Etwas großes erwartet uns - Fanfictions
AKT I
Erstes Kapitel
1. Szene: Zwischen Traum und Wachen
Klirrende Schwerter und Rüstungen, das Sirren von Pfeilen, das Splittern zerbrechender Schilde, die qualvollen Schreie der Verwundeten und die mordlüsternen der Angreifer...
Dann plötzlich andere, ältere Bilder, undeutlich, überlagert von einem Nebel aus verdrängten Erinnerungen: Eine Frau in einem finsteren Raum, vor einer Menschenmenge, die kalt auf sie herabblickt; dann nur noch ihr Gesicht, die großen gelbgrünen Augen leer und ohne Glanz. Und dieses unglaublich traurige Lächeln... ein Schrei, der nicht ihrer war und Tod, überall Tod...
Plötzlich erwachte er aus seinem Albtraum. Ein stechender Schmerz im Bein hatte ihn geweckt. Er schlug die Augen auf und sah über sich ein Gesicht, schwarz vor dem dämmrigen Licht eines sehr frühen Morgens, durch langes Haar noch zusätzlich in Schatten getaucht.
Dieser Gesang...war sie es? Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er sich erinnerte. Das war kein Albtraum gewesen, es war wirklich passiert. Sie konnte es nicht sein, sie war tot...
Aber wer war sie dann, die sich da über ihn beugte? Ein Engel? Oder eine Walküre, die die in der Schlacht gefallenen nach Walhalla geleitete? Nein, das konnte nicht sein, er war nicht tot, dagegen sprach der Schmerz in seinem rechten Bein, der ihn geweckt hatte. Außerdem glaubte er nicht an so etwas. Nicht mehr. Er glaubte an gar nichts mehr, seit...
Die Gestalt gab ihm etwas zu trinken. Der Geschmack kam ihm wage bekannt vor, abe er war zu müde, um darüber nachzudenken. Er wollte sie fragen, wer sie war, warum sie ihm half, aber in diesem Moment verlor er wieder das Bewusstsein.
2. Szene: Dämmerlicht
Leichenfledderer, Aasgeier. Die Leute hatten keine Ahnung, von irgendetwas musste man ja leben und die hier würden ihre Ausrüstung ja kaum vermissen. Nun, die Bewusstlosen und Verletzten vielleicht schon, aber was, wenn auch diese nach der Schlacht starben? Die gebückte Gestalt des Mannes huschte von Leiche zu Leiche. Er ließ sich von den Nebel- und Dunstschleiern, die über der blutgetränkten Ebene hingen nicht beirren. Immer auf der Spur der Heere reisend, die dieses Land durchwanderten und nichts zurückließen, als Vernichtung und Tod, hatte er schon zu viele solcher Szenarien gesehen, zu oft den Geruch von trocknendem Blut in der Nase gehabt und zu oft das Stöhnen der Sterbenden gehört, um noch Mitleid empfinden zu können.
Von irgendetwas musste man ja leben...
Und das bisschen Menschlichkeit war ein geringer Preis für das Überleben in diesen schweren Zeiten.
Plötzlich trug der Wind, der mit der Morgendämmerung aufgekommen war ein Geräusch heran, das nicht hierher passte. Ein leises, trauriges Lied, gesungen von einer Frauenstimme in einer ihm fremden Sprache. Die Härchen in seinem Nacken stellten sich vor Angst auf, als er eine Gestalt aus dem Dunst auftauchen sah. Sicherlich keine andere menschliche Aaskrähe, wie er. Da war kein verstohlenes Schleichen, dieses schattenhafte Wesen schien beinahe über das Schlachtfeld zu schweben. Und dann dieser Gesang, diese Melodie, die nicht von dieser Welt zu stammen schien...
Die unzähligen Geistergeschichten, die man sich erzählte kamen ihm mit einem Schlag in den Sinn, all die schauerlichen Erzählungen aus alter Zeit, an die er nie geglaubt hatte. Es war ein Gespenst, eine Todesfee oder eine noch schrecklichere Kreatur, die hier durch den Staub des vergangenen Kampfes auf ihn zukam, um ihn zu strafen, ihm sein Leben oder seine Seele zu stehlen. Das Lied war verklungen. Der kalte Schweiß brach ihm aus und er war schon über alle Berge, als das geheimnisvolle Wesen die Stelle erreichte, an der er soeben noch gestanden hatte.
Es war eine junge Frau, gehüllt in einen dunkelgrünen Umhang, der im schwachen Licht der Dämmerung fast schwarz wirkte. Ihr Gesicht wurde von einer Kapuze verborgen, nur einige lange Strähnen braunen Haares waren zu sehen. Auf einen langgezogenen Pfiff von ihr kam ein riesiges Schlachtross vom Rand des Feldes angetrabt und beugte seinen schweren Kopf zu ihr herunter, um sie zu begrüßen. Sie kraulte es hinter den Ohren und ging dann weiter zwischen den Gefallenen entlang. Ab und zu beugte sie sich herab, um etwas aufzuheben oder zu prüfen, ob irgendjemand vielleicht noch am Leben war. Das Pferd trottete ruhig hinter ihr her.
3. Szene: Ein neuer Tag
Yaro erwachte. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Ein langer, traumloser Schlaf hatte die düsteren Visionen erstickt, die ihn verfolgten. Was hatte ihm diese Gestalt nur zu trinken gegeben? Und wer war das gewesen? Und dieses Lied, woher kannte er es nur?
Er setzte sich vorsichtig auf und sah sich um. Er befand sich unter einer alten Buche die etwas abseits des Waldes am Rande des Schlachtfeldes stand. Sein Retter, wer immer es war, hatte ihn hierher gebracht und sich um ihn gekümmert. Er war gegen die kühle Frühlingsluft in seien Umhang gehüllt worden. Der Pfeil, der ihn während der Kämpfe getroffen hatte, war fachmännisch aus seinem Bein entfernt worden und ein sauberer Verband bedeckte die Wunde. Neben ihm standen eine hölzerne Schale mit etwas Wasser und ein Stück Brot. Aber offensichtlich war niemand in der Nähe. Er war völlig allein.
Nachdem er gegessen und getrunken hatte, versuchte er aufzustehen und zu laufen. Es ging erstaunlich gut, der Pfeil schien ihn nicht allzu schwer verletzt zu haben. In einiger Entfernung entdeckte er ein Häufchen zusammengesammelter Ausrüstung. Da war sein eigener Rucksack, in dem sich Geld und die wenigen persönlichen Dinge befanden, die er auf seiner Flucht mitgenommen hatte. Direkt daneben lagen ein Hemd und eine Hose, beide weit geschnitten und aus demselben tief rotbraunen Stoff, Shalún-Kleidung! Nun, das verwunderte ihn nicht. Nur Leute vom alten Volk konnten so verrückt sein, Verwundeten zu helfen, wenn sie zum Dank überall verleumdet und verfolgt wurden. Es war eine Schande! Yaro war froh, seine zerrissene, blutbefleckte Kleidung wechseln zu können.
Er wollte schon weitergehen, als er in der Nähe sein Schwert, ein Schild und ein Kettenhemd liegen sah, fast ein wenig versteckt, so als hätte sein Retter nicht gewusst, ob es klug wäre, ihm diese Gegenstände zu überlassen. Typisch Shalún! Yaro lächelte flüchtig. Er nahm sein Schwert wieder an sich, man konnte ja nie wissen und dass er jetzt in dieser Kleidung rumlief würde das Reisen sicherlich nicht ungefährlicher machen. Schild und Kettenhemd blieben liegen, als er sich wieder auf den Weg machte. Er benutzte so etwas schon lange nicht mehr. Er war unvorsichtig und leichtsinnig geworden auf seiner Flucht, das wusste er, aber es war ihm egal, wie fast alles.
Er ging am Waldrand entlang, um den Weg wiederzufinden, auf dem er mit seiner Truppe an diesen Ort gekommen war, von der außer ihm anscheinend niemand das Gemetzel überlebt hatte. Sie hatten keine Chance gehabt. Niemand von ihnen hatte mit dem Hinterhalt gerechnet und ihre Gegner waren ihnen zahlenmäßig weit überlegen gewesen. Wie schon so oft verspürte er einen brennenden Hass auf den obersten Heerführer Angoaz, diesen Mann, der so skrupellos und berechnend mit den Leben anderer spielte. Yaro hatte ihn während der Schlacht gesucht, er wollte endlich mit ihm kämpfen, ihn töten, aber er war nicht dabei gewesen, wer wusste schon, von wo aus er wieder die Fäden zog.
Yaros düsteren Gedanken zum Trotz, sangen die Vögel zwischen den ersten Blättern und Knospen der Bäume und Sträucher und die ersten Insekten schwirrten durch die Luft. Der Himmel war makellos blau, die Sonne schien warm auf die noch kalte Erde und ein sanfter Wind von Meer im Süden hatte den Nebel vertrieben. Die Natur erwachte, doch mit dem Frühling würde auch der Krieg wiederkehren. Dies war nur die erste Schlacht gewesen, die erste bittere Niederlage. Vielleicht würde es dieses Jahr noch schlimmer werden als im letzten, die Priester hetzten schon seit Monaten die Bevölkerung systematisch gegen die Shalún und die Brevit auf. Außerdem hatte es wohl einen Machtwechsel gegeben, Yaro hatte die abstrusesten Gerüchte gehört, aber wie immer schien niemand etwas genaueres zu wissen...
Da war endlich der Weg! Er wollte dem Schlachtfeld so schnell, wie möglich den Rücken kehren. Er würde dem Pfad, der hier durch den Wald führte, wohl eine Weile folgen. Vielleicht einige Tage, vielleicht auch nur bis zur nächsten Abzweigung. Er hatte kein Ziel.
4. Szene: Das Licht der Wahrheit
Der Prediger stand auf der Kanzel der Kirche. Seine Stimme hallte von den steinernen Säulen und Götterfiguren wider, auf die das durch die bunten Fenster scheinende, helle Tageslicht phantastische Muster malte. Das Volk sah auf zu ihm. Niemand in der Menschenmenge, die sich hier versammelt hatte, um seinen Worten zu lauschen, wagte es, auch nur ein Geräusch zu machen. Alle schwiegen andächtig und hörten einzig auf ihn, alle sahen allein zu ihm auf. Voller Ehrfurcht lauschen sie dem, was er verkündete. Wie sehr sehnten sie sich nach einer unerschütterlichen Wahrheit, auf die sie sich in diesen unsicheren Zeiten stützen könnten!
