Augen. Keva wandte den Blick ab.
"Du stellst mir eine Frage, die ich noch nicht beantworten kann!" murmelte sie: "Ich weiss, was ich jetzt denke, aber ich weiss nicht, was ich morgen denken werde!" Suriu legte das Diadem auf einen niedrigen Tisch und fasste Keva an beiden Schultern.
"Du entscheidest!" sagte er: "Ich habe schon entschieden!" Keva nickte kaum merklich.
"Ich werde mich entscheiden!" sagte sie: "Morgen wirst du es wissen!" Dann schob sie seine Hände von ihren Schultern und verliess den Balkon.

Den Tag verbrachte sie mit Lanem im Sitzungszimmer. Sie schrieb endlose Tabellen und sortierte Berichte und Inventurlisten. Ab und zu kam Suriu vorbei und brachte einen neuen Stapel Papier, aber er sagte nie ein Wort.
Als Suriu wieder einmal gerade gegangen war, ergriff Keva das Wort. "Lanem!" sagte sie: "Ist es wahr, dass Suriu Yanatu geliebt hat?" Lanem sah sie verblüfft an.
"Ja, das ist wahr!" sagte er: "Aber sie musste das Amulett bewachen!" Keva nickte und las wieder einen Satz in einem Bericht.
"Lanem?" murmelte sie dann: "Hat er jemals eine andere als Yanatu geliebt?" Lanem schüttelte den Kopf.
"Sie war seine Heldin! Da war kein Platz für eine andere!" Keva wandte sich wieder dem Bericht zu, aber sie kam wieder nicht weit.
"Hat sie ihn denn geliebt?" fragte sie. Lanem seufzte.
"Das weiss ich nicht!" murmelte er: "Wenn sie ihn geliebt hat, hat sie es gut versteckt! Aber sie konnte jeden täuschen, wenn sie wollte!" Er stellte energisch einen Stapel Papier zur Seite und sah Keva an. "Was ist mit Euch los?" fragte er: "Seit heute morgen sitzt Ihr hier und arbeitet an der Bilanz! Ihr habt nicht zu Mittag gegessen und Ihr habt nicht zu Abend gegessen! Auch jetzt sitzt Ihr noch hier, wo die meisten schon im Bett liegen!" Keva seufzte leise.
"Ich denke nach!" meinte sie: "Ich denke und ich denke und ich komme zu keinem Ergebnis!"
"Vielleicht solltet Ihr Euch mit Eurem Problem beschäftigen und nicht mit Papier!" sagte Lanem: "Geht in den Garten! Seht den Mond an!" Keva nickte und stand auf.
"Ich danke Euch, Lanem!" sagte sie, dann verliess sie das Sitzungszimmer und lief in den Garten. Sie lehnte sich an einen dicken Baumstamm und blickte in den Himmel. Der zunehmende Mond schien hell. Vor dem Mond zog ein dünner Wolkenfetzen vorbei, der ihm den Anschein gab, in zwei Teile zerbrochen zu sein. "Wie soll ich das verstehen?" murmelte Keva: "Sind Suriu und ich eine zerbrochene Einheit, die zusammengehört, oder sollten wir getrennt bleiben?" Wolken und Mond blieben, wie sie waren. "Wer will aus dem Himmel die Zukunft lesen!" seufzte Keva: "Es funktioniert nicht!" Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie Suriu sie umarmte. Es fühlte sich real an, auch wenn sie wusste, dass er nicht bei ihr war. Als sie die Augen wieder öffnete, vermisste sie ihn. Sie blickte noch einmal kurz zum Mond und lief dann wieder in den Palast. Die beiden Stockwerke flog sie beinahe nach oben, dann betrat sie Surius Gemach. Sie marschierte links in sein Schlafgemach und ging langsam zum Bett. Suriu war wach. Er setzte sich auf und sah sie an.
"Keva?" murmelte er. Keva setzte sich auf die Bettkante.
"Ich sagte, morgen wüsstest du es!" sagte sie: "Ist es schlimm, wenn du es jetzt schon erfährst?" Dann lehnte sie sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Lippen. Suriu legte eine Hand um ihre Taille und zog sie zu sich. Dann berührte er mit der anderen Hand ihre Wange.
"Danke!" flüsterte er. Keva schlang ihre Arme um ihn und schmiegte sich an ihn. Suriu streichelte sanft ihren Rücken und löste den Knoten an ihrem Nacken, der ihr Kleid hielt. Keva schlüpfte zu ihm unter die Decke und begann, sein Hemd aufzuknöpfen. "Keva!" murmelte Suriu. Keva sah ihn an. "Du bist schön!" flüsterte Suriu. Keva legte ihm einen Finger auf die Lippen.
"Sprich nicht! Ich verstehe dich!" flüsterte sie und fuhr durch seine Haare. Dann drückte sie ihn ins Kissen und liebkoste sein Gesicht. Suriu fasste ihre Schultern und zog sie sanft ganz zu sich hin. In einem innigen Kuss verloren sie die Kontrolle und erkundeten erst vorsichtig und dann sehr leidenschaftlich die Möglichkeiten der Liebe. Sie sprachen kein einziges Wort, spürten sie doch die Gefühle des anderen, als ob es ihre eigenen wären. Sie waren eins, sie gehörten zusammen, das war Keva klar. Schliesslich lösten sie sich aus ihrer innigen Umarmung. Keva streichelte Surius Brust, während sie ihn an der Schläfe küsste. Suriu fuhr eine der Flossensehnen ihrer verletzten Flosse zärtlich mit zwei Fingern nach. Keva legte ihren Kopf auf seine Brust, schloss die Augen und schlief in seinen Armen schliesslich ein.

Am nächsten Morgen verkündete Suriu seinem Onkel, den Palastmagiern und seiner Pflegefamilie die Verlobung mit Keva. Lanem sah sehr glücklich aus, erklärte Suriu aber, dass Keva sich verwandeln müsste. Suriu beharrte darauf, Keva auch als Santen heiraten zu wollen, doch Keva selbst gab nach, denn eine Verwandlung war niemals endgültig.
Suriu und Keva wanderten gemeinsam mit seiner Pflegefamilie ein Stück auf die kleine Schwester. Seine Pflegeeltern Marto und Elenna und deren Kinder Kelis, Ligon und Larisse hatten Keva sofort ins Herz geschlossen. Kelis kannte Keva ja schon.
"Prinzessin Keva!" sagte Elenna, als sie ihr Ziel, eine ebene Grasfläche vor einer Felswand, erreichten: "Von hier aus seht Ihr bei guter Sicht bis in die Wüste Imarai! Leider liegt der Nebel über der Ivene!"
"Ich möchte an so einem schönen Tag nicht bis in die Wüste Imarai sehen!" seufzte Keva. Sie liess sich neben Larisse ins Gras fallen und schloss die Augen.
"Ist es nicht seltsam, mit Flossen so weit über der Ivene zu sein?" fragte Larisse. Keva blickte zu ihr.
"Viele sagen, dass Flossen nicht an Land gehören!" sagte sie: "Mir ist es gleich, was andere sagen! Ich fühle mich wohl, wie ich bin, und vor allem, weil ich hier an Land bin!" Sie spreizte ihre Flossen und streckte sie nach oben. "Aber ich werde mich verwandeln, wie Lanem es verlangt!" Suriu setzte sich zu den beiden Frauen und packte das Brot aus.
"Ligon macht sich Sorgen!" sagte er.
"Worüber?" murmelte Larisse. Suriu seufzte leise.
"Selcai!" flüsterte er und blickte Larisse durchdringend an. "Ihr seid in Gefahr!" sagte er: "Ihr seid meine Familie!"
"Und Ligon macht sich auch Sorgen um seine Frau!" fügte Larisse hinzu: "Ist es nicht so?" Suriu nickte.
"Er möchte kein Soldat mehr sein!" sagte er: "Aber wer soll seinen Posten übernehmen?"
"Du kannst doch allen Soldaten vertrauen!" sagte Larisse: "Du wirst einen finden!"
"Satro!" murmelte Suriu. Larisse nickte.
"Wir sind deine Familie!" sagte sie dann: "Und wir sind gern deine Familie!" Suriu lächelte und reichte ihr ein Stück Brot.
Nach der Rast kehrten sie in die Kaiserstadt zurück. Kelis begleitete Keva zum Lager der Perlentaucher, wo sie ihre Verlobung mit Suriu bekanntgab. Koré schenkte ihr eine riesige Perle, die er am Tag zuvor gefunden hatte, Kelías und Zayadra führten einen marcoovischen Tanz vor und Mariás sang ein kurzes Lied, leider traf er keinen einzigen Ton. Keva bedankte sich und kehrte mit Kelis in den Palast zurück. Die Palastmagier waren schon emsig mit den Vorbereitungen für die Hochzeit beschäftigt und Suriu blickte der Schneiderin über die Schulter, die ein Kleid für Keva nähte. Kelis stiess seine Lanze laut auf den Boden und Suriu drehte sich um.
"Da sind wir wieder!" sagte Keva: "Sei froh, dass du nicht dabei warst! Mariás hat sehr falsch gesungen!" Kelis grinste.
"Lanem möchte mit dir reden, Keva!" sagte Suriu. Keva nickte und blickte nun ebenfalls der Schneiderin über die Schulter.
"Ich soll mich doch verwandeln?" murmelte sie dann: "Dieses Kleid hat Schlitze für die Flossen!"
"Und doch wirst du dich manchmal zurückverwandeln wollen!" sagte Suriu. Keva nickte.
"Ich gehe zu Lanem!" sagte sie dann.
"Ich komme mit!" murmelte Suriu. Er legte einen Arm um sie und führte sie in eines der kaiserlichen Gemächer.
"Ich habe auf euch gewartet!" sagte Lanem. Er reichte Keva einen Becher mit einer bräunlichen, zähen Masse.
"Engelstrank?" murmelte Keva. Lanem schüttelte den Kopf.
"Er ist noch nicht fertig!" sagte er: "Es fehlt noch das Blut!" Dann reichte er Suriu ein kleines, scharfes Messer. "Ich werde euch allein lassen!" erklärte Lanem, dann hinkte er davon.
"Willst du dich wirklich verwandeln?" fragte Suriu. Keva nickte. Suriu hielt seine linke Hand über den Becher und schnitt in den Handballen. Das Blut quoll hervor und tropfte in den Engelstrank. Suriu legte das Messer auf einen Tisch. Keva berührte sanft seine linke Hand.
"Valeker haben rotes Blut!" murmelte sie. Suriu nickte. Keva blickte in den Becher mit Engelstrank. Die zähe, braune Masse hatte sich in eine hellrote, durchsichtige Flüssigkeit verwandelt, die auch sehr gut roch. Suriu strich über Kevas Kopf.