„Die alten Völker, ketzerisch in ihrer Arroganz, sind unsere Feinde. Traut ihnen nicht! Ihre Ahnen verschuldeten den Untergang der alten Welt, in der jeder in Glück und Frieden lebte. In ihrer Anmaßung versuchten sie, Wesen zu erschaffen, die Gott glichen! Gott! Dem Einzigen, dem Wahren!
‚Sieh, Gott’, sagten sie ’Sieh her, wir haben es geschafft! Ein Wesen, nicht nur von Deinem Angesicht, nein, auch von Deinem Geist und Deiner Macht. Jetzt brauchen wir dich nicht mehr, Dich, der Du uns verlassen hast! Dich, der Du unsere Gebete nicht erhörtest und unser Flehen! Nun brauchen wir Dich nicht mehr!’
Und Gott sah auf seine blinden Kinder nieder und weinte. Und die alte Welt ward vernichtet in Krieg. Und dies geschah, weil sie Ihn nicht sahen. Und diese Welt, die neue Welt ward geboren; aus Blut und Tränen.
Das ist ihre alte Schuld, die Sünde der alten Völker, deren Strafe wir erleiden!
Doch nun wollen sie die Herrschaft zurückerlangen, diese Katzendämonen und die Shalún, die noch schlimmer sind, weil sie das Aussehen der Menschen haben. Aber glaubt mir, ihr, die ihr euch heute hier versammelt habt, um die Wahrheit zu hören: Sie sind nicht wie wir! Sie haben uns die Seuche geschickt, um uns zu vernichten. Wie sonst ist es zu erklären, dass schon Tausende der Unsrigen durch diese schreckliche Krankheit den Tod fanden, sie aber keinen dieser Teufel heimsucht?
Sie wollen uns töten, uns, die wir für das Gute und Gerechte stehen. Die wir, ohne zu klagen, Buße tun für ihre Verfehlungen. Die wir die Herrlichkeit Gottes ehren, den sie verachten! Lasst keine Gnade walten bei ihrer Verfolgung! Vernichtet sie, bevor sie uns vernichten!“
5. Szene: Durch den Regen
Es goss in Strömen. Nun schon seit drei Tagen. Ununterbrochen! Ja’rui bekam langsam schlechte Laune, was selbst in Zeiten wie diesen selten vorkam. Aber drei volle Tage durch diese Sintflut zu stiefeln und nie richtig trocken zu werden, konnte einem schon die Stimmung versauen. Warum hatte er auch sein Pferd zurückgelassen? Gut es war ziemlich auffällig mit dem kräftig gelblichbraunen Fell, das war selten und auf die Schnelle hatte er auch kein anderes Tier auftreiben können, aber im Nachhinein, besonders wenn das ‚nach’ hinter einem dreitägigen Fußmarsch durch den Regen stand, erschien ihm diese Entscheidung sehr, sehr dämlich.
Die Nachricht, in der er den Auftrag für diese Mission erhalten hatte, hatte ihn auf dem völlig falschen Fuß erwischt. Dabei hatte er sich doch nur mal ein paar ruhige Tage machen wollen, bevor die Feldzüge wieder begannen. Aber nun hatte es schon sehr früh die erste Schlacht gegeben, so vor einer knappen Woche. „Auf unserer Seite keine Überlebenden“ hieß es. Es schien so aussichtslos. Wehmütig dachte er an das ruhige, kleine Dorf, das glücklicherweise weit weg lag, wenn auch nicht weit genug. Ob er das Versprechen, wiederzukehren würde halten können? Er wusste es nicht. Sie hatte nichts geantwortet, als er es versprach. Nur gelächelt. Und geweint.
Er verscheuchte die finsteren Gedanken. Durch den dichten Regen konnte er im schwindenden Tageslicht die schemenhaften Umrisse eines größeren Hauses sehen. Die Fenster waren hell erleuchtet. Ein einladend warmes, goldenes Licht. Hoffentlich war es das, wofür Ja’rui es hielt, nämlich ein Gasthaus. Und, wenn das drin war, auch mal ein sauberes. Was er in der kurzen Zeit seiner Reise an verdreckten Spelunken gesehen hatte, war sogar für ihn ziemlich viel. Und dabei war er die meiste Zeit seines Lebens unterwegs gewesen. Nun ja, die Zeiten ändern sich...
Nur wenig später erreichte er das Gasthaus „Zur Brücke am Treim“. Der Name war in dicken, gelben Lettern auf ein Schild, das über dem Eingang hing, geschrieben. Darüber spannte sich der graue Bogen einer gemalten Brücke und darunter symbolisierten horizontale, blaue Schlängellinien das Wasser des Flusses. Vor dem Eintritt überprüfte Ja’rui noch einmal seine Kleidung. Sie triefte vor Nässe, aber da war nichts zu machen. Wenigstens war sie nicht staubig. Er zog sich den dunklen, breitkrempigen Hut, von dem ein stetiges Rinnsal plätscherte, etwas tiefer ins Gesicht und seufzte. So ein Kneipenbesuch konnte gefährlich werden. Ja’rui hatte sich zwar sehr neutral gekleidet, aber man konnte in diesen Zeiten ja nicht vorsichtig genug sein. Gerüchten zufolge trieb sich in letzter Zeit allerlei Gesindel im Grenzgebiet rum.
Er lief gegen den Lärm und die stickige, verqualmte Luft im Innern der Gaststube wie gegen eine Wand. All seine Hoffnungen auf ein gutes Essen und ein sauberes Bett schwanden mit einem Schlag. So, wie der Schuppen aussah, kamen sie hier vielleicht einmal im Jahr darauf, das man ein Bett auch neu beziehen konnte, wenn überhaupt.
Der Schankraum, der gleich hinter der Eingangstür lag, war mit Menschen nur so vollgestopft. Allerdings brauchte es nicht allzu viele Leute, um diesen engen Raum mit seiner niedrig hängenden Decke, die auf nicht sehr vertrauenerweckenden Balkenkonstruktionen ruhte, überfüllt wirken zu lassen. Dem Eingang gegenüber spendete ein großer Kamin Licht, Qualm und Wärme. Eine größere Gruppe Reisender hatte zwei Tische und fast alle Stühle okkupiert und spielte Karten, wobei sie einen Höllenlärm machten. In der Ecke hinten rechts saßen vier irgendwie zwielichtige Gestalten, gegen die die Betrunkenen an der Theke regelrecht harmlos wirkten.
Ja’rui setzte sich an den einzigen noch unbesetzten Tisch und beobachtete misstrauisch das Pack am Nebentisch, das aufgeregt aufeinander einredete. Einer von den vieren deutete jetzt mit dem Kopf in seine Richtung, aber ihr Interesse galt ganz offensichtlich nicht ihm, sonder etwas hinter ihm. Ja’rui drehte sich um. Unter der Treppe befand sich ein weiterer Tisch, den er beim Reinkommen nicht bemerkt hatte. Ein junger Mann saß dort und schien unglaublich damit beschäftigt, finster in ein Schüsselchen Suppe zu starren, das vor ihm auf dem Tisch stand. Jetzt verstand Ja’rui auch das aufgeregte Getuschel der vier Typen. Er hatte noch nie einen Menschen gesehen, von dem er so wenig wusste, was er von ihm halten sollte.
Der Fremde trug völlig absurde Kleidung. Ein Gardemantel, grau, mit schwarzem Futter und königsblauen Knöpfen, war selbst dann sofort zu erkennen, wenn er so verdreckt war, wie dieses Exemplar. Die Garde, das waren Angoaz’ Elitesoldaten, deren Hauptaufgabe es war, die Rebellenarmeen der Shalún und anderer Royalisten zu bekämpfen. Und dieser Typ trug einen solchen Mantel zu einem Himao, der traditionellen Shalún-Kleidung! Der Schnitt und die rostrote Farbe ließen gar keinen Zweifel daran. Es war schon sehr lange her, das Ja’rui zuletzt solche Sachen gesehen hatte. Wegen der Verfolgung wurden sie nicht mehr getragen. Der Kerl musste entweder vollkommen wahnsinnig und lebensmüde sein, um so rumzulaufen, oder sehr gefährlich. Vielleicht beides, sojemandem auf den Zahn zu fühlen versprach, interessant zu werden.
6. Szene: Flucht aus dem Gasthaus
Yaro starrte misstrauisch in die stinkende Brühe, die man hier als Suppe verkaufte, aus Furcht, sie könnte jeden Augenblick zurückstarren. Konnte er es riskieren, das zu essen? Sein Magen knurrte ihm ein zu allem entschlossenes Ja zu und er hob schon widerwillig und nur durch den Mund atmend die Schale an, als sich vier verlotterte Typen zwei Tische weiter lärmend erhoben und auf ihn zukamen. Sie gaben sich wirklich Mühe, möglichst bedrohlich auszusehen und Yaro bereitete sich schon auf einen Kampf vor, als der Mann vom Nebentisch ebenfalls aufstand und breit lächelnd auf ihn zukam, was Yaro sehr viel bedrohlicher fand, als die vier Banditen. Diese hatten inzwischen ihre unter der Kleidung verborgenen Dolche gezogen, wurden jedoch durch Ja’ruis Auftauchen aus dem Konzept gebracht.
„Hallo, junger Freund, lange nicht gesehen!“
„’Junger Freund’? ‚Gesehen’? Was soll das? Verschwinde!“
„Aber nein, ich bin hier auf Befehl des Hauptmanns der Garde und soll dich zu ihm bringen, damit du ihm die Ergebnisse deiner geheimen Mission mitteilen kannst.“ Die Gespräche waren entgültig verstummt und die Banditen hielten inne und standen unschlüssig rum. Mit einem Gardisten wollten sie sich nun wirklich nicht anlegen.
Yaro wurde langsam sauer. Was sollte das eigentlich? Was redete der Typ nur für einen Unsinn, und wer war er überhaupt? Ja’rui hatte ihn inzwischen erreicht, legte ihm freundschaftlich den Arm um die Schulter und schob ihn entschlossen Richtung Ausgang. „Denkst du nicht auch, es ist an der Zeit, dieses gastliche Haus zu verlassen, bevor sich die vier Galgenstricke da von meiner kleinen Geschichte erholen?“ flüsterte er. Yaro war von dem unerwarteten Geschehen so verblüfft, dass er sich widerstandslos herausschieben ließ.
Die Luft draußen war feucht und kalt, aber wenigstens regnete es nicht mehr. Es war dunkel geworden und ein kräftiger Wind jagte schwere Wolken über den Himmel. Ja’rui begann, möglichst viel Entfernung zwischen sich und das Gasthaus zu bringen. Yaro blieb noch eine Weile vor dem Eingang stehen und dachte fieberhaft darüber nach, was das jetzt sollte und ob er langsam verrückt wurde. Als er so zu keinem Ergebnis kam, trottete er dem Fremden mürrisch hinterher, um ihn zur Rede zu stellen.
7. Szene:
Yaro war wütend. „Was sollte das Theater da drinnen eigentlich? Mit denen wär’ ich schon allein fertig geworden!“
„Ja ja, aber spätestens wenn sich die anderen da drinnen eingemischt hätten wär’s aus gewesen.“
Yaro schaute zu Boden und zuckte mit den Schultern. „Du hättest mich wenigstens noch die Suppe essen lassen können...“
„Was?“ Ja’rui war ehrlich erstaunt. „Die wolltest du ernsthaft essen? Du bist noch lebensmüder als ich dachte! Aber hier, ist zwar nur trockenes Brot, aber wahrscheinlich immer noch besser als der Fraß in dieser vergammelten Spelunke.“ Von einem Moment auf den anderen hielt er das Brot in der Hand und warf es Yaro zu, der es verdutzt auffing und nach kurzem Zögern aß.
„Wer bist du eigentlich?“
Als hätte Ja’rui nur auf diese Frage gewartet, was wohl tatsächlich der Fall war, setzte er sein strahlendstes Lächeln auf, was Yaro unwillkürlich ein Stück zurückschrecken ließ. „Mein Name ist Ja’rui Fidès, Reisender, heimgekehrt aus fernen Ländern, meines Zeichens Magier und Kartenzeichner.“
„Taschendieb und Spion, wolltest du sagen.“ Yaro grinste unschuldig wie ein Haifisch. „Ach ja... und Shalún.“ Ja’rui runzelte die Stirn und blickte ihn verwundert an, sagte jedoch nichts.
„Nun, dann darf ich ja jetzt auch wissen, wer du bist.“
„Ro.“
Ja’rui lachte. „War das jetzt ein Name oder ein Grunzen?“
Yaro schoss ihm einen bösen Blick zu. „Yaro, aber Ro reicht.“
„Ist das dein Spitzname? Bin ich jetzt in den Kreis deiner Freunde aufgenommen?“
„Du nervst!“ So viel Optimismus war zuviel für Yaro.
Sie waren eine ganze Weile durch den stürmische Nacht gelaufen und konnten vor sich schon den Treim rauschen hören, als Yaro stehen blieb. „Falls du übrigens vorhast, den Fluss zu überqueren, solltest du vielleicht wissen, das die Brücke besetzt ist. Ich war heute morgen schon mal da und hab’ von Weitem einen Gardisten und drei oder vier Söldner gesehen.“
Während Yaro sprach, war Ja’rui ebenfalls stehen geblieben und hatte aufmerksam zugehört. „Hmm... Sowas hab ich mir schon gedacht. Aber weißt du, Ro,“ er setzte wieder sein breitestes Grinsen auf, „ich denke, du darfst mir helfen. So ein Gardemantel kann sehr praktischsein. Denkst du, das würde funktionieren?“
„Nein, aber is ja nett, dass du mich fragst. Wie kannst du eigentlich so sicher sein, dass ich dir helfen will? Ich könnte dich genauso gut den Leuten auf der Brücke ausliefern. Woher willst du wissen, dass das alles keine Falle ist?“
„Wie denn, hast du das vergessen?“ Ja’rui senkte die Stimme. „Wir Shalún können Gedanken lesen.“ Er brach in Lachen aus. „Nein, vergiss es!“ Plötzlich wieder ernst, zuckte er mit den Schultern. „Nenn es meinetwegen Menschenkenntnis. Und jetzt sag schon: Wirst du mir helfen?“
8. Szene: An der Brücke
Auf der Bogenbrücke aus großen, graubraunen Steinquadern, die jetzt in der Feuchtigkeit und Dunkelheit der Nacht schwarz glänzte, brannten Fackeln und flackerten unruhig im Wind. Der Fluss rauschte. Die Silhouetten mehrerer Personen waren in der Nähe der Brücke erkennbar.
Ja’rui und Yaro gingen hinter einer umgestürzten Weide in Deckung. Ja’rui wirkte sehr gut gelaunt, was auf Yaro die gegenteilige Wirkung hatte.
„Also, mein Plan ist folgender: Du, mit deinem schönen Gardemantel, bringst mich, einen gefangenen Shalún, über die Brücke.“
„Und das nennst du einen genialen Plan?“ murrte Yaro.
„Ich weiß gar nicht, was du hast. Von genial hat keiner was gesagt. Und außerdem könnt’s ja funktionieren. Die einfachen Pläne sind ja bekanntlich die besten.“
„Seit wann? Und warum bitte sollte ein Gardist einen Gefangenen über die Grenze bringen? Ich weiß ja nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber die steh’n extra da, damit niemand flieht.“
„Mein Gott, Exekution, geheime Mission, sei doch mal kreativ!“ Ja’rui verzog verzweifelt das Gesicht, aber Yaro war plötzlich sehr ernst. „Nein wirklich, das wird nicht funktionieren.“
„Und warum nicht?“ fragte Ja’rui und bemerkte im selben Moment, dass die Soldaten sie umstellt hatten.
„Weil ich gesucht werde.“ Raunte Yaro.
Flankiert von sechs Soldaten wurden die beiden in Richtung Brücke abgeführt. In der Nähe hatte man ein provisorisches Lager für die Wache eingerichtet. Vier ziemlich schäbige Zelte standen um ein kleineres herum, dass sich allerdings in einem etwas besseren Zustand befand.
„Sag mal, hättest du mir das nicht etwas früher sagen können?“ zischte Ja’rui Yaro zu.
„Was, dass ich gesucht werde? Ich dachte, du kannst Gedanken lesen. Und was war das mit dem Magier? Zauber uns doch hier raus!“
Ja’rui ließ betrübt den Kopf hängen. „Ich geb’s auf! Du hast echt null Sinn für Humor. Wie wär’s mal mit was anderem als diesem ätzenden Sarkasmus?“
Sie wurden jetzt zwischen den anderen Zelten hindurch auf das mittlere zugeführt. Yaro vermutete, das es die Unterkunft desjenigen war, der die Wachen befehligte, wahrscheinlich ein Gardist. Das war’s dann.
Sie wurden ins Zelt geführt. Es war zwar etwas geräumiger als es von außen den Anschein hatte, allerdings auch wieder nicht so groß, dass alle Platz gehabt hätten, weshalb die Wachen draußen blieben und sich am Eingang postierten.
Der Mann, der sie im Zelt erwartete, wandte ihnen den Rücken zu, trug jedoch, wie Yaro vermutet hatte, Mantel und Schwert der Garde.
9. Szene: Ein alter Freund
Der Gardist, zu dem sie geführt worden waren, war offensichtlich recht erfreut, sie zu sehen.
„Ortwin?!“ Yaro ließ sich seine Erleichterung nicht anmerken, aber dass er von ein paar tausend Gardisten den einzigen erwischt hatte, der ihnen vielleicht helfen würde, grenzte an ein Wunder.
Ja’rui stand etwas verwirrt daneben. „Ihr kennt euch?“
Der Gardist ignorierte ihn. „Mensch, Ro, was machst du denn? Lässt dich von dieser Katastrophe von einer Wachmannschaft nicht nur aufgreifen, sondern auch noch widerstandslos abführen. Die hätten doch keine Chance gegen dich gehabt.“
„Keine Chance?“ Ja’rui sah Yaro verwundert an und versuchte, von ihm eine Erklärung zu bekommen. Aber dieser hörte Ortwin zu, der währenddessen ohne Unterbrechung weitersprach.
„Aber was red’ ich? Eigentlich bin ich ja ganz froh, dich zu sehen. Ich hab’ schon gedacht, du wärst tot. Es gab da Gerüchte von einem Gardisten, der auf Seiten der Rebellen bei dem Hinterhalt vor ein paar Tagen mit ums Leben kam. Das konntest ja eigentlich nur du sein, hab’ ich mir gedacht...“
Ja’rui tippte Yaro auf die Schulter, der ihn daraufhin fragend ansah. „Sag mal, Ro, redet der immer so viel?“ Yaro nickte und lächelte entschuldigend. Ja’rui begann zu verstehen, warum man Ortwin in diese gottverlassene Gegend versetzt hatte.
Yaro wandte sich an Ortwin, der jetzt angefangen hatte, über Schlachten im Allgemeinen und Hinterhalte im Besonderen zu reden, und unterbrach ihn. „Sag mal, wär’s vielleicht möglich, dass wir hier den Fluss überqueren?“
Erstaunlicherweise schien Ortwin von dieser Frage etwas überrumpelt. „Oh, der Befehl zu deiner Ergreifung ist ziemlich frisch eingetroffen, aber ich denke schon, dass ich dich gehen lassen werde. Du passt ja nur zufällig auf die Beschreibung des Gesuchten und ich hatte ja jetzt Gelegenheit, mich zu vergewissern, dass du nicht Yaro bist.“
Ja’rui war baff. Wie hatte er diesen Kerl nur so falsch einschätzen können? Ortwin war ein gerissener Bursche.
Jetzt meldete sich Yaro zu Wort. „Danke, aber was war das mit dem Befehl? Wie sind die genauen Instruktionen?“
„Keine Ursache, ich schulde dir ja noch was. Aber du bist wohl verrückt, anzunehmen ich würde interne Befehle einem dahergelaufenen Zivilisten verraten.“ Er grinste listig. „Doch da du ja Mitglied der Garde bist... Der Befehl besagt ausdrücklich: ‚Unversehrte Festnahme’.“
„Wessen werde ich, ähm... ich meine, wird dieser Yaro denn beschuldigt?“
„Och, was es eben so gibt: Desertion, Hochverrat, Verbrüderung mit dem Feind, Entehrung der Garde, der eine oder andere Mord nach deiner Flucht,... schwere Geschütze eben. Die Gardisten schreien Zeter und Mordio, wenn’s nach denen gegangen wäre, hieße es im Befehl ‚sofortiges Hängen’ oder ‚Vierteilen’. Ich kann dir sagen, ein paar von denen sind richtig durchgedreht. Aber gewisse hohe Kreise haben sich für dich eingesetzt, obwohl man sehr betroffen über dein Verhalten ist und meint, dass du deiner Stellung nicht gerecht wirst.“
„Betroffen? Pa, auf gewisse hohe Kreise kann ich verzichten!“
Ortwin schaute ihn besorgt an. „Was trägst du da überhaupt für Klamotten? Die Garde und die halbe restliche Armee suchen dich und du rennst in Shalún-Tacht rum. Sag mal, auffälliger ging’s ja nun bald nicht. Willst du nicht was anderes zum Anziehen?“
„Ach, lass mal, ich hab’ sie irgendwie ganz lieb gewonnen und außerdem muss auch ein Verräter mal Flagge bekennen.“
„Sicher? Ich hab’ noch ein paar Uniformen übrig.“
„Nein, nein, Ich wird’ mich schon nicht fangen lassen.“
„Na gut, wenn du meinst... Und jetzt verschwinde, bevor mir einfällt, warum mir dein
Gesicht so bekannt vorkommt! Viel Glück!“ Er rief den Wachen vor dem Zelt zu, dass es sich bei diesen Leuten nicht um den Gesuchten handelte und Yaro und Ja’rui machten sich auf den Weg zur Brücke.