"Ein Kuss, bevor du dich verwandelst!" flüsterte er. Keva nickte und legte ihre Lippen auf seine. Suriu küsste sie zärtlich und sah dann in ihre Augen. "Ich liebe dich!" sagte er.
Keva führte den Becher an ihre Lippen und leerte ihn in einem Zug. Zuerst geschah gar nichts, doch dann wurde ihr ganz heiss. Sie blickte ihre Armflossen an, die langsam kürzer wurden. Schliesslich spürte sie auch, wie auf ihrem Kopf Haare wuchsen. Sie sah, wie ihre blaugrün gefleckte Haut sich hellrosa färbte und die Flossen ganz verschwanden.
"Wunderschön!" flüsterte Suriu: "Du bist als Valekerin genauso schön, wie als Santen!" Er nahm sie am Arm und führte sie vor einen Spiegel. Keva betrachtete ihr Spiegelbild genau. Sie hatte schwarze Haare, die in sanften Wellen über ihren Rücken und ihre Brust fielen. Das blaue Zeichen der Santen auf ihrer Stirn hatte die Form eines kleinen Fisches und schimmerte leicht. Von ihrer Santengestalt hatte sie nur die blauen Augen und leicht bläuliche Lippen behalten. Allerdings trug sie immer noch die Kleidung der Santen, in der sie als Valekerin fast nackt wirkte. Suriu nahm ihr den Becher aus der Hand und stellte ihn auf einen Tisch.
"Seltsam!" murmelte Keva: "Es passt zu mir!" Suriu nickte.
"Bist du bereit für die Hochzeit?" fragte er. Keva zückte ihren Zauberstab und folgte mit seiner Spitze dem Schnitt in Surius Hand, der sofort aufhörte zu bluten. Dann nickte sie.
"Ich bin bereit!" sagte sie. Suriu öffnete einen schmalen Holzschrank und holte ein bodenlanges, silbergraues Kleid, das mit silbernen, weissen und schwarzen Stickereien verziert war, heraus.
"Das ist für dich!" erklärte er. Keva löste die Knoten am Hals und am Rücken, die ihr grünes Santenkleid hielten. Nun trug sie nur mehr ihre Unterwäsche. Suriu holte aus dem Schrank noch einen weissen Umhang und die Kaiserkrone. Keva zog das bestickte Kleid an und betrachtete sich im Spiegel. Suriu legte ihr den Umhang um und setzte sich selbst die Krone auf. "Komm!" flüsterte er und nahm Keva an der Hand.
Die Hochzeit fand im Thronsaal statt. Nivesti und ein zweiter Magier, Litin, sprachen die Verbindungsformeln. Danach erklärte Lanem Keva offiziell zu einem Mitglied der kaiserlichen Familie. Er schrieb auch die Urkunde und stempelte sie ab. Schliesslich trat Nivesti hinter Keva und packte sie an den Schultern. Litin tat dasselbe bei Suriu. Die beiden Magier schoben Keva und Suriu aufeinander zu.
Suriu hob seine Arme und streckte sie Keva entgegen. Keva nahm seine Hände und sah ihn an. Plötzlich spürte sie eine unvorstellbare Hitze in sich und sah nichts mehr. Ebenso plötzlich war es wieder vorbei, sie konnte wieder sehen und fühlte eine angenehme Wärme in sich.
"Jetzt seid ihr verheiratet!" sagte Nivesti: "Kaiser Suriu, Kaiserin Keva!" Litin setzte Keva das silberne Diadem auf die schwarzen Haare. Suriu zog Keva zu sich und küsste sie.
Von den Feierlichkeiten bemerkte Keva fast nichts, denn sie war nur auf Suriu fixiert. Sie ass und trank nichts, aber sie lächelte selig. Suriu schien ebenfalls nur Keva zu sehen, jedoch machte er kein so glückliches Gesicht wie sie.
"Was ist mit dir?" fragte Keva leise, als sie es bemerkte. Suriu seufzte und lächelte sie an.
"Wir sind nicht allein!" sagte er. Keva nickte und lehnte sich näher zu ihm.
"Bald, Suriu, bald sind wir allein!" flüsterte sie: "Dann können wir richtig feiern!" Suriu nickte und schöpfte seinen Teller mit grünen Nudeln voll. Keva verbrachte die Zeit mit verliebten Träumereien und gelegentlichem Stibitzen von Surius Teller. Nach Sonnenuntergang schliesslich schickte Lanem die feiernden Palastmagier und die Diener fort. Nur er, Surius Pflegefamilie, Suriu und Keva blieben zurück.
"Ich wünsche euch alles Gute!" sagte Lanem. Er umarmte erst Suriu und dann Keva. Kelis lächelte und kniff Suriu in die Schulter. Keva liess die Glückwünsche über sich ergehen und verschwand dann mit Suriu im neuen, gemeinsamen Schlafgemach.

Am Morgen nach der Hochzeitsnacht wachte Keva erst spät auf. Suriu schlief noch. Keva zog ein weisses Kleid ohne Ärmel an und trat auf den Balkon. Nach dem Stand der Sonne war es schon nach Mittag. Keva beschloss, Suriu zu wecken, setzte sich aufs Bett und schüttelte ihn sanft.
"Guten Morgen!" flüsterte Suriu. Keva lächelte und küsste ihn. Doch plötzlich lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken und obwohl sie als verwandelte Santen diese Empfindung nicht kannte, verstand sie sofort.
"Ich kann ihn spüren!" murmelte sie. Suriu nickte.
"Ich ebenfalls!" sagte er: "Er muss ganz nahe am Palast sein!" Dann stand er auf und zog sich an.
"Er zieht in die Kaiserstadt ein!" rief Nivesti von der Türe: "Das sind mindestens drei Stämme der Marcoova! Und vorne dran Selcai!"
"Die Geschichte ... die Geschichte wiederholt sich!" flüsterte Suriu. Keva legte ihre Hand auf seine Schulter.
"Du musst fliehen, Suriu!" sagte sie: "Er wird wieder versuchen, Kaiser zu werden!"
"Diesmal würde es ihm gelingen!" hauchte Suriu: "Zu Kindern sind wir noch nicht gekommen!"
"Wir haben gerade geheiratet! Erwartest du Wunder von mir?" sagte Keva lächelnd: "Flieh jetzt! Ich werde zurecht kommen!" Sie strich durch seine Haare. "Vermutlich wird er dich einfach für tot erklären, wenn er dich nicht findet!" sagte sie. Nivesti klopfte an den Türrahmen und trat ein.
"Hat er damals auch nicht getan!" seufzte Suriu: "Er wird mich suchen!"
"Hoffen wir, dass er es nicht tut!" sagte Keva: "Er wird dich also für tot erklären und ... und ... mich heiraten!" Sie kratzte sich an der Nase.
"Auf jeden Fall wird es für ihn schwerer, Euch zu erkennen, Keva, seit Ihr keine Santen mehr seid!" erklärte Nivesti.
"Suriu, flieh jetzt!" rief Keva und sprang auf: "Nivesti, habt Ihr Schminksachen? Ich muss meine blauen Lippen und das Santenzeichen verbergen!" Suriu riss sie am Arm herum und drückte sie an sich. Ihre Lippen berührten sich und die Welt um sie verschwamm. Es existierte nur mehr ihre Liebe. Langsam lösten sie sich wieder voneinander.
"Ich werde dich vermissen!" sagte Suriu, dann lief er aus dem Schlafgemach. Nivesti nahm Keva am Arm und teleportierte sie und sich in ihr Zimmer.
"Puder!" murmelte sie. Sie strich die Haare aus Kevas Stirn und testete einige Farbnuancen. "Das ist es!" murmelte sie schliesslich.
"Und die Lippen?" fragte Keva. Nivesti grub nach Lippenstiften.
"Zu den schwarzen Haaren und dem hellen Gesicht passt am besten Pink!" murmelte sie: "Versuchen wir mal das!" Sie bemalte Kevas Lippen bis an den Rand.
"Ja!" murmelte Keva, als sie sich im Spiegel sah: "Aber das dauert doch sehr lange! Ob ich vor Selcai wirklich verbergen kann, dass ich eine Santen bin?" Sie packte den Lippenstift und das Puder in ihre kleine Tasche. "Und wenn er mich verzaubern will, dass ich ihm sage, wo Suriu ist?"
"Ihr wisst ja gar nicht, wo er ist! Ausserdem seid Ihr eine Magierin! Ihr könnt Euch eine Zeit lang wehren!" meinte Nivesti: "Aber nicht sehr lange! Ihr braucht magische Energie!"
"Aber wie?" rief Keva: "Magier können andere Magier mit magischer Energie spüren!" Nivesti runzelte die Stirn.
"Vielleicht finde ich eine Möglichkeit!" murmelte sie und bewegte ihre beiden Hände knapp über Kevas Haut und Kleidung. Gelbes Licht strömte von ihren Händen auf Keva ein. "Irgendetwas an Euch nimmt die magische Energie auf!" murmelte Nivesti: "Aber Ihr seid es nicht!"
"Ist es nicht so, dass nur lebende Personen und schwarze Perlen magische Energie aufnehmen können?" fragte Keva: "Aber ich habe keine schwarze ... oh!" Sie liess sich auf den Stuhl vor Nivestis Schminktisch fallen. "Dann trage ich ein Kind in mir?" Nivesti nickte.
"Vermutlich!" sagte sie. Keva nickte matt. "Ich gebe Eurem Kind soviel magische Energie, wie ich kann!" meinte Nivesti: "Ihr wisst, wie Ihr sie benutzen könnt?" Keva nickte wieder.
"Aber ich schade ihm dadurch nicht?" fragte sie. Nivesti seufzte und zuckte die Schultern.
"Selcai steht vor dem Nordtor!" schrie ein Diener zur Türe herein: "Er verlangt, mit dem Kaiser zu sprechen!"
"Bereit?" fragte Nivesti Keva.
"Nein!" seufzte Keva: "Aber gehen wir trotzdem! Und ich heisse Dilta! Sagt es allen!" Nivesti nahm sie wieder am Arm und teleportierte sie und sich in den Thronsaal. Keva schlüpfte in den weissen Umhang der Kaiserin und setzte das kaiserliche Diadem auf.
"Die Stirn ist gut!" sagte Nivesti: "Man sieht nichts vom Zeichen der Santen!" Keva atmete tief durch und marschierte dann in den Garten. Sie winkte den Soldaten Kelis und Satro, ihr zu folgen. Nivesti blieb im Thronsaal.
"Mein Name ist Dilta!" sagte Keva.
"Wie bitte?" fragte Satro.
"Selcai kennt den Namen Keva!" erklärte Keva: "Er darf mich nicht erkennen!"
"Natürlich, Kaiserin Dilta!" sagte Kelis grinsend. Dann öffneten er und Satro das Nordtor und Keva stand Selcai gegenüber.