„Hey, Ro, wenn ich Ortwin da drin richtig verstanden hab’ hast du mir noch längst nicht alles über dich verraten.“, sagte Ja’rui, als sie die Brücke überquerten.
„Ähm, genaugenommen hab’ ich dir absolut nichts über mich verraten.“
„Na dann schieß mal los!“
„Die Sache mit der Menschenkenntnis war ja wohl auch geflunkert. Oder glaubst du wirklich, dass ich dir jetzt meine mühsam verdrängte Vergangenheit auf die Nase binde?“
Ja’rui wollte Yaros erstaunlich gute Laune nicht aufs Spiel setzen und wechselte das Thema. „Dieser Ortwin scheint ja nicht gerade hundertprozentig hinter der Garde zu stehen...
Woher wusstest du eigentlich, dass gerade er die Brücke bewacht?“
„Ich hatte keine Ahnung. Das war pures Glück.“
„Und wie sah dein Plan aus, was nach unserer Festnahme geschehen sollte?“
„Was für ein Plan?“ Yaro grinste, was Ja’rui die Sprache verschlug.
Einige Minuten später brach Yaro das Schweigen. „Warum willst du eigentlich unbedingt über den Fluss? Es gibt echt bessere Wege, aus dem Land zu kommen.“
Die Brücke und der Treim lagen jetzt hinter ihnen. Ja’rui blieb stehen. „Ich muss Zilbras finden.“
„Wer oder was ist ‚Zilbras’?“
Ja’rui zuckte mit Schultern. „Wie es scheint, eine Frau, genaueres weiß ich auch nicht. Aber du darfst mitkommen und mir suchen helfen, wenn du willst.“
„Der Auftrag hört sich, hm... recht ungenau an, wenn du mich fragst. Warum sollte ich dir dabei helfen wollen?“
„Aus dem gleichen Grund, aus dem du mir bis hierher geholfen hast.“, sagte Ja’rui geheimnisvoll.
Yaro sah ihn misstrauisch an. „Und der wäre?“
Ja’rui gab sich noch einen Moment lang Mühe, möglichst weise auszusehen, brach dann aber in lautes Gelächter aus. „Keine Ahnung, denkst du etwa, wir Shalún könnten Gedanken lesen? Wahrscheinlich bist du einfach nur verrückt.“
Zweites Kapitel
1. Szene: Verdandi
Tchan schnaubte unruhig und scharrte mit dem Huf. Der schwankende Boden des Floßes schien ihm nicht geheuer zu sein. Verdandi streichelte dem großen dunkelbraunen Pferd beruhigend den Hals.
Der Floßführer steuerte das Floß geschickt durch den schnell fließenden Treim, aber es schaukelte trotzdem sehr. „Gut, dass du wieder da bist, wir haben uns alle Sorgen um dich gemacht, als du plötzlich verschwunden warst.“
Verdandi blickte auf. „Es tut mir leid, aber ich hatte wirklich keine Zeit, mich von euch zu verabschieden.“
„Ein neuer Traum?“ Der alte Mann blickte sie besorgt an. Sie nickte. Sie hatte von der Schlacht geträumt und war sofort aufgebrochen, um sie vor dem Hinterhalt zu warnen, das Gemetzel zu verhindern. Doch sie war zu spät gekommen. Die Zukunft zu kennen ohne die Macht, sie zu ändern...
„Wirst du nun wieder ins Dorf zurückkehren?“ Die Worte des Flößers unterbrachen ihre Gedanken.
Wieder schaute sie auf, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Ich muss jemanden finden. Skuld lässt mir keine Ruhe.“ Der Mann blickte nach oben in den bewölkten Himmel. Hoch über ihnen kreiste ein Vogel, ein Rabe. Er war durch die tiefhängenden Wolken gerade noch zu sehen.
„Er muss gestern nacht den Fluss überquert haben. Weißt du etwas davon?“, fragte Verdandi.
Das Floß ruckte, als sie ans Ufer des Grenzflusses stießen. Der alte Mann sprang geschickt herunter und machte es an einem Baum fest, der dicht am Wasser stand, bevor er der jungen Frau half, das Pferd vom Floß zu führen.
„Nein, aber es wäre möglich. Die Brücke ist zwar gut bewacht, aber die Wachen scheinen ihren Job nicht ganz ernst zu nehmen. Es tauchen immer mal wieder Leute von der anderen Treimseite im Dorf auf, aber es kommen nur wenige Flüchtlinge über diesen Weg.“
Verdandi nickte. „Na gut, ich muss jetzt weiter. Auf Wiedersehen und vielen Dank fürs Rüberbringen.“
„Ach was, dazu bin ich ja da.“ Der Flößer winkte ab und half ihr dann auf Tchans Rücken. „Na dann auf Wiedersehen und Viel Glück, das kann man immer brauchen.“
Verdandi lächelte und winkte ihm zum Abschied zu, als sie wegritt. Der alte Floßführer sah ihr noch eine Weile nach, bevor er das Floß wieder losmachte und zurück auf die andere Seite des Flusses fuhr.
2. Szene: Was nun?
Es war ein winziger, halb zugewachsener Trampelpfad, auf dem sich Yaro und Ja’rui da befanden. Die schmale Straße, die von der Brücke wegführte, war immer enger geworden. Die Bäume, die beiderseits des Weges wuchsen hatten ihre Äste immer weiter über ihn gespannt, sodass sich das Blätterdach bald über ihm schließen würde. Hier, mitten im Wald war der Weg zuende. Kein Zweifel, irgendwann hatte der Weg einmal weitergeführt, aber er war in den letzten Jahren nicht mehr benutzt worden, sodass er jetzt vom Unterholz zurückerobert wurde.
Ja’rui sah sich besorgt um. „Naja, wir könnten in der Richtung weitergehen, dann stoßen wir vielleicht wieder auf den Weg.“
„Ja, aber vielleicht verlaufen wir uns auch und verrecken mitten im Nirgendwo. Wenn du mich fragst, stehen die Chancen dafür wesentlich besser als dafür, wieder auf den Weg zu stoßen.“
„Aber die Straße muss weitergehen. Hier müssen irgendwo Menschen leben.“
„Ach ja? Na wenn, dann möchten sie offenbar nicht gefunden werden. Kann man ihnen nicht verdenken. Was willst du hier überhaupt?“ Yaro hatte sich auf den Waldboden gesetzt und sich an einen Baumstamm gelehnt. Ja’rui setzte sich daneben. „Ich habe dir schon mal erzählt, das ich Zilbras suche...“ setzte er an, aber Yaro winkte ab.
„Jaja und du hast keine Ahnung, wer sie ist. Aber du wirst doch hoffentlich wissen, warum du sie suchst und warum ausgerechnet hier.“
Ja’rui stand seufzend auf und ging in den Wald.
„Hey, wo willst du hin?“ rief ihm Yaro hinterher.
„Feuerholz sammeln. Es wird schon dunkel. Da macht es keinen Sinn, den Wald noch zu betreten. Außerdem ist die Antwort auf deine Frage eine längere Geschichte.“
Kurze Zeit später saßen Ja’rui und Yaro bei einem knisternden Feuer und Ja’rui begann zu erzählen.
„Ich bin seit meiner Kindheit eigentlich immer unterwegs gewesen. Zuerst mit einer Truppe von Gauklern, zu denen auch meine Eltern gehörten, dann hab’ ich an ein paar Handelsreisen teilgenommen. Ich war auch einige Zeit mit einer Gruppe Pilgern unterwegs, das war’n vielleicht komische Leute. Ich weiß ja nicht, ob du schon mal was von ihnen gehört hast, es ist so eine Art Sekte. Sie sind der festen Überzeugung, dass es eine Heimat gibt, die sie irgendwann einmal verloren haben und die sie wiederfinden, wenn sie nur lange genug in der Gegend rumwandern. Naja, es war’n schon ganz nette Leute, aber irgendwann hatte ich die Nase voll und bin dann irgendwie in der Hauptstadt hängen geblieben. Wahrscheinlich fehlt es mir an Überzeugung, um ein Leben lang nach einer Heimat zu suchen. Jedenfalls wär’ ich wohl in Andal geblieben, wenn nicht ein paar Monate später die Revolte gewesen wäre, bei der König Maloar gestürzt wurde. Dass da gleich ein Krieg beginnen würde, wusst’ ich natürlich damals noch nicht, aber ich hab’ mich in wieder Voraussicht aus dem Staub gemacht und hab’ dann die letzte Zeit in einem netten Bergdorf in der Nähe des Grünen Gebirges verbracht.“
„Das ist ja alles sehr schön, erklärt aber überhaupt nicht, warum du jetzt hier bist.“
„Was? Tut es nicht? ... Oh, dann ist es doch eine relativ kurze Geschichte.
Während meiner Zeit in Andal hab’ ich Assin kennen gelernt.“
„Den Rebellenführer?“, fragte Yaro.
Ja’rui sah ihn erstaunt an. „Woher weißt du das? Das ist top secret. Na egal, damals war er das noch nicht. Auf jeden Fall hab’ ich dann nach Kriegsbeginn in seinem Auftrag auf Seiten der Royalisten mitgewirkt. Und vor ein, zwei Wochen habe ich einen Brief bekommen, in dem er mich bat, Zilbras zu suchen, die sich irgendwo in den Wäldern jenseits des Treim aufhalten sollte. Und hier bin ich! Ich hab’ mir zwar auch schon gedacht, dass ein paar Informationen mehr ganz nützlich wären, aber vielleicht finde ich sie ja auch so.“
„Dein Optimismus rührt mich... Und ich vermute mal, wieso du sie suchen sollst, stand auch nicht im Brief?“
„Nein, Briefe werden zu leicht abgefangen und ich glaube, Assin plant irgendwas. Keine Ahnung, was. Und ehrlich gesagt interessieren mich seine Frauengeschichten auch nicht so.“
3. Szene: Die schwarze Ebene
Obwohl es tagsüber schon recht warm geworden war, fröstelte Verdandi jetzt bei Einbruch der Dunkelheit. Sie trat auf eine kleine, von hohen, alten Bäumen umstandene Waldlichtung und nahm Tchan, der hinter ihr auf die Lichtung getreten war, die Zügel ab. „Guten Appetit“, murmelte sie. Tchan bedankte sich mit einem leisen Schnauben und trottete über das junge Gras davon.