Kapitel 3

Seit Keva sich in eine Valekerin verwandelt hatte, fühlte sie sich in der Kaiserstadt so wohl, wie sie sich als Santen nie gefühlt hatte. Bis jetzt jedenfalls. Die schwer bewaffneten marcoovischen Truppen mitten in der Kaiserstadt zu haben, behagte ihr überhaupt nicht. Und Selcai ... Sein Aussehen entsprach zwar nicht der Vorstellung, die Keva von einem Bösewicht hatte, doch hatte sie von allen Seiten erfahren, wie er aussah und was er getan hatte, dass sich das Bild, das sie jetzt sah, als Urahn aller Bösewichte tief in ihr Gedächtnis eingrub.
Knapp vor dem Nordtor standen zwölf marcoovische Kämpfer und zwei Magierinnen. Noch einen Schritt näher stand Selcai, gut gebaut, muskulös und mit einem kantigen Gesicht unter den türkisgrünen Haaren. Er trug einen aus daumennagelgrossen Goldplatten gefertigten Kopfschmuck, verziert mit einem türkisgrünen Edelstein in der Mitte über der gemusterten Stirn, eine schwarze Hose, ein weisses Hemd und darüber einen türkisgrünen Umhang, der mit schwarzen Schnallen an den Schultern befestigt war.
"Ich grüsse Euch, Kaiserin!" sagte er: "Ich hatte den Kaiser erwartet!"
Keva schloss kurz die Augen und sagte dann: "Ich bedaure nicht, dass er keine Zeit für Euch gefunden hat, bevor er die Stadt verlassen hat!" Selcai schmunzelte und trat auf Keva zu. Als er durch das Tor trat, blitzte und knisterte es, aber er durchbrach den magischen Schild ohne ein sichtbares Zeichen von Anstrengung. Keva blieb ruhig. Kelis und Satro richteten vorschriftsgemäss ihre Lanzen auf den Eindringling. Keva winkte ab.
"Die Beschreibung wird Euch nicht gerecht!" sagte Selcai: "Ihr seid schön, das sehe ich jetzt selbst, und keine Beschreibung würde Euch gerecht! Und Ihr seid auch klug!" Er trat einen weiteren Schritt auf Keva zu. "Es fehlt nur noch Euer Name!" sagte er.
"Dilta!" sagte Keva.
"Wo hat Kaiser Suriu nur Euch gefunden!" murmelte Selcai: "Ich habe in meinem Leben noch nie eine so schöne Frau gesehen!"
"Hört auf, mir zu schmeicheln!" sagte Keva: "Sprecht aus, was Ihr wollt!"
"Nun, ich wollte das mit dem Kaiser besprechen!" bemerkte Selcai: "Aber da er verhindert ist, werde ich Euch meine Bitte kundtun!" Er drehte sich zum Tor und streckte seine linke Hand aus. Das Tor schloss sich. Selcai drehte sich wieder zu Keva. "Ihr kennt die Geschichte des Landes?" fragte er. Keva nickte. "Bedauerlich, dass Euer Gemahl geflohen ist, aber ich werde ihn ersetzen!" sagte Selcai: "Und ich werde ihn töten!" Keva blieb ruhig. "Er wusste es, deshalb ist er geflohen!" flüsterte Selcai: "Und er hat Euch im Stich gelassen!"
"Zu fliehen war für ihn die einzige Möglichkeit, zu verhindern, dass Ihr Kaiser werdet!" sagte Keva.
"Eine Verzweiflungstat, nutzlos und dumm!" knurrte Selcai: "Lanem wird dem Zauber der Macht wieder nicht widerstehen können! Er wird Suriu für tot erklären, ohne seinen Leichnam gesehen zu haben!"

"Lanem!" murmelte Keva. Selcai ging einmal um sie herum und beäugte sie von allen Seiten.
"Wir haben viel zu tun!" sagte er dann. Er nahm Keva am Arm und zog sie in den Thronsaal. Keva sah sich verwirrt um, denn der Thronsaal war voll. Hundertfünfzig Palastmagier standen mit ausgestreckten Armen um sie und Selcai. Aber Keva wusste, dass es über vierhundert Palastmagier gab. Plötzlich spürte sie, wie die magische Energie der über zweihundertfünfzig restlichen Magier auf sie einströmte.
"Selcai, verschwindet, denn ich nehme Euch das Wasser, das Ihr zum Leben braucht!" schrie Nivesti und richtete ihren Zauberstab auf Selcai. Einen Augenblick lang wurde Selcai durchscheinend und silbrigweiss, doch dann wurde er wieder greifbar. Er stapfte auf Nivesti zu und durchbohrte sie mit seinem Blick.
"Palastmagierin, verschwindet!" flüsterte er, aber jeder im Thronsaal konnte ihn verstehen. Nivesti wurde durchsichtig und sah hilflos ihre Kollegen an, die versuchten, sie mit einem Abwehrzauber zu schützen. Schliesslich wurde sie wieder sichtbar, aber ein gelbes Leuchten um sie verbarg sie vor den Blicken der anderen.
"Mutter!" schrie Luti und sprang vom Kronleuchter. Er flog zu Nivesti, die schnell auf die Grösse einer Schmetterlingsfee schrumpfte. Als das Leuchten verschwand, bewegte Nivesti sich nicht mehr. Luti beugte sich über sie und begann zu weinen.
"Wie rührend!" brummte Selcai. Er marschierte zu den zwei Schmetterlingsfeen und hob Luti auf. "Ihr könnt ihr gerne nachfolgen, kleines Schmetterlingsfeenmännchen!" sagte er.
"Was verlangt Ihr von mir, Fürst Selcai?" fragte Luti leise.
"Geleitet mich und Kaiserin Dilta zu Lanem!" sagte Selcai: "Und dann sorgt Ihr dafür, dass sich die Soldaten im Hof versammeln!" Luti nickte.
"Ich werde alles tun, Fürst Selcai!" murmelte er. Selcai liess ihn los.
"Fliegt voran!" sagte er. Keva trat zu Selcai und folgte Luti und ihm schweigend ins Sitzungszimmer, wo Lanem wie immer an der Bilanz arbeitete. "Ich grüsse Euch, Lanem!" sagte Selcai. Lanem blickte auf.
"Ich kenne Euch noch, Fürst Selcai!" knurrte er.
"Ihr könnt nicht mehr stehen!" sagte Selcai: "Und Ihr seid alt geworden!" Er trat zum Fenster und blickte in den Garten. Dann drehte er sich um. "Ich könnte Euch einen Gefallen tun und Euch verjüngen!" sagte er: "Wenn Ihr mir einen Gefallen tut!"
"Der wäre?"
"Wisst Ihr, Lanem, Dilta und ich, wir lieben uns sehr, aber sie ist noch gebunden und kann mich also nicht heiraten!" meinte Selcai. Er stützte sich mit den Händen auf dem Tisch auf und sah Lanem an. Keva schluckte. Wusste Lanem überhaupt, wie sie sich jetzt nannte?
"Und wie kann ich Euch da helfen?"
"Nun, Ihr könntet ihren Gemahl für tot erklären!" flüsterte Selcai und zog den Mund zu einem breiten Grinsen: "Dann wäre ich Euch zu ewigem Dank verpflichtet!"
"Könnt Ihr beweisen, dass er tot ist?" fragte Lanem, ebenfalls grinsend: "Oder muss ich mich auf ... Euer Wort verlassen?" Er zwinkerte Selcai zu.
"Sagen wir, ich gebe Euch vierzig Jahre Eures Lebens zurück und ernenne Euch zum Feldherrn der valekischen Armee, und Ihr fragt nicht nach dem Leichnam!" sagte Selcai leise. Lanem nickte.
"Holt mir aus dem Schrank das Formular!" sagte er. Selcai rührte sich nicht. Keva schlenderte zum Schrank und öffnete die beiden Glastüren. Sie holte das Formular für Todesmeldungen aus dem dritten Fach von links ganz oben und gab es Lanem. "Ich danke Euch, Dilta!" sagte Lanem. Keva atmete auf und machte die Glastüren wieder zu.
"Sprecht laut, was Ihr schreibt, Lanem!" sagte Selcai: "Wenn nötig, werde ich korrigieren!"
"Der Name ist Suriu!" sagte Lanem. Selcai nickte. "Geboren am vierten Tag der Zeit des Windes des Jahres 8491 nach dem Feuerinferno!" fuhr Lanem fort: "Die Eltern sind Velan und Lanita, seine Frau Dilta!" Selcai nickte wieder. "Wann und wie starb er denn?" fragte Lanem. Selcai schmunzelte.
"Er stürzte sich vom Balkon seines Gemachs, als er erfuhr, dass ich in die Stadt einmarschiere!" sagte er. Lanem schrieb Selcais Lüge auf und stempelte das Formular ab. "Kaiser Suriu ist jetzt offiziell tot!" flüsterte Selcai Keva zu. Dann kniete er vor ihr nieder. "Wollt Ihr mich heiraten, Kaiserin Dilta?" fragte er. Keva sah ihn regungslos an. Selcai hob seine linke Hand und zeichnete einen Kreis in die Luft, der sofort zu leuchten begann. "Wollt Ihr?" knurrte er.
"Ich bin zu wichtig für Euch, Ihr werdet mich nicht töten!" sagte Keva: "Aber sobald ich Euch heirate, ist mein Leben nicht mehr sicher!" Selcai stand wieder auf.
"Lanem, überspringen wir das! Stellt die Heiratsurkunde aus!" sagte er.
"Ich muss mich schon wieder auf Euer Wort verlassen, dass Eure Verlobte einverstanden ist!" meinte Lanem grinsend.
"Ich hätte da einige rassige Pferde!" flüsterte Selcai.
"Was soll ich mit Pferden?" fragte Lanem: "Ich habe schon welche!"
"Ich hätte auch sieben lavische Dienerinnen für Euch!" sagte Selcai schmunzelnd: "Sie werden Euch gefallen!"
"Dilta, gebt mir doch bitte das Formular aus dem Fach mit der Nummer acht!" bat Lanem. Keva blieb stehen. Selcai nahm sie am Arm und bewegte sein Gesicht zu ihrem Ohr.
"Ich würde Euch lieben!" flüsterte er: "Ich würde Euch lieben, dass Ihr Euch fragt, wie Ihr jemals an Suriu denken konntet! Heiratet mich!" Er bewegte sich wieder etwas von Keva weg und knurrte: "Freiwillig!" Keva machte zögernd einige Schritte auf den Schrank zu. Plötzlich drehte sie sich um.
"Unter einer Bedingung!" sagte sie. Selcai lachte leise.
"Sprecht sie aus, ich werde entscheiden!" sagte er.
"Ihr werdet Suriu nicht verfolgen!" murmelte Keva: "Lasst ihn als einfachen Bürger leben, wo immer er sein mag!" Selcai lächelte.