Ein wenig verloren stand Verdandi da und lauschte in die Nacht hinein. Dann raffte sie sich auf und begann Feuerholz zu sammeln. Zum Glück war seit diesen schrecklich langen Regentagen schon einige Zeit vergangen und so war es nicht schwierig, trockenes Holz zu finden und ein kleines Feuer anzuzünden. Verdandi setzte sich neben das Feuer und kramte ein halbes Brot und eine Feldflasche aus ihrer Tasche. Sie dachte daran, dass sie bald ihre Vorräte auffüllen müsste, als der Rabe, der sich bis eben am Feuer gewärmt hatte, auf ihr Knie flatterte.
„Na Urd, du hast wohl auch Hunger, was?“, fragte sie lächelnd und hielt dem Vogel ein Stück Brot hin.
„Wo deine Schwester nur bleibt? Sie ist jetzt schon zwei Tage lang weg.“ Besorgt sah sie Urd beim Fressen zu. Die wirkte aber so ruhig und gelassen, dass sich auch Verdandi beruhigte.
Inzwischen war es dunkel geworden. Auch die letzten Vögel waren verstummt und die Schatten zwischen den Bäumen hatten sich mit der Schwärze des Himmels vereint. Verdandi lag wach und schaute in die Sterne, deren Licht die irdische Nacht erhellte, noch lange nachdem sie aufgehört hatten zu existieren. Botschaften aus der Vergangenheit, in denen Verdandi versuchte, die Zukunft zu lesen.
Ein kleiner, schwarzer Schatten schob sich vor die Sterne und landete ein Stück vom verglühenden Feuer entfernt auf der Wiese. Skuld flatterte zu Verdandi herüber, wo sie sich anschmiegte und wärmte.
„Du bist wieder da! Hast du ihn gefunden?“ Zufrieden mit sich selbst, schnappte sich Skuld das Stückchen Brot, das Verdandi für sie übrig gelassen hatte und ließ es sich schmecken.
„Müssen wir sofort los oder kann das auch bis morgen warten?“, fragte Verdandi in der Hoffnung, noch ein wenig schlafen zu können. Doch Skuld hatte es offenbar nicht sonderlich eilig. Sie setzte sich neben ihre Schwester Urd, die an Verdandis Seite schlief und ließ erschöpft von der langen Suche ihren Kopf unter die Flügel sinken. Bald schlief auch Verdandi ein.
Sie flog über eine endlose Ebene, auf der nichts wuchs, als schwarzes Gras, das in einem stetigen Wind wogte. Der Himmel über ihr war völlig leer und finster und dennoch konnte die jeden einzelnen Grashalm erkennen, der unter ihr vorbeizog. Sie hatte das Gefühl, dass der Wind sie auf irgendein Ziel zutrug, aber sie konnte in dieser unvorstellbar weiten, schwarzen Welt nicht einmal einen Horizont erkennen. Das endlose Grasland verschmolz in der Ferne mit dem leeren Himmel. Sie war dort ganz allein. Ein winziges Fünkchen Licht in dieser düsteren Unendlichkeit. So einsam...
Dann plötzlich sah sie vor sich endlich den Ort, zu dem der Wind wehte. Drei schwarze Türme standen dort. Noch waren sie weit entfernt, aber sie näherte sich ihnen rasend schnell. Auf einmal wurde sie nach oben gerissen, hinein in den endlosen Himmel und begann, um die Türme zu kreisen. Leise Stimmen wisperten ihr etwas zu, wurden immer lauter und steigerten sich zu einem ohrenbetäubenden Brüllen.
Und dann war sie frei. Sie befand sich direkt über den Türmen, aber der Boden schien Kilometer entfernt. Sie fiel, wurde immer schneller. Sie hatte schreckliche Angst, wusste nicht, was sie hier tat, warum sie hier war. Der Boden kam unaufhaltsam näher.
Federn! Blau glänzende, schwarze Schwingen...
Sie breitete ihre Flügel aus und flog wieder. Ihr Fall wurde gebremst. In weiten Kreisen schraubte sie sich zu dem Ort herunter, an dem sich die Winde trafen. Dann war alles verschwunden. Zwei Bilder blitzten noch in ihrem Bewusstsein auf, bevor sie erwachte: Ein Vogel in einem goldenen Käfig und gelbgrüne Augen voller Trauer, glanzlos und leer...
Verdandi versuchte, die Traumbilder festzuhalten, aber wie immer zerrannen sie. Von der schwarzen Ebene blieb nur ein vages Gefühl der Verlorenheit. So oft sie diesen Traum auch hatte, sie erreichte nie das Ziel, bevor alles verschwand und die düstere Welt zu zusammenhangslosen Bildern zerfiel.
Sie schlug die Augen auf. Es war noch sehr früh, aber durch die Baumwipfel konnte man schon die ersten Sonnenstrahlen erahnen. Direkt vor ihrer Nase saßen die zwei Raben und sahen sie mit ihren schwarzen, glänzenden Augen an.
„Ich verstehe nicht, was ihr mir sagen wollt.“ Skuld und Urd zeigten keine Reaktion auf Verdandis Flüstern und sie stand seufzend auf.
Tchan, der ein Stück entfernt gestanden hatte, kam nun auf sie zugetrottet und ließ sich streicheln.
„Geh nach Hause, Tchan! Ich muss jetzt durch den Wald, da kommst du lieber nicht mit. Du kennst ja den Weg und weit ist es auch nicht mehr.“
Verdandi sah auf Skuld herunter, die immer noch auf dem Boden saß und sich seelenruhig ihr Gefieder putzte. „Na dann mal los!“, sie stupste den Vogel vorsichtig mit dem Fuß an. „Sei nicht so faul, zeig mir lieber den Weg.“
4. Szene: Begegnung
Es war grenzenlos dämlich gewesen, diesen Wald zu betreten!
Yaro hatte schon seit ein paar Stunden keine Ahnung mehr, in welche Richtung sie gingen und er vermutete stark, dass Ja’rui auch nicht wusste, wo sie sich befanden, obwohl er alle zehn Minuten das Gegenteil behauptete. Außerdem hatte er das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Er fühlte sich beobachtet und war sich ziemlich sicher, ab und an einen Schatten bemerkt zu haben, der in der Nähe vorbeihuschte. Er versuchte, den Gedanken daran zu verdrängen. Verfolgungswahn war nun wirklich das letzte, was er gebrauchen konnte. Stattdessen sah er sich um.
Yaro hatte noch nie einen Wald wie diesen gesehen, durch den sie sich jetzt bewegten. Dichtes Unterholz versperrte den Blick schon nach wenigen Metern, sodass man nur die Stämme der nächststehenden Bäume erkennen konnte. Aber die waren riesig! Die meisten dieser Bäume mussten schon über hundert Jahre alt sein. Noch niemals hatte Yaro sich in einer Umgebung befunden, in der er sich so klein und unbedeutend gefühlt hatte.
Es schien fast so, als wäre der Wald ein lebendes, uraltes Wesen. Er hatte sogar eine Stimme. Eine Mischung aus all diesen beunruhigenden Geräuschen. Dem Rascheln der Baumkronen im Wind, der hier unten nicht zu spüren war, dem Knacken, Knirschen und Rascheln im Unterholz und dem Gesang und Gekreisch der unzähligen Vögel. All das verband sich zu einem unheimlichen Raunen, einem an- und abschwellendem Wispern.
Der plötzliche Schrei eines Raben ließ Yaro aufschauen. Er sah sich um und bemerkte, dass die Umgebung sich verändert hatte. Sie hatten das dicht Unterholz verlassen und befanden sich nun zwischen glatten, grauen Baumstämmen. Hoch über ihnen konnte man durch die noch unbelaubten Äste einen strahlend blauen Himmel sehen. Dicke Schichten goldgelben Laubes bedeckten den Boden und erstickten das Unterholz. Von dem Punkt aus, an dem sie standen, fiel das Gelände zu einem kleinen Bach hin ab, dessen Wasser zwischen den Blättern der vergangenen Jahre im Sonnenlicht glitzerte.
Yaro atmete auf und auch Ja’rui wirkte erleichtert. „Mann, bin ich froh, dass wir da raus sind. Das war schon seltsam...“ Er begann, den Abhang herunterzulaufen. „Na komm schon, Ro! Oder willst du da Wurzeln schlagen?“
Nachdem sie getrunken hatten, sah sich Ja’rui unschlüssig um. „Hmmm... Wir könnten nach rechts gehen... Oder auch geradeaus...“
Yaro funkelte ihn mordlustig an, sagte aber nichts.
„Gut, zugegeben, der Weg könnte auch links liegen.“
Yaro seufzte entnervt. „Ich frage mich, woher du die Überzeugung nimmst, dass hier überhaupt irgendwo ein Weg lang führt. Ich würde sagen, wir haben uns hoffnungslos verlaufen.“
„Wer kein Ziel hat, der kann sich auch nicht verlaufen.“, sagte Ja’rui weise.
„Komm mir nicht mit deinen bescheuerten Lebensweisheiten! Ich denke, du wolltest ins nächste Dorf, um nach dieser Zilbras zu fragen.“
„Ihr wollt nach Hiel?“
Ja’rui und Yaro drehten sich verdutzt um. Hinter ihnen stand eine junge Frau, die sie spöttisch anlächelte. Yaro registrierte verblüfft, das sie sich ihnen trotz des trockenen Laubs völlig geräuschlos genähert hatte. Sie hatte lange, hellbraune Haare, die ihr über die Kapuze ihres dunkelgrünen Umhangs fielen. Das –auffälligste an ihr waren aber die zwei Raben, die links und rechts auf ihren Schultern saßen.