"Einverstanden!" sagte er. Keva senkte die Augenlider und atmete tief durch. Dann ging sie zum Schrank, öffnete ihn und gab Lanem das Formular.
"Gemahl Selcai und Gemahlin Dilta!" sagte Lanem: "Eltern des Gemahls?"
"Fürst Daimas und Miga Naari!" sagte Selcai. Ein kaltes Lächeln umspielte seine Lippen.
"Eltern der Gemahlin?" fragte Lanem.
"Kayas und Ira!" flüsterte Keva. Lanem schrieb auch Kevas Lüge ohne mit der Wimper zu zucken auf und stempelte das Formular ab.
"Kaiser Selcai, Kaiserin Dilta, ihr seid jetzt offiziell verheiratet!" sagte er dann.
"Sehr gut!" sagte Selcai: "Wo sind die Kaiserkrone und der Salcan?"
"Im Thronsaal!" sagte Lanem: "Aber erst haben wir noch eine Rechnung zu begleichen!" Selcai trat zu ihm und packte ihn an den Schultern. Von seinen Händen strömte gleissend helles Licht auf Lanem ein, der zusehends jünger wurde. Keva verfolgte den Beweis für Selcais magische Fähigkeiten gebannt und kochte innerlich vor Wut gegen Lanem, aber dankte ihm gleichzeitig, dass er sie nicht verraten hatte.
"Du meine Güte!" entfuhr es Keva, als Selcai seine Hände von Lanem löste: "Unglaublich!" Lanem streckte sich und stand auf. Er sah aus wie zwanzig. Selcai trat zu Keva und nahm sie am Arm. Er teleportierte sie und sich in den Thronsaal, wo er sich die Kaiserkrone aufsetzte, seinen türkisgrünen Umhang ablegte und den Salcan mit goldenen Schnallen an seinen Schultern befestigte. Dann trat er mit Keva in den Hof, wo Luti die Soldaten versammelt hatte.

"Ich grüsse Euch, Soldaten!" rief Selcai: "Ich bin Selcai, Kaiser von Valeca und Fürst der Marcoovastämme Neltane, Schagon und Anzaath!" Die Soldaten raunten und von einigen waren sogar unterdrückte Aufschreie zu hören. "Ihr steht ab jetzt unter dem Kommando von Lanem!" erklärte Selcai. Hinter ihm trat Lanem aus dem Thronsaal in den Hof. Die Soldaten raunten wieder. Keva meinte, das Wort Verrat herauszuhören. Kelis trat vor.
"Wir werden für Euch kämpfen, Selcai, Kaiser und Fürst!" rief er und hob seine Lanze in die Höhe. Satro und einige andere Soldaten folgten seinem Beispiel.
"Selcai!" schrien sie: "Selcai!" Nach und nach hoben immer mehr Soldaten ihre Lanzen und stimmten mit ein. Keva wandte sich ab und trat zu Lanem.
"Ich gratuliere!" brummte sie: "Aber ich hätte von Euch mehr Loyalität erwartet!"
"Und Ihr?" zischte Lanem: "Ihr habt ihn doch geheiratet!" Keva seufzte. "Und was Suriu betrifft, Selcai wird ihn leben lassen!" fügte Lanem hinzu.
"Wie könnt Ihr da so sicher sein?" knurrte Keva: "Ihr könnt Euch nicht auf das Wort eines Mörders verlassen!" Lanem zuckte mit den Schultern und schob Keva zurück zu Selcai.
"Ich möchte freudig kundtun, dass meine Gemahlin und ich meine marcoovische Familie herzlich in den Palast einladen!" rief Selcai. Einige Soldaten eilten davon. Selcai wandte sich Keva zu. "Und jetzt widme ich mich ganz dir, Dilta!" flüsterte er. Lanem verliess den Hof und die Soldaten folgten ihm. Selcai berührte Keva sanft an der Wange und legte einen Arm um sie. "Liebst du mich?" hauchte er.
"Ich bedaure, dir mitteilen zu müssen, dass dem nicht so ist, mein Gemahl!" sagte Keva: "Aber ich bin mir sicher, dass du dich davon nicht stören lassen wirst!" Selcai lächelte sie charmant an.
"Und ich bin mir sicher, dass du deine Meinung noch ändern wirst!" sagte er. Dann bewegte er sein Gesicht ganz nah zu ihrem. "Dafür werde ich sorgen!" flüsterte er kaum hörbar, bevor er sie küsste. Keva fühlte sich plötzlich, als würde sie im ewigen Eis begraben liegen und innerlich brennen. Ihre Lippen schmerzten, als ob sie platzen würden. Doch Selcais Hand an ihrer Wange fühlte sich beruhigend an und aus irgendeinem Grund wollte Keva trotz der Schmerzen nicht, dass er sie losliess. Nach einigen Augenblicken konnte sie wieder etwas klarer denken und bekam panische Angst. Selcai war ein mächtiger Magier, konnte er auch die Liebe zu besiegen? Keva spürte, wie Selcai sie an sich drückte und mit seiner Zunge ihre Lippen öffnete. Mit einem Mal fühlte sie sich so wohl, als würde sie gleichzeitig fliegen und schwimmen. Der wundervolle Gesang der Insel Laharia klang in ihren Ohren und sie sah die schönsten Orte, die sie selbst noch nie besucht hatte. Sie tanzte auf dem Wind und begegnete wunderschönen Geschöpfen der Fantasie.
"Lasst Euch nicht verführen!"
Keva riss die Augen auf und blickte in das Gesicht eines jungen Soldaten mit eisblauen, freundlichen Augen und braunen Haaren, die frech unter seinem Helm hervorguckten. "Was sagtet Ihr?" murmelte sie.
"Lasst Euch nicht verführen, denn sonst seid Ihr für immer gefangen!" sagte der Soldat.
"Gefangen?" fragte Keva.
"Selcai!" sagte der Soldat: "Lasst Euch nicht verführen! Er versucht, Euch zu verzaubern!" Er rückte seinen Helm zurecht und lächelte. "Ihr müsst Euch wehren! Ihr müsst eine schönere Welt finden, als die, die er Euch schenkt! Lebt wohl!"
Ein gewaltiger Strudel riss Keva zurück. Sie hörte wieder den Gesang der Insel und tanzte zwischen Wolken und Bergspitzen. Sie spürte auch wieder, wie Selcai sie fest, aber zärtlich umarmte. Dann rief sie sich ins Gedächtnis, was der Soldat gesagt hatte. Eine schönere Welt?
Keva erinnerte sich wieder ganz genau an ihre ersten Tage an Land. Sie war unsicher gewesen und hatte Angst gehabt. Doch ihre Freunde hatten ihr geholfen.
Freunde!
Freunde konnte Selcai ihr nicht geben. Er war ein Meister der Täuschung und der Lüge und wusste gewiss nicht, was wahre Freundschaft bedeutete. Keva spürte wieder genauer, was Selcai tat. Er liess sie los. Keva hob ihre Arme und legte sie um ihn. Aber sie tat es nicht, weil sie es wirklich wollte, sondern weil sie wusste, dass er es von ihr erwartete. Der Nebel, der ihren Verstand von der Wirklichkeit trennte, verschwand. Keva öffnete ihre Augen und sah Selcai an.
"Liebst du mich?" fragte er.
"Küss mich, bitte!" sagte Keva.
"Liebst du mich?" wiederholte Selcai.
"Küss mich, bitte, bitte!" bettelte Keva. Selcai grinste.
"Wie ich es dir sagte, Dilta!" flüsterte er: "Ich habe dafür gesorgt! Denkst du noch an Suriu?"
"Wer?" murmelte Keva. Sie tat, als würde sie angestrengt nachdenken. "Ah! Den meinst du! Was soll ich mit ihm?"
"Weisst du, wo er ist?" fragte Selcai. Keva schüttelte den Kopf und schmiegte sich an ihn. Selcai schob sie weg. "Ich habe dich auf meiner Seite!" flüsterte er: "Aber jetzt habe ich anderes zu tun!"
"Was denn?" fragte Keva. Selcai grinste sie an und deutete auf den marcoovischen Kämpfer, der auf ihn zu kam.
"Meine Familie ist angekommen!" sagte er: "Komm mit!" Keva folgte ihm in den Thronsaal und von dort über die geschwungene Treppe nach oben. Selcai trat in den Speisesaal und setzte sich auf den Platz des Kaisers am Kopfende des Tisches. Keva setzte sich links neben ihn. Sofort liefen sieben Diener der Reihe nach am Tisch vorbei und stellten verschiedene Speisen in goldenen und silbernen Schüsseln in die Mitte. Selcai streckte seine linke Hand auf das breite Tor ihm gegenüber zu und bewegte sie ruckartig zur Seite, worauf sich die beiden Torhälften öffneten. Eine junge Frau betrat den Speisesaal, gekleidet in prächtige, marcoovische Kleidung. Ihr violettes Kleid war dicht mit silbernen Fäden bestickt, um ihre Hüfte hatte sie ein weites blaues Seidentuch befestigt, das hinter ihr von zwei lavischen Dienern gehalten wurde, darüber trug sie einen durchsichtigen, seidenen Umhang, der ebenfalls von den Dienern gehalten wurde. Auf ihrem Kopf trug sie eine violett und hellblau gemusterte Krone, die sie als Fürstin eines Marcoovastammes auswies. Hinter ihr und ihren Dienern traten, ebenfalls prächtig gekleidet, eine nicht mehr ganz so junge Frau und ein junger Mann ein. Allen dreien sah man an, dass sie Santen zu ihren Vorfahren zählten. Die Fürstin setzte sich Selcai und Keva gegenüber, die beiden anderen nahmen an der Seite des Tisches Platz.
"Ich grüsse dich, Vater!" sagte die Fürstin: "Und auch meine Mutter und mein Bruder grüssen dich!"
"Dilta, ich stelle dir meine erste Gemahlin Metes und unsere Kinder Selina und Direlcai vor!" sagte Selcai. Keva nickte zum Gruss. "Selina, dies ist Kaiserin Dilta!" Selina nickte und ergriff dann das Wort in einer fremden Sprache. Keva erkannte sie zwar, es war jene von Selcais Stamm, der Neltane, aber sie konnte den Worten nicht folgen. Als Selina schloss, nickte Metes zustimmend. "Ich bin einverstanden!" sagte Selcai: "Ich werde Dilta nicht in einer marcoovischen Zeremonie zu meiner Gemahlin nehmen!" Keva hob verwundert die Augenbrauen, war Metes etwa eifersüchtig?
"Ich danke dir, Vater!" sagte Selina. Selcai schöpfte sich Fleischknödel und Grünspitzchen. Keva nahm mit den Pilzen vorlieb.
"Du hast die Drari schnell besiegt, dass du jetzt schon hier bist!" sagte Selcai. Selina vermischte in ihrem Teller die Bratensauce mit der Salatsauce und nickte.