Ja’rui fand als erster seine Sprache wieder. „Dich schickt der Himmel, Schönste! Mein Kumpel hier ist nämlich hoffnungslos orientierungslos. Würdest du uns bitte sagen, wo das nächste Dorf ist?“
„Sicher. Ich werde euch sogar hinführen, wenn ihr erlaubt. Meine Vorräte sind mir nämlich ausgegangen und, ehrlich gesagt, fürchte ich mich auch so allein im Wald.“
Yaro sah sie misstrauisch an. „Du fürchtest dich nicht.“, sagte er trocken, fast drohend. „Warum willst du uns begleiten?“
Ja’rui schob Yaro zur Seite. „Jetzt fürchtet sie sich auf jeden Fall, du Trottel. Da treffen wir eine schöne, junge Frau, die uns hier rausführen kann und du tust alles, um sie zu vergraulen.“ Er wandte sich an die Frau, die neben ihnen stand und überhaupt nicht erschrocken wirkte, sondern eher so, als würde sie jeden Augenblick laut loslachen. „Du musst meinen Freund Yaro entschuldigen. Er ist offensichtlich nicht im Stande, sich auch nur ansatzweise höflich zu benehmen.
Aber wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Ja’rui, der berühmte Magier und Kartenzeichner.“ Von einem Augenblick zum anderen hielt er eine Blume in seiner Hand.
Die junge Frau nahm sie lachend an. „Vielen Dank, mein Name ist Verdandi.“
5. Szene:
Von Verdandi geführt, gingen die drei wieder tiefer in den Wald. Obwohl Yaro froh war, dass sie jemanden gefunden hatten, der den Weg durch die Wälder kannte, war er immer noch misstrauisch. Diese Frau war ihnen sicher nicht zufällig über den Weg gelaufen. Er war sich fast sicher, dass sie es war, die ihnen vorhin gefolgt war. Warum hatte sie sich nicht gleich zu erkennen gegeben?
Während Yaro schweigend nebenher ging, waren Verdandi und Ja’rui in eine lebhafte Unterhaltung vertieft.
„Und du lebst hier?“
Verdandi nickte. „Ja, könnte man so sagen. Seit der Krieg angefangen hat. Vorher habe ich in Andal gelebt.“
Ja’rui sah sie begeistert an. „Warum haben wir uns nie getroffen?“
„Weil ich mich von Typen wie dir immer ferngehalten habe.“, entgegnete Verdandi kühl, aber in ihren Augen blitzte es vergnügt.
Ja’rui tat schockiert. „Typen wie mir? Yaro, sag doch mal was! Was meint sie damit?“
Yaro konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Najaaa...“, antwortete Verdandi gedehnt „Typen, die ein Mädchen sehen und ihr gleich Blumen schenken und etwas von Magie faseln...“ Sie blieb stehen und sah Yaro fragend an. „Oder kann er etwa tatsächlich zaubern?“
„Tja, ich kenn ihn ja noch nicht so lange,“ Yaro versuchte, besonders ernst und nachdenklich auszusehen. „aber bis jetzt hat er nur Essen verschwinden lassen.“
Verdandi lachte.
„Ach Yaro, mein Freund, das freut mich ja, dass deine Laune sich gebessert hat“, sagte Ja’rui bissig. Dann seufzte er und murmelte irgendwas von „verkanntes Genie“.
Yaro sah hinauf in den Himmel. „Ich würde mal sagen, es ist an der Zeit, sich einen Rastplatz zu suchen. Oder schaffen wir es heute noch bis zum Dorf?“ Er sah Verdandi an, die den Kopf schüttelte.
„Nein, wir werden wahrscheinlich erst morgen Abend ankommen, aber hier in der Nähe ist eine Lichtung. In einer Halben Stunde sind wir da.“
6. Szene: Der fremde Traum
Wieder der Flug über die schwarze Ebene. Obwohl die Türme von er Dunkelheit verborgen wurden, wusste sie, dass sie in der Nähe waren.
Aber es hatte keinen Sinn. Sie würde sie nie erreichen, konnte es nicht, weil ihre Kräfte sie verließen. Sie konnte es jetzt schon spüren. Diese schreckliche Müdigkeit und Verzweiflung, die jeden Funken Hoffnung erstickten, diese furchtbar einsame Ebene je zu verlassen.
Mit jedem unnützen Flügelschlag und jeder Böe, die sie wieder um Meter zurückwarf, wuchsen Furcht und Zweifel. Sie würde nie ihr Ziel erreichen. Ewig würde sie durch diese kalte, einsame Schwärze fliegen.
Da sah sie einen Funken Licht durch die Dunkelheit brechen. Nicht bei den Türmen, sondern fast in entgegengesetzter Richtung. War es möglich, dass sie nicht allein war? Dass es in dieser leeren Alptraumwelt auch Leben, Licht und Wärme gab?
Die flog auf das Licht zu, mobilisierte all ihre Kräfte. Ein winziger, schwarzer Pfeil, der durch die unendlich Dunkelheit raste.
Der Funken wurde größer. Blitze zuckten aus ihm hervor und zerrissen die Finsternis.
Je näher die kam, desto größer wurden die Blitze, das Licht wuchs immer schneller.
Eine gleißende Explosion ließ die Schwärze zerbersten und tauchte alles in unirdische Helligkeit.
Nur langsam zog sich das Licht zurück und blieb als Sonne hoch am Himmel stehen.
Der schwarze Vogel flog über eine saftige, hellgrüne Wiese. Irgendwo in der Nähe plätscherte ein Bach und in der Ferne erhob sich ein Gebirge schemenhaft aus dem Dunst.
Sie flog auf einen großen, blühenden Kirschbaum zu, der ihr seine Äste entgegenzustrecken schien und ließ sich auf einem Ast nieder.
Der Düsternis entkommen, fühlte sie sich glücklich und losgelöst. Hier war das Paradies. Hier könnte sie ewig bleiben.
Jetzt erst bemerkte sie das Paar, das unter dem Baum saß. Sie küssten sich. Der Mann sagte etwas, das sie von hier aus nicht verstehen konnte und die Frau lachte fröhlich.
Neugierig flatterte sie näher heran, auf einen niedrig hängenden Ast. Jetzt konnte sie die Frau erkennen. Sie hatte sehr helles, blondes Haar und lebhaft glänzende, gelbgrüne Augen.
Plötzlich wurde sie ernst und traurig. „Du weißt, dass ich nicht bleiben kann. Man verfolgt uns. Viele von uns wurden schon gefasst und getötet.“
„Du kannst mich nicht verlassen!“, antwortete der Mann eindringlich, fast flehend. „Ich kann dich verstecken, dich beschützen. Dir wird nichts geschehen.“
„Nein, das kannst du nicht. Und du weißt es. Wenn ich bei dir bleibe, werde ich sterben.“ Wie konnten diese seltsamen, grünen Augen nur so traurig gucken, während der Mund lächelte? „Aber in einem hast du recht: Ich kann dich nicht verlassen.“ Sie umarmte ihn und fing an zu weinen. Er wollte sie trösten, fand aber keine Worte und drückte sie nur fest an sich. Der Rabe konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen, aber sie war sicher, dass auch er weinte.
„Wenn ich ginge, würde ich dich nie wiedersehen.“, flüsterte die Frau. „Die Flucht würde mein Leben retten und zerstören, also werde ich sterben.“
Sterben. Das Wort hallte im Kopf des Vogels nach. Die Welt um sie herum verschwamm. Aber nein, sie wollte doch hier bleiben, hier, wo es warm und hell war. Sie versuchte, die Bilder festzuhalten. Das warme Licht, das Plätschern des Baches, den Geruch nach Frühling und Sonne. Aber es gelang ihr nicht. Alles verschwand und sie fand sich in einem düsteren Raum wieder. Sie wusste nicht, warum sie hier war, wie sie hergekommen war. Sie war kein Rabe mehr, aber dieser Gedanke wurde von dem Entsetzen verdrängt, das sie empfand.
Auf dem Boden lag eine Frau. Die Frau aus dem Paradies. Wie sie da lag, sah sie unglaublich klein und zerbrechlich aus, völlig hilflos. Ihr langes Haar, das hier, im Dämmerlicht dieses schrecklichen Raumes, weiß glänzte, verdeckte nur halb den Dolch, der in ihrer Brust steckte.
Der irrsinnige Wunsch alles ungeschehen zu machen, durchzuckte sie. Sie schloss die Augen. Wenn sie sie wieder öffnete, würden sie wieder auf der Wiese sein und all das wäre nie geschehen.
Aber als sich die Augen wieder öffneten, war da immer noch die Gestalt, die am Boden lag. Und diesmal sah sie ihr ins Gesicht. Ihr Entsetzen steigerte sich. Die gelbgrünen Augen, die so lebensfroh geleuchtet hatten, starrten weit aufgerissen ins Nichts.
‚Ich muss hier raus.’ Es war nicht ihr Gedanke, aber es stimmte. Sie musste aufwachen oder sie würde zerbrechen an den Gefühlen, die jetzt auf sie einstürmten und die nicht die ihren waren. Es war eine schreckliche Mischung aus Unglauben, Verlust, Trauer, Schuld und Liebe, die jede andere Empfindung, jeden Gedanken einfach mit sich riss und verschluckte.
Aufwachen! Sie rannte aus dem Raum. Aufwachen! Erleichtert nahm sie war, wie die Bilder mehr und mehr verschwammen.
Das letzte, was sie wahrnahm, als sie endlich aufwachte, war, dass es nicht ihr Gesicht war, das sich in der Rüstung der Wache spiegelte, gegen den sie bei ihrer Flucht stieß. Es war Yaros.
7. Szene: Alles und nichts
Verdandi erwachte schweißgebadet und nahm gerade noch wahr, wie Urd, die wohl bis dahin neben ihr gesessen hatte, in den Wald flatterte. Alles war ruhig. Nur das leise Geräusch des Windes, der durch das junge Laub der Bäume fuhr, das Knacken des Feuers.
„Bist du wach?“ Erschrocken richtete sie sich auf. Yaro saß ein Stück links von ihr vor dem Feuer, das sie am Abend angezündet hatten. „Ich hab schon überlegt, ob ich dich wecken sollte.“
Verwirrt sah sie ihn an. Es fiel ihr schwer, die Traumbilder abzuschütteln. Sie hatte Mühe, zu verstehen, was er sagte. Was hatte sie da geträumt? Das Geschehen stand ihr so klar vor Augen, wie die Erinnerung an etwas wirklich erlebtes. Eine Erinnerung? Konnte das sein? War das tatsächlich Yaros Erinnerung gewesen?
„Hier, trink erst mal!“ Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass er sich neben sie gesetzt hatte. Nach kurzem Zögern nahm sie die Schale mit Tee, die er ihr hinhielt und trank. Langsam fand sie in die Wirklichkeit zurück. Ihr fiel auf, dass Yaro vorhin genauso dagesessen hatte, wie zu dem Zeitpunkt, als sie eingeschlafen war. Hatte er die ganze Zeit so dagesessen? Auch jetzt war sein Blick wieder starr in die Flammen gerichtet.