"Wir haben sie praktisch überrannt!" meinte sie: "Fürst Meriem hat mich fast angefleht, statt ihm Fürstin zu werden, nur damit ich ihm seine Frau lasse!" Selcai schmunzelte. "Jetzt sind sie für immer und ewig zusammen!" kicherte Selina: "Nur nicht auf der Insel!" Sie schnitt einige dünne Scheiben Weissbrot ab und wendete sie in der gemischten Sauce.
"Und was hast du sonst erlebt?" fragte Selcai, während er die Fleischknödel sorgfältig mit den Grünspitzchen panierte.
"Wir sind den Melva begegnet!" murmelte Selina. Sie schöpfte sich Nudeln und Pilze und verteilte sie auf ihren eingeweichten Brotscheiben. "Seitdem bin ich praktisch ihre Fürstin!"
"Die Melva haben doch ein strengeres Nachfolgesystem!" murmelte Selcai: "Der Fürst kann nicht einfach einen Nachfolger benennen!"
"Ich habe seinen Sohn geheiratet!" meinte Selina: "Der alte Fürst ist tot und sein Sohn ist richtig süss, wenn er verzaubert ist!"
"Klug von dir!" sagte Selcai anerkennend. Keva stocherte lustlos in ihrem Essen herum. "Hast du keinen Hunger, Dilta?" fragte Selcai. Keva schüttelte den Kopf. "Morgen wird ein anstrengender Tag!" sagte Selcai dann: "Wir werden Volksnähe beweisen! Iss etwas! Und dann gehen wir früh schlafen!" Keva nickte und begann, die Pilze in sich hineinzustopfen, ohne sie überhaupt zu schmecken.
"Du besuchst die Händler, Bauern, Handwerker und Fischer?" fragte Selina.
"Die Perlentaucher auch!" sagte Selcai: "Mit einer Perlentaucherin habe ich noch eine offene Rechnung! Ohne sie hätte ich die Santen auch schon!" Keva ergriff das Wort.
"Ist diese Perlentaucherin eine Santen?" fragte sie. Selcai nickte. "Ich kann mich erinnern, dass einmal eine Santen wegen irgendeiner besonderen Perle da war!" murmelte Keva: "Ich kann nachschauen, wo sie wohnt, falls sie Bürgerin geworden ist!"
"Tu das, Dilta!" sagte Selcai. Keva stand auf und marschierte aufrecht aus dem Speisesaal. Dann lief sie ins Archiv.
"Ich wusste, dass Ihr hierherkommen würdet!" Keva blieb ruckartig stehen.
"Wer ist da?" fragte sie leise.
"Ich bin es, Nivesti!" Die Schmetterlingsfee flatterte hinter einem Kerzenständer hervor.
"Aber Selcai hat Euch doch getötet!" fuhr Keva auf.
"Netter Plan, nicht?" meinte Nivesti: "Er sollte es glauben! Luti als Spiegelwesen hat mich mit der Macht der goldenen Sonne und der blauen Perle gerettet! Jetzt bin ich ein Teil der Insel, den Selcai nicht kennt, und ausserdem wieder ganz schön klein!" In der Kristallstadt hatte Keva ihren Vater auf ähnliche Weise gerettet. Nivesti setzte sich auf ihre Schulter. "Ich kann Euch helfen!" sagte sie dann. Keva ging weiter.
"Ich bin unterwegs ins Archiv!" erklärte sie leise: "Ich suche alles über Keva und bringe es mit der Geschichte von Dilta in Einklang!" Nivesti verkroch sich unter Kevas langen, schwarzen Haaren und kam wieder hervor, als sie ausser Sichtweite des Soldaten waren. Keva öffnete einen der 40 riesigen Schränke und suchte die Zeit der Sonne des Jahres 8521 nach dem Feuerinferno, damals war sie Bürgerin geworden.
"Ich hole die Formulare und die Stempel aus dem Sitzungsraum!" sagte Nivesti, dann verschwand sie.
"Nivesti?" murmelte Keva. Kaum später tauchte die Schmetterlingsfee wieder auf.
"Ich schreibe das Bürgerblatt und die Wohnungsblätter für Dilta und die Heiratsurkunde für Dilta und Suriu!" sagte sie: "Und Ihr sucht Eure Heiratsurkunde und Eure Wohnungsblätter heraus und lasst sie verschwinden!"
"Schreibt auch eine Geburtsurkunde für Dilta!" flüsterte Keva: "Eltern Kayas und Ira!"
"Gibt es die beiden wirklich?" fragte Nivesti verdutzt. Keva nickte.
"Aber sie sind tot!" murmelte sie: "Und sie haben keine anderen Verwandten! Keiner, den Selcai fragen könnte!"
"Na gut!" murmelte Nivesti, verschwand wieder kurz und kam mit einer leeren Geburtsurkunde wieder. "Wann seid Ihr also geboren, Dilta?" fragte sie.
"Am achtzehnten Tag der Zeit des Herdfeuers des Jahres 8495 nach dem Feuerinferno!" sagte Keva. Nivesti schrieb alles auf und stempelte die Urkunde dann ab. Dann zog sie mühsam eine grosse Schranktür auf.
"Keva, könnt Ihr mir helfen?" bat sie: "Legt bitte die Mappe für Herdfeuer 8495 auf den Tisch!" Keva tat es. "Danke!" sagte Nivesti leise, dann sortierte sie die neue Geburtsurkunde am richtigen Ort ein. Keva sortierte die neue Heiratsurkunde und die von Nivesti geschriebenen neuen Wohnungsblätter und das Bürgerblatt ein, verstaute die Mappe wieder im Schrank und schloss dessen Türe. Nivesti schulterte die beiden Federn und den Stempel und teleportierte sich ins Sitzungszimmer. Als sie wieder zurückgekehrt war, lief Keva los. Nivesti versteckte sich hinten in Kevas Kragen unter ihren Haaren.
"Euer toter Gemahl ist angekommen!" sagte Selcai, als Keva sich neben ihn gesetzt hatte: "Ich werde morgen überlegen, was ich mit ihm tun soll!" Keva blinzelte verblüfft. "Hast du herausgefunden, wo diese Santen wohnt?" fragte Selcai dann. Keva schüttelte den Kopf.
"Sie wurde zwar einmal Bürgerin, aber es liegen keine Wohnungsblätter unter ihrem Namen vor!" sagte sie.
"Wie heisst sie?" fragte Selina.
"Keva!" sagte Keva. Selina nickte und widmete sich ihrem Teller mit gemischten Früchten. Keva schob den Teller mit den Pilzen beiseite und schöpfte sich ebenfalls einige Früchte. Als sie den Teller leergegessen hatte, stand sie auf. "Ich bin müde!" sagte sie.
"Ich ebenfalls!" sagte Selcai. Er liess einen halbvollen Teller Nusskaramellen stehen, legte einen Arm um Kevas Hüfte und verliess mit ihr den Speisesaal. Keva bemerkte, wie Metes Selcai wütend nachsah. Nivesti zappelte in Kevas Kragen.
Das Schlafgemach war von hunderten Kerzen hellerleuchtet. Auf den beiden riesigen Betten lagen etliche feine Wolldecken und Seidentücher, Trennwände hinderten die an den Wänden sitzenden Diener daran, alles zu sehen. Keva hob beeindruckt die Augenbrauen, Selcai liess sich wirklich verwöhnen. Sie ging durch eine helle Holztüre in den angrenzenden Waschraum und schloss die Türe ab. Nivesti krabbelte aus Kevas Kragen und entfernte Kevas Schminke. Dann überpuderte sie das Santenzeichen wieder und bemalte die Lippen so, dass sie für Valeker möglichst natürlich aussahen.
"Danke!" flüsterte Keva: "Fliegt bitte zu den Perlentauchern und sagt ihnen, dass ich Dilta heisse und dass Keva in die Ivene zurückgekehrt ist, ohne es im Palast zu melden!" Nivesti landete auf dem Schminktisch und teleportierte sich fort. Keva atmete auf und marschierte zurück ins Schlafgemach. Selcai lag schon im Bett und schlummerte selig wie ein kleines Kind. Keva legte ihr Diadem auf ein Tischchen, zog ihren Umhang und ihr Kleid aus und streifte ihr Nachthemd über. Dann legte sie sich ins Bett und schloss die Augen. Um die Betten herum huschten einige Diener, die alle Kerzen bis auf fünf löschten.

Am nächsten Morgen begriff Keva zuerst nicht, dass sie gemeint war, als Selcai sie weckte. "Dilta, wach auf!" sagte er und berührte sie sanft an der Schulter. Keva öffnete die Augen einen Spalt und die Erinnerung kam zurück.
"Nur noch ein bisschen!" murmelte sie. Selcai packte sie am Arm und zog sie hoch.
"Wir haben viel zu tun!" sagte er: "Zieh dich an!" Keva schälte sich aus den vielen Decken und Tüchern und stand auf. Selcai stand mit nacktem Oberkörper neben ihrem Bett. Seine Haare standen ungezähmt in alle Richtungen und seine türkisgrüne Hose war reichlich zerknittert. An seinen nackten Füssen waren die Zehennägel sorgfältig geschnitten und abgefeilt und türkisgrün lackiert. Keva schlurfte mit noch halb geschlossenen Augen in den Waschraum und schloss die Türe ab. Sie entfernte nur den Lippenstift und bemalte die Lippen pink. Das Puder über dem Santenzeichen liess sie, wie es war. Dann erledigte sie den Rest der Morgentoilette. Als sie wieder ins Schlafgemach trat, war Selcai schon fertig angezogen. Wie am Vortag trug er eine schwarze Hose, ein weisses Hemd, den Salcan und die Kaiserkrone. Keva verschwand im begehbaren Schrank und kam erst angezogen wieder heraus. Sie trug ein blauviolettes, hochgeschlossenes Kleid mit Ärmeln, die unterhalb der Ellenbogen einen Schlitz hatten, geschneidert für eine Santen. Keva zog ihren Umhang an und setzte ihr Diadem auf. "Ich gratuliere!" sagte Selcai.
"Wieso?" murmelte Keva verwundert.
"Lanita hat immer doppelt so lange gebraucht!" erklärte Selcai. Er trat auf den Korridor, Keva folgte ihm. "Ich beaufsichtige die Diener beim Satteln der Pferde!" sagte Selcai: "Du gehst zu deinem toten Gemahl!"
"Kein Frühstück?" murmelte Keva. Selcai schüttelte den Kopf und eilte fort. Keva sah ihm verblüfft hinterher. Plötzlich spürte sie einen Luftzug an ihrem Hals.
"Keva, ich bin wieder da!" flüsterte Nivesti. Keva atmete auf. Nivesti verkroch sich wieder in Kevas Kragen.