„Entschuldigung, wenn ich dich geweckt habe.“ Murmelte sie.
Er sah sie erstaunt an. „Ach lass, ich konnte sowieso nicht schlafen.“ Er wandte sich wieder dem Feuer zu und schwieg einen Moment. „Ich wollte dir noch dafür danken, dass du mir nach der Schlacht geholfen hast. Du warst es doch, oder?“
„Ja, aber woher weißt du...?“
„Deine Stimme. Aber es hat eine Weile gedauert, bis ich drauf gekommen bin.“ Plötzlich hatte er sich umgedreht und sah ihr direkt ins Gesicht. „Warum bist du damals dort gewesen? Und warum bist du jetzt hier?“
Verdandi versuchte, ihren Schreck zu verbergen, aber einen kurzen Moment lang konnte man ihr dennoch anmerken, wie sehr die plötzlichen Fragen sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatten. Yaro hatte das eigentlich nicht beabsichtigt und auch nicht mit einer solchen Reaktion gerechnet. Den ganzen Tag lang hatte Verdandi sehr selbstsicher gewirkt. Der Alptraum schien sie ziemlich mitgenommen zu haben, was immer es gewesen war.
Yaro wollte sich schon bei ihr entschuldigen, aber Verdandi hatte sich schon wieder gefasst und sah ihn mit einer Mischung aus Trauer und Wut an. „Warum bist du nur so misstrauisch? Glaubst du ernsthaft, dass ich dir irgendetwas tun will? Das ist doch lächerlich!“
„Entschuldige, ich wollte nur die Wahrheit wissen.“
„Warum wollen bloß immer alle Menschen die Wahrheit wissen? Und wie kommst du darauf, dass ich sie dir sagen kann? Wahrheit!“, schnaubte sie verächtlich. „Was ist denn das schon? Wahrheit ist alles und nichts.“ Verdandi wandte sich von ihm ab und sah in die Flammen des Feuers. Es schien aber nicht so, als wäre sie wirklich wütend, sie wirkte eher nachdenklich.
„Was meinst du mit ‚Wahrheit ist alles und nichts’?“ Yaro war verwirrt. Irgendwann hatte er diesen Satz schon einmal gehört. Verdandi drehte sich zu ihm um und lächelte. Als sie zu sprechen begann klang ihre Stimme ganz anders als vorher, viel ruhiger.
„Bei den Brevit und Shalún erzählt man sich eine Fabel von einem Krieger, der auszog, einen Drachen zu töten. Er reiste sehr lange, bis er eines der Geschöpfe aufspürte, denn auch damals waren die Drachen schon sehr selten.
Doch nachdem er ihn im Kampf besiegt hatte, verschonte er das Leben des Ungetüms. Zum Dank gewährte der Drache ihm einen Wunsch. Der Ritter dachte lange darüber nach, was er sich wünschen sollte, doch schließlich erbat er sich, mit dem einen Auge nur das Wahre zu sehen und mit dem anderen nur das Falsche, um fortan Lüge und Täuschung erkennen zu können.
Als der Krieger jedoch die Augen wieder öffnete, nachdem ihm der Wunsch erfüllt worden war, sah er die Welt wie vorher. Wütend fragte er den Drachen, warum dieser sein Versprechen gebrochen hatte. Aber dieser erwiderte nur ruhig, dass nichts existierte, das nur wahr oder nur falsch ist. Und so würde er weiterhin alles so sehen, wie er es immer sah: mit beiden Augen.“
Verdandi schwieg. Einen Augenblick lang war alles still. Dann stand Yaro auf. „Alle Achtung, du hast wieder geschickt das Thema gewechselt, um nicht auf meine Frage antworten zu müssen. Aber vielleicht hast du recht. Es spielt keine Rolle, warum du hier bist. Jedenfalls danke ich dir dafür, dass du mich wieder an diese Geschichte erinnert hast, ich hatte sie beinahe vergessen.“
„Woher kanntest du sie?“
Yaro tat, als habe er die Frage nicht gehört. „Ich werde versuchen, noch ein wenig zu schlafen“, log er. „Gute Nacht.“
Verdandi wandte sich wieder dem Feuer und dachte nochmals über ihren Traum nach.
Ein leichter Windhauch ließ sie aufschauen. Sie erschrak, als sie neben sich die junge Frau aus ihrem Traum sitzen sah. Aber sie saß nicht wirklich dort. Ihre Umrisse waren seltsam verschwommen und die Flammen des Feuers erhellten den Boden in ihrer Nähe, ohne dass sie einen Schatten warf. Verdandi starrte sie an und überlegte, ob sie nun endgültig verrückt wurde. Ein Blitzen der gelbgrünen Augen, ein Lächeln und im nächsten Augenblick war der Geist verschwunden.
8. Szene: Überfall
„Los steh auf, du Faulpelz! Frühstück ist fertig.“ Ja’rui öffnete vorsichtig ein Auge. Was war das nur für ein schrecklicher Lärm? „Bist du wahnsinnig, solchen Krach zu machen? Es ist noch dunkel.“, jammerte er dumpf.
„Tja, wenn du nicht bald aufstehst, dann isst dir Yaro alles weg.“
„Na schön.“ Ja’rui setzte sich auf. „Was gibt’s denn Feines?“
Verdandi lächelte verlegen. „Najaaa, eigentlich haben wir nichts mehr zu essen. Deshalb wär es auch besser, wenn wir Hiel heute noch erreichen.“
„WAS? NICHTS ZU ESSEN??? DAS KANN DOCH NICHT DEIN ERNST SEIN!“
„Ach was, du musst das so sehn: Je eher wir da sind, umso früher gibt’s auch was zu essen.“
Ja’rui stand mürrisch auf. Yaro, der schon beim Einpacken war, wirkte ausgesprochen übellaunig und hungrig. Nur kurze Zeit später brachen sie auf.
Die Sonne war inzwischen aufgegangen, stand aber noch so tief, dass der Waldboden in Schatten getaucht war. Am Himmel verblassten die letzten Sterne. Die Luft war kühl und alles war taufeucht. Lange Zeit liefen die drei schweigend nebeneinander her. Das Unterholz war wieder dichter geworden und das dämmrige Licht, das im Wald herrschte, machte es nicht leichter, sich einen Weg zu bahnen.
Wie schon einmal fiel Yaro auf, dass es Verdandi gelang, sich völlig geräuschlos zu bewegen. Nur seine und Ja’ruis Schritte waren zu hören.
Nach einer Weile stießen sie auf einen schmalen, jedoch eindeutig erkennbaren Weg, der ihnen das Vorankommen deutlich einfacher machte. „Dieser Weg führt direkt ins Dorf.“, sagte Verdandi. „Wenn wir uns beeilen sind wir vielleicht schon am Mittag da.“
„Siehst du, Yaro, ich hab’ dir doch gleich gesagt, dass die Straße irgendwo weitergeht.“, grinste Ja’rui.
„Fang gar nicht erst an!“
„Hmm, hat wohl grad keine gute Laune, aber sag mal Verdandi, hast du gerade Mittag gesagt?“
„Jaja“ Sie lächelte und blieb plötzlich stehen. „Wo ich euch nun so gut geführt habe, können wir ja jetzt zu meiner Bezahlung kommen.“
Yaro und Ja’rui sahen sich etwas verdattert an. „Ähm, Bezahlung? Hat sie was von Bezahlung gesagt?“
„Japp, hab’ ich auch gehört.“
„War da vorher schon mal die Rede von oder hab’ ich da nur was nicht mitgekriegt?“
„Hm, glaub’ nicht.“
Verdandi lachte und setzte sich wieder in Bewegung. „Nun mal keine Panik. Ich will ja nur ein paar Neuigkeiten aus Andal hören.“
„Da kann ich dir nicht weiterhelfen.“, sagte Ja’rui hastig. „Ich war seit der Revolte nicht mehr da.“
Auch Yaro schüttelte bedauernd den Kopf. „Ist schon ewig her, dass ich mal da war und über höfische Politik hab’ ich den ganzen Winter über nur vage Gerüchte gehört. Aber unser Ja’rui hier“, er grinste breit, „ist, wie ich zufällig weiß, sehr gut informiert, da solltest du dich nicht so schnell abwimmeln lassen.“
Verdandi sah Ja’rui mit Unschuldsmine an. „Ist das wahr?“
Der Gefragte knirschte mit den Zähnen. „Bei allen Geistern! Bei solchen Freunden braucht man ja keine Feinde mehr. Du Verräter!“
Yaro und Verdandi sahen ihn jetzt beide gespannt an. „Erzähl schon! Was treibt unser allseits beliebter Minister Rir?“
„Was, davon wisst ihr noch gar nichts?“ Ja’rui klang ehrlich erstaunt.
„Wovon wissen wir noch nichts?“, fragte Yaro misstrauisch.
„Naja, es ist kein Geheimnis, dass er seit einigen Monaten nicht mehr unter den Lebenden weilt. Man erzählt sich, dass ihm eine Pilzmahlzeit nicht bekam.“
„Wie – er wurde vergiftet?“
„Jaja, sagte ich das nicht gerade?“
„Und wer regiert inzwischen? Doch wohl nicht die Königin?“, fragte Verdandi.
„Angoaz natürlich.“, erwiderte Yaro tonlos. Sein Blick war hasserfüllt.
Ja’rui schien davon nichts zu bemerken. „Hast du nicht gesagt, du hättest davon nichts gewusst?“
„Hab’ ich auch nicht, aber wer sollte es sonst sein?“, antwortete Yaro finster.
Verdandi warf ihm einen besorgten Blick zu, bevor sie sich wieder an Ja’rui wandte. „Wer ist dieser Angoaz eigentlich?“
„Bis vor kurzem war er oberster Heerführer unter Rirs Befehl. Ohne ihn hätte Rir den König nie stürzen können, aber offenbar hat er sehr viel ehrgeizigere Pläne, denn als Rirs Tod bekannt wurde hatte er schon mit seiner Armee das Schlossgelände besetzt und nun tanzen alle Höflinge aus Angst um ihr Vermögen und ihr Leben nach seiner Pfeife, während er sämtliche Ämter in Personalunion bekleidet.“
Sie schwiegen. ’Ein grausamer, machtgieriger Mann, mit Augen kalt und grau, wie blanker Stahl.’ Verdandi erinnerte sich jetzt. Sie hatte früher schon einmal von ihm gehört. Man erzählte sich schreckliche Geschichten über ihn und viele sprachen von ihm als einen bösen Geist oder Dämon. Verdandi hielt dieses Geschwätz für übertrieben und ausgesprochen abergläubisch, allerdings machte sie sich Sorgen um die Königin. Sie musste jetzt etwa neun Jahre alt sein. Hoffentlich ging es ihr gut...