"Nivesti, Ihr müsst den Wächter erstarren lassen!" flüsterte Keva: "Aber er darf es nicht merken! Während Ihr ihn erstarren lasst, darf er weder uns noch Suriu sehen!"
"Verstanden!" murmelte Nivesti. Keva eilte zu den Verliesen.
"Öffnet!" befahl sie dem einzigen Wächter im ganzen Keller. Der Wächter wandte sich der ersten Tür zu und öffnete sie.
"Erstarre zu Stein, Marcoova!" hauchte Nivesti. Der Wächter bewegte sich nicht mehr. Keva huschte an ihm vorbei und schlüpfte durch den Spalt in der Türe. Nivesti beschwor Licht. Keva stockte der Atem und sie stützte sich matt an der halbverfaulten Holzpritsche ab. Suriu schlief unruhig, sein Gesicht und seine Arme waren von unzähligen Kratzern und Schnitten bedeckt, er hatte ein blaues Auge und eine seltsam schiefe Nase. Seine schwarze Hose war zerfetzt und blutig, sein rotes Hemd schon fast nicht mehr vorhanden. Keva hockte sich neben ihm nieder und schüttelte ihn sanft.
"Suriu!" flüsterte sie. Suriu schreckte auf.
"Keva!" krächzte er.
"Schsch!" flüsterte Keva und legte ihm den Finger auf die Lippen: "Es geht mir gut!"
"Was ist passiert?" fragte Suriu. Keva berichtete ihm alles, was geschehen war. "Nivesti!" murmelte Suriu dann: "Könnt Ihr mir bitte meine Nase geradebiegen!"
"Tut mir leid, das würde auffallen!" seufzte Nivesti.
"Ich habe eine Idee!" sagte Keva: "Ich habe die halbe Nacht darüber gegrübelt!"
"Eine Idee?" fragte Nivesti.
"Selcai will dich töten, Suriu!" sagte Keva: "Aber vielleicht kann ich ihn davon abhalten, wenn ich ihm sage, dass ich dich demütigen will!"
"Wird er dir glauben, dass du es wirklich so meinst?" fragte Suriu.
"Ich sagte doch, er glaubt, dass er mich verzaubert hat!" erklärte Keva: "Dass die magische Energie mir soviel genützt hat, kann er nicht wissen!"
"Er kann doch spüren, wenn ein Magier magische Energie hat!" murmelte Suriu. Keva lächelte.
"Ich hatte keine magische Energie!" flüsterte sie: "Nur unser Kind!"
"Unser Kind!" murmelte Suriu.
"Und meine Idee ..." sagte Keva: "Du wirst in den Speisesaal gebracht, wo du auf Selcai und mich treffen wirst!"
"Demütigend!" murmelte Suriu. Keva stand auf und strich ihr Kleid glatt.
"Ich komme gleich wieder!" sagte sie: "Aber der Wächter darf nicht wissen, dass ich schon hier war! Und ich heisse Dilta!" Suriu nickte und legte sich wieder auf die Pritsche. Nivesti liess das Licht verschwinden. Keva schlüpfte wieder durch die Tür und stellte sich hinter den Wächter.
"Beweg dich!" flüsterte Nivesti. Der Wächter öffnete die Türe ganz und betrat das Verlies. Keva stellte sich neben ihn und stiess Suriu mit dem Fuss an.
"Dilta!" rief Suriu. Er sprang auf. Keva ging zu ihm, packte ihn an den Schultern und küsste ihn.
"Selcai hatte recht!" sagte sie: "Du kannst nicht küssen!" Dann drehte sie sich um und marschierte aus dem Verlies.
"Dilta!" schrie Suriu: "Tu mir das nicht an!" Der marcoovische Wächter verschloss die Türe und lachte ihn aus.

Keva und Selcai ritten in Begleitung von sieben lavischen Dienern, sieben marcoovischen Kämpfern und sieben valekischen Soldaten durch die Kaiserstadt. Selcai verschenkte sehr viel Geld an Bauern, Fischer, Händler und Handwerker, hörte sich Geschichten an und gab einem kleinen, blinden Jungen das Augenlicht zurück. Schliesslich kamen sie auch im Lager der Perlentaucher an.
Koré war als einziger an Land und eichte die Waage. "Perlentaucher! Eure Kollegen tauchen noch?" rief Selcai. Koré drehte sich zu ihm und nickte.
"Aber die meisten sind schon lange unten und werden sicher bald wieder kommen!" sagte er. Selcai stieg ab und hob Keva vom Pferd. Mariás und Bendri tauchten auf und liefen an Land.
"Zwanzig Züge hinter dem verkeilten Baumstamm ist ein richtiges Nest!" rief Mariás atemlos.
"Hast du es für dich markiert?" fragte Koré.
"Nein, es war schon eine Markierung dran!" erklärte Mariás: "Von Niban!"
"Niban?" keuchte Bendri und blinzelte zu der Stelle, an der sie damals Niban gefunden hatten. Im Sand steckte ein langer Ast, an dem oben ein schwarzes Säckchen befestigt war.
"Niban!" murmelte Koré und schielte zu Selcai.
"Ich spare mir die Höflichkeiten!" sagte Selcai: "Wie ich sehe, habt Ihr alles begriffen, Koré! Ihr seid doch Koré?" Koré nickte. "Bei Euren Perlentauchern ist doch auch eine Santen, nicht wahr?"
"Nicht mehr!" sagte Koré: "Sie ist in die Ivene zurückgekehrt!"
"Warum?"
"Angst!" sagte Koré: "Sie ist ein Spiegelwesen!"
"Aber Spiegelwesen lassen ihre Freunde nicht im Stich!" zischte Selcai. Koré zuckte die Schultern.
"Vielleicht hat sie dort unten mehr Freunde!" meinte er. Selcai gab sich zufrieden, als Kelías, Raico und Liro auftauchten.
"Kelías, treuer Diener!" rief er: "Sagst du mir, wo die Santen ist?" Kelías holte einige Male tief Luft.
"Keva wollte die Santenmagier holen!" sagte er dann. Selcai grinste selbstgefällig.
"Wann kommt sie zurück?" fragte er. Kelías zuckte die Schultern. Selcai grinste noch breiter. "Tief Luft holen!" sagte er: "Eine Achtelstunde!" Dann schleuderte er eine Energiekugel auf Kelías und umhüllte ihn mit einer Schicht aus Wasser. Keva schluckte und sah sich besorgt um. Aber sie wusste, dass Kelías so lange aushielt. Trotzdem kratzte sie sich am Nacken und bat so Nivesti, einzugreifen. Die Schmetterlingsfee teleportierte sich hinter die Waage.
Selcai wartete eine Achtelstunde lang, während der Zayadra, Meto und Levar auftauchten, und lachte dann laut auf. "Verlasst Euch nicht auf ein Wort!" rief er. Kelías sah ihn wütend an. Nivesti kletterte unbemerkt auf Korés Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann schwang sie ihren winzigen Zauberstab, während sie sich fast völlig hinter Korés strohblonder Mähne versteckte. Koré streckte seine Hand aus und schwang sie durch die Luft. Die Wasserhülle floss zu Boden und Kelías atmete auf. "Weisst du jetzt, wann sie zurückkommt?" fragte Selcai. Kelías nickte.
"In zwölf Tagen!" murmelte er. Selcai hob Keva auf ihr Pferd und stieg selbst auf seines auf. Keva hob ihre Haare etwas von ihrem Nacken an, worauf Nivesti sich wieder in ihr Versteck teleportierte.
"Miga Koré!" sagte Selcai: "Beeindruckend!" Koré zuckte die Schultern und wandte sich wieder der Waage zu. Selcai lenkte sein Pferd zu Koré und beugte sich zu ihm nieder. "Ich werde auf Euch achten!" flüsterte er. Dann ritt er zurück zu Keva. "Ich will gerecht sein!" sagte er und warf einen dicken Beutel mit Geld vor Korés Füsse.
"Wir brauchen es nicht!" sagte Bendri. Lange nahm keiner den Beutel auf. Doch schliesslich bückte sich Zayadra und warf das Geld Selcai zurück. Selcai fing den Beutel auf und warf ihn ins Wasser. Dann ritt er aus dem Lager. Keva, die Diener, die Soldaten und die Kämpfer folgten ihm.
"Wieso nehmen die Perlentaucher das Geld nicht an?" fragte Keva.
"Sie sind zu stolz!" sagte Selcai: "Ausserdem haben sie mich belogen!"
"Belogen?"
"Die Santen ist an Land!" meinte Selcai: "Ich werde sie finden! Jeder Hinweis auf Santen muss mir gemeldet werden! Und die Perlentaucher werden bestraft!"
"Wie?" fragte Keva.
"Du wirst es sehen!" lachte Selcai. Dann trieb er sein Pferd in den Galopp. Keva und die Begleiter sprengten ihm hinterher.
Das Mittagessen schmeckte Keva sehr gut. Sie liess das, was sie als Fleischbällchen erkannt hatte, einfach liegen und stillte den Hunger mit Salat und Gemüse. Selcais Tischmanieren waren sehr vornehm. Er ass langsam, führte ein unterhaltsames Tischgespräch mit Selina und ihrem Bruder Direlcai und nahm niemals zu grosse Bissen. Allerdings schien er vergessen zu haben, dass Keva neben ihm sass. Und auch Metes ignorierte er völlig. Nach einer Weile meldete ein Diener, dass die drei Feldherren der Armee Meldung erstatten wollten. Selcai liess das Tor des Speisesaals öffnen. Zwei Männer und eine Frau traten ein.
Die beiden Männer erkannte Keva zumindest auf den ersten Blick nicht, aber die Frau war Sita. Keva hoffte nur, dass sie sie nicht erkannte.
"Dilta, ich möchte dir die Anführer meiner Truppen vorstellen!" sagte Selcai. Keva drehte den Kopf zu ihm und lächelte ihn an. "Das sind Lanem, du kennst ihn, Feldherr der valekischen Armee, Digolán, Anführer der marcoovischen ersten Kämpfer, und Sita, Anführerin der Kampfmagier! Selina ist die Anführerin der marcoovischen zweiten Kämpfer!"
Lanem hatte sich also gepflegt und aufgeputzt, dass es schwer war, in ihm den alten Mann zu erkennen. Nun musterte Keva Digolán. Er war blond und das marcoovische Muster auf seiner Stirn war kaum zu sehen. Seine Kleidung bestand aus einem schwarzen Kettenhemd, einer ebenso schwarzen Hose und einem roten Umhang. Unter dem Kettenhemd blickten zwei kurze, weisse Ärmel hervor. Waffen trug er keine und den glänzenden Helm hatte er sich unter den Arm geklemmt.
"Ich grüsse Euch, Kaiserin Dilta!" sagte Sita. Sie trug dieselbe Uniform wie Digolán. Keva lächelte sie freundlich an. Nivesti verkroch sich noch tiefer in Kevas Kragen.
"Sind die Truppen bereit?" fragte Selcai. Sita nickte.
"Stets bereit, Selcai! Die Magier, die Kämpfer, die Soldaten!" sagte Lanem: "Was ist das nächste Ziel?"
"Kalarien!" sagte Selcai.
"Wäre es nicht klüger, die Grenzlinien so kurz wie möglich zu halten?" fragte Keva: "Zuerst Lavien und Mischann'ato?"
"Wenn wir Kalarien haben, läuft Lavien gleich über!" erklärte Sita: "Das war das letzte Mal auch so! Und Mischann'ato war noch nie ein Problem!" Sie lächelte Keva zuckersüss, aber abschätzig an.
"Kalarien!" bestimmte Selcai. Dann winkte er Sita, Lanem und Digolán aus dem Raum. "Dilta, was soll mit deinem toten Gemahl geschehen?" fragte er dann. Keva kratzte sich am Kinn.
"Es stört schon sehr, einen nicht eingetragenen Bürger durchfüttern zu müssen!" meinte sie: "Aber ihn leiden zu lassen, ist eine Entschädigung dafür!"
"Wie soll er leiden?" fragte Selcai: "Hungern lassen, auspeitschen, verprügeln, in der Wüste oder im Schnee anketten?"
"Ich dachte eher an etwas ... weniger Körperliches!" meinte Keva: "Eher eine seelische Qual!"
"Oh, ich beginne zu verstehen!" lachte Selcai: "Er liebt dich schliesslich!" Keva nickte bedeutsam.
"Lass ihn waschen und einkleiden!" sagte sie: "Er soll mit uns speisen!" Selcai winkte einem der sieben lavischen Diener, die an den Wänden sassen, der dann unterwürfig zu ihm kam, und befahl ihm leise, Suriu zu bringen.
"Wir werden auf deinen toten Gemahl warten!" sagte er dann. Keva lud ihren Teller wieder voll und zerkleinerte sorgfältig die Salatblätter.
"Wir haben Zeit!" murmelte sie. Selcai widmete sich seinen Fleischbällchen. Selina grinste Keva an. Einige Zeit später öffneten einige Diener das grosse Tor und führten Suriu an den Tisch. Keva blickte nur kurz auf. Suriu trug ein neues rotes Hemd und eine neue schwarze Hose, die von einem silbernen Gürtel gehalten wurde. Seine Nase war wieder gerade, aber das blaue Auge hatte er immer noch.

"Willkommen, ehemaliger Kaiser Suriu!" sagte Selcai und hob die Hand. Suriu wurde quer durch den Speisesaal geschleudert.
"Das war jetzt schon sehr körperlich!" kicherte Keva, obwohl sie Surius Schmerzen förmlich selbst spürte: "Aber mach nur, er sollte es nur überleben!"
"Dilta!" schrie Suriu.
"Das genügt mir schon!" sagte Selcai. Er stand auf und trat zu Suriu. "Vielleicht später wieder!" Dann reichte er Suriu seine Hand und zog ihn hoch.
"Mörder!" knurrte Suriu. Selcai lächelte ihn eisig an und schob ihn zu einem Stuhl zwischen Keva und Direlcai.
"Setzt Euch!" sagte er: "Und lasst es Euch schmecken!" Zwei Diener legten Teller und Besteck auf den Tisch und Selcai nahm wieder neben Keva Platz. Suriu setzte sich zögernd.
"Pilze?" fragte Keva. Suriu schob ihr schweigend den Teller hin und Keva schöpfte ihn voll.
"Könnt Ihr mir einige Ratschläge geben?" fragte Selcai: "Wie wird man als Kaiser beliebt?"
"Das ist ganz einfach!" sagte Suriu ruhig: "Man muss nur nach einem Tyrannen Kaiser werden!" Keva lehnte sich zu Selcai und streichelte seinen Hals. Metes zog die Augenbrauen zusammen und suchte den Blickkontakt zu Suriu, der wie hilfesuchend um sich sah. Keva lächelte leicht, als sie es bemerkte. Sie widmete sich wieder ihrem Salat.
"Abräumen!" befahl Selcai, als auch Suriu seinen Teller leergegessen hatte. Die sieben Diener liefen mit den Schüsseln und Tellern aus dem Speisesaal. Selcai versteinerte Suriu und fragte Keva: "Und nun? Was tun wir jetzt mit ihm?"
"Er bekommt ein Zimmer!" sagte Keva: "Er wird wie ein Gast behandelt! Nur ohne Wache sein Zimmer verlassen darf er nicht!"
"Du hast ihn schon sehr leiden lassen!" sagte Selcai grinsend: "Ob er das noch lange aushält, ohne verrückt zu werden?"
"Wir werden es herausfinden!" kicherte Keva. Selcai liess Suriu sich wieder bewegen. Dann stand er auf und verliess mit Keva im Arm den Speisesaal, Selina und Direlcai marschierten hinter ihnen her, und hinter Selina trugen wieder zwei Diener ihre Schleppe. Selcai winkte den beiden Wachen, die vor dem Tor zum Speisesaal im Korridor standen.
"Geleitet den ehemaligen Kaiser Suriu in ein kaiserliches Gemach!" befahl er: "Behandelt ihn wie ein rohes Ei, schlagt und stosst ihn nicht! Er soll sich wie ein Gast fühlen! Doch lasst ihn niemals aus den Augen, es sei denn, er befindet sich in seinem Gemach!" Die Wachen marschierten in den Speisesaal.
"Wer hält jetzt hier Wache?" fragte Keva. Selcai zuckte die Schultern.
"Es kann ohnehin niemand ohne mein Wissen in den Palast eindringen!" meinte er. Keva grinste.
Laute Schritte hallten aus dem Speisesaal der Palastmagier. Selcai und Keva drehten sich um. Neivas, Yanatus Sohn, stapfte auf Selcai zu.
"Wer seid Ihr?" fragte Selcai. Es war klar, dass ihn ein nicht verwandelter Marcoova unter den Palastmagiern verwunderte.
"Ich bin Fürst Neivas von den Anzaath!" rief Neivas: "Meinen Vater habt Ihr getötet, meine Mutter habt Ihr getötet, aber mich nicht! Ihr wusstet nicht, dass Fürst Malin schon ein Kind hatte!" Selcai brach in schallendes Gelächter aus.
"Und Ihr kommt einfach so hierher?" rief er: "Ihr sagt mir, dass Ihr Fürst der Anzaath seid! Habt Ihr keine Angst vor mir?"
"Besiege ich Euch, ist die Insel Laharia Euch los!" zischte Neivas: "Besiegt Ihr mich, bin ich bei meinen Eltern!" Keva schluckte. Neivas' Worte zeugten von grossem Hass, aber sie waren unüberlegt.
"Ich bringe Euch gerne zu Euren Eltern!" hauchte Selcai und hob seine linke Hand. Dann ballte er sie langsam zur Faust. Neivas schnappte nach Luft und griff sich an den Hals. Selcai grinste dämonisch und zog seine Hand weiter zusammen, bis seine Knöchel weiss hervortraten. Neivas' Gesicht lief blau an und er brach zusammen. Mit letzter Kraft deutete er auf Selcai und schleuderte ihn zu Boden, dann erstickte er. Keva hatte alle Hände voll zu tun, Nivesti unter ihren Haaren festzuhalten. Sie konnten ihn nicht retten und würden auch auf jeden Fall selbst beim Versuch sterben. Selcai grinste und stiess Neivas mit dem Fuss an.
"Ich bin nicht tot!" sagte Neivas leise. Selcai starrte den jungen Fürsten verwirrt an, doch dann lächelte er wieder.
"Selina, bring ihn in den Kerker!" sagte er. Selina band ihre Schleppe von der Hüfte los, packte Neivas am Arm und zog ihn die Treppe hinunter.
"Wieso konntest du ihn nicht töten?" fragte Keva.
"Ich weiss es nicht!" murmelte Selcai und blickte seine Hände an: "Ist er unsterblich?"
"Niemand ist unsterblich!" sagte Keva: "Nur langlebiger als andere! Aber nach dem Tod kann niemand so einfach aufstehen!" Selcai nickte. Er legte wieder einen Arm um Keva und führte sie in den Garten. Direlcai folgte ihnen.
"Meine Mutter fühlt sich vernachlässigt!" sagte er. Selcai setzte sich auf ein niedriges Steinbänkchen und beobachtete die Fische im Teich. Keva setzte sich neben ihn.
"Dann kümmere dich um sie!" sagte Selcai. Direlcai hob einen faustgrossen Stein auf und warf ihn in den Teich, dann ging er. "Die armen Fische!" murmelte Selcai: "Er hat sie erschreckt!"
"Die Fische werden es überleben!" sagte Keva. Selcai strich durch ihre Haare. Nivesti teleportierte sich schnell unter das Bänkchen in Sicherheit.
"Du hast etwas Besonderes an dir!" flüsterte Selcai. Keva blinzelte zu einem der Fenster im zweiten Stock, aus dem Suriu zu ihr sah. Plötzlich schlang Selcai seine Arme um sie und küsste sie. Keva spürte, wie Nivesti ihr magische Energie zufliessen liess, doch diesmal war es nicht nötig. Selcai versuchte nicht, sie zu verzaubern. Keva löste sich von ihm und nahm ihm die Krone vom Kopf. Dann küsste sie ihn auf die Stirn und legte seinen Kopf an ihre Brust.
"Du hast auch etwas Besonderes an dir!" murmelte sie. Nivesti flatterte aufgeregt knapp über Selcais Kopf und fuchtelte mit den kleinen Armen herum. Keva deutete mit einem Finger zu Suriu und Nivesti flog los. Suriu winkte ihr zu. Keva winkte mit zwei Fingern zurück.
"Irgendwie muss ich Metes loswerden!" murmelte Selcai: "Aber später!" Er grinste. "Vielleicht essen wir heute abend ohne meine marcoovische Familie!" sagte er. Keva lachte leise.
"Im Speisesaal ist man niemals unbeobachtet!" meinte sie: "Wir müssten schon am Gipfel der Mutter essen!" Selcai schüttelte sich.
"Dort ist es zu kalt!" seufzte er: "Wie wäre es mit einem Lokal in der Stadt?"
"Natürlich!" rief Keva: "Das ist eine gute Idee! Aber wir müssten uns verkleiden, sonst redet gleich die ganze Stadt darüber!"
"Das ist kein Problem!" sagte Selcai: "Soll ich mich in einen Valeker verwandeln, oder genügt es schon, wenn ich rote Haare habe?"
"Und die Augen!" meinte Keva: "Die fallen sonst auf!"
"Grüne Augen?" Keva nickte. "Und wie verkleidest du dich?" fragte Selcai. Keva dachte nach.
"Ich glaube, es genügt schon, wenn ich nur einen Scheitel mache!" meinte sie dann: "Ich habe schliesslich kein so einprägsames Gesicht, wie du!" Selcai lächelte sie an. Keva lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Selcai war so freundlich und zärtlich, er schien eine ganz andere Person zu sein, aber sie würde sich von ihm nicht täuschen lassen.
"Ich gehe in die Bibliothek der magischen Fakultät!" sagte Selcai dann.
"Kannst du denn dorthin?" fragte Keva: "Sie ist doch noch stärker geschützt als der Palast!"
"Ich kann!" sagte Selcai: "Obwohl es sehr anstrengend ist!" Dann stand er auf und teleportierte sich weg. Keva seufzte leise und blickte zu Suriu. Nivesti landete neben Keva, berührte sie am Knöchel und teleportierte sie und sich in Surius Zimmer.

"Keva!" flüsterte Suriu. Keva liess sich in seine Arme fallen und begann zu schluchzen. "Es wird alles gut!" murmelte Suriu und drückte sie an sich. Keva nickte und wischte sich die Tränen aus den Augen.
"Du musst fliehen!" murmelte sie: "Lange wird er sich nicht mehr mit seelischer Qual zufriedengeben!"
"Wie?" fragte Suriu.
"Alle Magier werden überwacht!" sagte Nivesti: "Ausser mir! Und ich kann den Schild ohne Blitze passieren!" Suriu nickte, er hatte verstanden.
"Nimm Neivas auch mit!" sagte Keva. Nivesti setzte sich auf eine Stuhllehne.
"Ich weiss, wieso Selcai Neivas nicht töten konnte!" sagte sie. Keva und Suriu sahen sie an.
"Selcai wollte Neivas töten?" murmelte Suriu. Keva nickte.
"Aber er hat es nicht geschafft!" sagte sie. Nivesti schlug die Beine übereinander.
"Neivas ist Selcais Sohn!" erklärte sie.
"Aber ich dachte, Neivas Vater wäre Fürst Malin von den Anzaath!" rief Suriu.
"Das dachte ich auch!" sagte Nivesti: "Das dachten alle! Aber Malins Gemahlin Yanatu war auch Selcais Gemahlin!" Keva seufzte. "Entweder wusste es Yanatu selbst nicht, oder sie hat es verschwiegen, um Neivas keine Probleme zu bereiten!" fuhr Nivesti fort: "Um ihm das zu ersparen, was Dantia durchgemacht hat!"
"Sollen wir es Neivas sagen, oder ist es besser, wenn wir ihn nicht ... entwurzeln?" fragte Keva.
"Er muss es erfahren!" sagte Suriu: "Aber wie sollen wir ihn befreien?" Er zuckte zusammen, als jemand an die Türe klopfte. Keva packte Nivesti und versteckte sich hinter dem schweren, roten Vorhang. Suriu trat zur Türe und öffnete sie. Metes trat ein. Zwei lavische Diener wollten ihr folgen, aber sie scheuchte sie weg und schloss dann die Türe.
"Ich grüsse Euch, Kaiser Suriu!" sagte sie.
"Spart Euch die Höflichkeiten!" knurrte Suriu: "Was wollt Ihr?" Er marschierte zum Fenster, wo Nivesti ihn besser beschützen konnte.
"Ich will mich rächen!" sagte Metes. Suriu sah schweigend aus dem Fenster. "Selcai ist mein Gemahl!" flüsterte Metes: "Aber er bricht jedes Versprechen!"
"Was hat Eure Rache mit mir zu tun?" fragte Suriu.
"Ihr könnt mir helfen!" sagte Metes und trat zu Suriu. Sie stand jetzt nur zwei Schritte von Keva entfernt, die gespannt den Atem anhielt.
"Wie?" fragte Suriu und drehte sich zu Metes: "Er hat Euch versprochen, Dilta nicht zu küssen, ist es so? Und ich bin der Auslöser dafür, dass er es doch getan hat! Wollt Ihr mich töten?"
"Nein!" Metes lachte. "Ihr seid nicht der Auslöser!" erklärte sie: "Der Auslöser ist Dilta selbst! Sie liebt Selcai, denn er hat sie verzaubert! Vor ihr braucht er sich nicht zu fürchten, also gibt er sich ihr hin!"
"Wollt Ihr Dilta töten?" fragte Suriu leise. Metes schüttelte den Kopf.
"Ich will Euch befreien!" sagte sie.
"Kann ich Euch denn trauen?" fragte Suriu: "Ihr seid schliesslich Selcais Gemahlin!" Er sah Metes in die Augen. "Wie kann ich sicher sein, dass nicht Selcai Euch geschickt hat?"
"Weil Selcai sie loswerden will!" sagte Keva und kam hinter dem Vorhang hervor. Metes stiess einen leisen Schrei aus und wankte, dass Suriu sie festhalten musste.
"Nein!" flüsterte sie: "Alles verloren!" Nivesti flatterte vor Metes herum.
"Überhaupt nichts ist verloren!" rief sie Metes aufgeregt zu: "Die Gleichgesinnten finden nur langsam zusammen!" Metes hatte die Augen geschlossen und murmelte leise vor sich hin. Keva führte sie zu einem Stuhl.
"Ich kann Euch beweisen, dass ich auf Eurer Seite bin!" sagte sie.
"Nicht!" rief Suriu: "Tu das nicht! Vielleicht sagt sie es Selcai, um ihn zurückzugewinnen!"
"Das wird sie nicht!" knurrte Nivesti: "Ich werde sie nicht aus den Augen lassen, so wahr ich Miga Nivesti heisse!"
"Was auch immer es ist, ich werde es ihm nicht sagen!" flüsterte Metes und blickte Keva ängstlich an. Keva trat in den kleinen Waschraum und feuchtete ein Tuch an. Dann setzte sie sich Metes gegenüber an den kleinen Tisch und entfernte ihre Schminke. "Santen!" murmelte Metes.
"Ich bin Keva!" flüsterte Keva. Metes starrte sie mit offenem Mund an.
"Er hat Euch nicht verzaubert!" murmelte sie schliesslich: "Aber Ihr tut so, als hätte er Euch verzaubert!" Keva nickte. Metes lachte leise. "Es ist schon fast Rache genug, sich nur vorstellen zu können, wie sein Gesicht aussieht, wenn er es erfährt!"
"Aber Ihr werdet mich nicht verraten!" sagte Keva.
"Ich werde Euch nicht verraten!" sagte Metes. Nivesti schminkte Keva wieder. "Und ich werde Euren Gemahl jetzt befreien!" murmelte Metes und stand auf.
"Das können wir selber!" sagte Nivesti: "Aber wir wissen noch nicht, wie wir Neivas befreien sollen, ohne dass der Verdacht auf Keva fällt!"
"Da weiss ich etwas!" meinte Metes grinsend: "Ich weiss, dass das Verlies, in dem Ihr wart, Kaiser Suriu, jetzt leer ist! Miga Nivesti, Ihr teleportiert uns alle dorthin, versteinert die Wache und ..."
"Aber in den Verliesen kann nicht gezaubert werden, wenn die Türen verschlossen sind!" unterbrach Keva. Metes seufzte.
"Aber ich bin klein genug und kann mich unbemerkt hinter eine Fackel teleportieren!" rief Nivesti: "Dann versteinere ich die Wache und hole euch!"
"Und wie öffnen wir die Türe?" fragte Suriu: "Es ist doch so, dass nur die Wache sie öffnen kann!"
"Ich kann die Türe auch öffnen!" sagte Metes. Nivesti teleportierte sich weg und kam beinahe sofort wieder zurück.
"Schnell!" rief sie. Metes, Suriu und Keva traten so nah zusammen, dass Nivesti jeden von ihnen berühren konnte, dann teleportierte Nivesti sie alle und sich selbst in den Keller. Die Wache stand versteinert neben der Treppe. Metes lief zu einer Türe ganz hinten und öffnete sie. Keva trat ein.
"Kommt mit, Neivas!" sagte sie, nahm ihn am Arm und zog ihn aus dem Verlies. Metes verschloss die Türe wieder.
"Los! Alle zusammen!" zischte Nivesti. Metes, Suriu, Keva und Neivas liessen sich von Nivesti in Surius Zimmer teleportieren. Dann verschwand die Schmetterlingsfee wieder kurz.
"Für mich stellt sich da eine grosse Frage!" murmelte Neivas, als Nivesti wieder da war.
"Wieso konnte er Euch nicht töten!" sagte Nivesti. Neivas nickte. "Er kann Euch nicht töten!" erklärte Nivesti: "Nicht mit Magie jedenfalls!" Metes blickte auf. Nivesti flog zum kleinen Tisch und setzte sich auf eine faustgrosse Zierfrucht. Neivas setzte sich auf einen Stuhl und sah Nivesti gespannt an.
"Wieso konnte er ihn nicht töten?" fragte Metes und setzte sich Neivas gegenüber. Sie kratzte sich am Kinn und murmelte: "Es gibt nur drei magische Beschränkungen für den Tod!"
"Vorfahren, Nachfahren und Geschwister!" sagte Nivesti. Metes knirschte mit den Zähnen, als sie es begriff. Neivas schossen die Tränen in die Augen.
"Ich bin an allem Schuld!" hauchte er.
"Nein, Neivas, Ihr habt doch nichts Verwerfliches getan!" tröstete Keva ihn.
"Ein Versehen!" flüsterte Neivas: "Diese verfluchten Delnia!"
"Delnia?" fragte Metes: "Die Wunschsteine?"
"Die nie genau das tun, was man sich wünscht!" sagte Suriu.
"Ich habe mir gewünscht, meinen Vater kennenzulernen!" flüsterte Neivas: "Das Delnia hat ihn befreit!" Keva setzte sich neben ihn.
"Ihr könnt es jetzt nicht mehr ändern, Neivas!" sagte sie: "Und niemand wird Euch vorwerfen, dass Ihr Euren Vater kennenlernen wolltet! Ihr wusstet schliesslich nicht, dass es Selcai ist!" Sie berührte ihn sanft an der Schulter. "Jetzt können wir nur zusammenarbeiten, um seiner Herrschaft möglichst bald ein Ende zu setzen!" Neivas nickte und wischte sich die Augen trocken. "Nivesti, Ihr bringt Suriu und Neivas nach Piltande!" bestimmte Keva schliesslich: "Dann bleibt Ihr bei Metes und bringt sie in Sicherheit, falls Selcai ihr etwas antun will!" Nivesti flog zu Suriu und setzte sich auf seine Schulter. Neivas stand auf und trat zu Suriu und Nivesti. "Viel Glück!" sagte Keva, dann umarmte und küsste sie Suriu zum Abschied.
"Ich bin gleich zurück!" sagte Nivesti, bevor sie, Neivas und Suriu verschwanden.