Ein plötzliches Geräusch ließ sie herumfahren. Im Unterholz links von ihr hatte sich etwas bewegt. Nun hörte sie auch aus anderen Richtungen leises Rascheln. Sie blickte sich um und sah, wie für den Bruchteil einer Sekunde etwas metallisches aufblitzte. Sie waren umzingelt!
Bevor sie die anderen warnen konnte, stürzten sich vor und hinter ihnen mehrere Angreifer auf den schmalen Pfad, um ihnen den Weg abzuschneiden, während andere sie aus dem Unterholz heraus von der Seite umstellten. Verdandi wurde von Yaro zu Boden gestoßen, als der sein Schwert zog und auch Ja’rui hielt plötzlich ein Paar Messer in der Hand.
Yaro stürzte sich auf den am nächsten stehenden Gegner, einen jungen Mann mit rotem Haar, der allerdings keine Anstalten machte zu kämpfen, sondern mit entsetztem Gesichtsausdruck zurückwich. Yaro hatte kaum Zeit darüber nachzudenken, was für seltsame Wegelagerer das waren, als er ein hohes Sirren hörte. Er blickte sich um und sah, dass Ja’rui, von einem winzigen Pfeil getroffen, umgefallen war.
Ein weiteres Sirren und er spürte einen schwachen Stich in der Schulter, von dem sich rasend schnell ein taubes, kribbelndes Gefühl ausbreitete. ‚Giftpfeile’, schoss es ihm gerade noch durch den Kopf, bevor das Kribbeln auch diesen erreichte und die Welt sich verzerrte und kippte.
9. Szene: Mej
Verdandi rappelte sich auf und runzelte missbilligend die Stirn. „Das wäre ja wohl nicht nötig gewesen.“, sagte sie wütend zu dem Rothaarigen. Der blickte ziemlich zerknirscht drein. „Naja, wir wussten ja nicht, wer sie sind. Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, als Tchan allein zurückkam.“
„Sah das etwa so aus, als ob die beiden mir was tun wollten?“
„Naja, der eine trägt einen Gardemantel und...“
„Ach, hör’ schon auf“, Verdandi verdrehte genervt die Augen und atmete einmal tief durch. „Habt ihr mir wenigstens Tchan mitgebracht?“
„Mehr oder weniger. Wir konnten ihn nicht davon abhalten, uns zu folgen.“ Wie aufs Stichwort, kam das Pferd aus dem Wald getrabt, ein ängstlich blickendes Mädchen am Zügel hinter sich herschleifend. Verdandi musste grinsen. „Na schön, laden wir die zwei auf Tchans Rücken und dann ab nach Hiel. Ich habe einen Bärenhunger.“
Das Dröhnen wurde immer lauter. Es hatte schon vor einigen Minuten angefangen, als Ja’rui aufgewacht war und er hatte den Verdacht, dass es sich nicht wirklich um ein Geräusch handelte, sondern mit diesen bohrenden Kopfschmerzen zu tun hatte. Vorsichtig öffnete er ein Auge. Und schloss es sofort wieder. Das grelle Licht schien sich in sein Gehirn zu brennen und dachte gar nicht daran, zu verschwinden.
Als ein neues Geräusch auftauchte, merkte er erst mitten im Satz, das jemand neben ihm stand und redete.
„... wach? Komm schon, ich hab geseh’n, dass du wach bist. Geht’s dir gut? Vandi hat gesagt, dass ich dir das zu trinken geben soll. Nun komm schon... !“
Er öffnete die Augen. Vielleicht würde die Person ja dann zu reden aufhören. Tatsächlich verstummte die Stimme für einen Moment, wurde dann jedoch von lautem Rufen abgelöst. „Vaaaandiiii, sie wachen auf!“ Ja’rui hörte ein Stöhnen. Neben ihm hatte sich Yaro aufgesetzt. „Bitte, Mädchen“ ächzte er verzweifelt, „Schrei nicht so!“
Vorsichtig und so langsam wie möglich richtete sich nun auch Ja’rui auf... und fiel sofort wieder nach hinten. „Uuuaaah, ich glaub, mein Kopf platzt gleich.“
Das Kind hatte sich offenbar dazu entschlossen, auf Yaro zu hören und beschränkte sich jetzt darauf, in normaler Lautstärke weiter zu plappern. „Seid ihr Räuber? Mein Bruder hat gesagt, ihr habt Vandi entführt, aber Vandi sagt, das stimmt nicht. Ihr durftet sogar auf Tchan reiten! Das hat sie mir nie erlaubt, obwohl wir uns schon viel länger kennen und...“
„Ruhe... bitte!“
Erstaunt schwieg das Mädchen. Dann schüttelte es betrübt den Kopf. „Also, sehr gesprächig seid ihr zwei ja nicht gerade.“ Stille. Sie schien zu überlegen, was sie noch sagen konnte. „Ah, ihr wollt bestimmt wissen, wie ich heiße. Hmm, ’Tschuldigung, hab ganz vergessen, mich vorzustellen... ich bin Mej.“ Sie lachte fröhlich. Ohne die Kopfschmerzen hätte man sie fast für ein nettes Kind halten können, aber... „Und ihr, wie heißt ihr? Ich hätte ja Vandi gefragt, aber die hatte keine Zeit, die... “
„Mej, bitte“ Yaro hatte sich offensichtlich schon ein wenig erholt. „Könntest du bitte gehen... und... ähm... Verdandi holen, ich glaub, sie hat dich vorhin nicht gehört.“
„Ach, da muss ich doch nicht gehen. Ich ruf einfach ein bisschen lauter... VAAAANDIIIII“, zerriss ein Trommelfell zerfetzendes Brüllen die Luft.
„Die macht das mit Absicht, oder?“ In Ja’ruis Gesicht lag tiefste Verzweiflung.
Yaro setzte zu einem Nicken an, besann sich aber im letzten Moment eines Besseren. „Mmm, ich glaub, man foltert uns...“
„Arg, ich will sterben.“
In dem Moment betrat Verdandi den Raum. „Ach was, hier wird nicht gestorben.“ Ihr Blick fiel auf die noch vollen Tassen. „Ihr habt ja den Tee gar nicht getrunken, kein Wunder, das es euch noch nicht besser geht.“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Nein, da schwatzt ihr lieber fröhlich mit Mej, anstatt mal raus zu kommen und beim Essenmachen zu helfen.“ Damit drückte sie jedem eine Tasse in die Hand und verschwand wieder nach draußen.
„Seht ihr, ich hab euch doch gleich gesagt, dass ihr den Tee trinken sollt. Ihr seid aber auch stur. Und ihr habt mir immer noch nicht gesagt, wie ihr heißt. Das ist gemein, ich hab euch doch auch meinen Namen verraten.“ Sie guckte ärgerlich von einem zum anderen. „So, wie ihr wollt. Dann rede ich eben nicht mehr mit euch, bis ihr euch vorstellt. So was unhöfliches!“
„Ist das ein Versprechen?“, murmelte Yaro missmutig und leerte seine Tasse in einem Zug. Das Gebräu schmeckte widerlich, aber er spürte jetzt schon, wie seine Kopfschmerzen langsam nachließen.
„Du trinkst das stinkende Zeug tatsächlich?“, fragte Ja’rui angeekelt.
Yaro zuckte mit den Schultern. „Solltest du auch. Es scheint zu helfen.“
„Hoffen wir’s...“ Ja’rui hielt sich die Nase zu und trank. Dann sah er zu Mej hinüber, die jetzt unermüdlich von einem Bein auf das andere hüpfte und dabei leise aber eindringlich vor sich hin summte. „Okay, du hast gewonnen. Ich bin Ja’rui Fidès und das ist Yaro.“
Mejs Gesicht strahlte vor Freude. „Gut, ich verzeih euch. Jetzt können wir ja Freunde werden. Ich zeig euch das Dorf und dann zeig ich euch mein Zimmer und dann stell ich euch meinen Bruder vor und dann können wir spielen und dann...“
„Himmel, was kriegt das Kind zu essen?“
„Ja, ein bisschen überdreht, die Kleine... Da fällt mir ein...“ Ja’rui versuchte, Mejs Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Hey, hallo! Mej? Mej… gaaanz ruhig. Sag mal... Kennst du zufällig eine gewisse Zilbras?“
Mej sah ihn ein wenig verwirrt an. „Ja, natürlich kenn ich Zilbras. Ihr doch auch.“ Sie fing wieder an, im Zimmer herum zu springen. „So hieß Vandi, bevor sie in unser Dorf gekommen ist.“
Drittes Kapitel
1. Szene: Im goldenen Käfig
In einem geräumigen, kostbar eingerichteten Turmzimmer hob sich eine Gestalt schwarz gegen das durch ein hohes, buntverglastes Fenster einfallende, matte Licht des Regentages ab. Es war ein etwa neunjähriges Mädchen, das dort auf der weichgepolsterten Bank vorm Fenster saß und die Regentropfen beobachtete, die die Scheiben herunter um die Wette liefen. Zwischendurch ließ sie ihren Blick über den tief unter ihr liegenden Hof schweifen. Das monotone Klopfen des Regens schien mit dem einförmigen Auf- und Abgehen der überall dort verteilten Wachen eine Einheit zu bilden. Seufzend wandte sie sich wieder den Regentropfen zu, beobachtete dann, was außerhalb der Burgmauern lag. Erst die Stadt Andal, die jetzt wegen des Regens ungewohnt ruhig unterhalb des Schlosses lag und die Sturzbäche, die durch ihre Straßen den Hügel, auf dem sie erbaut war, herunterrauschten, mit derselben Geduld über sich ergehen ließ wie immer. Dann schweifte ihr Blick in weitere Ferne, suchte den Horizont, der aber hinter dichten Regenschleiern verborgen lag.
Ein Krachen auf dem Gang vor ihrem Zimmer ließ sie aufschrecken. Sie sah sich erstaunt um. Die Zeit, zu der die Wachen ihr gewöhnlich ihr Essen brachten war noch gar nicht gekommen. Sie dachte kurz darüber nach, sich zu verstecken, aber das hätte keinen Sinn. Auf dem Gang war es wieder still geworden. Sie beruhigte sich etwas. Einen Moment lang hatte sie befürchtet, das sie kämen, um sie zu töten, aber wahrscheinlich hatte nur jemand etwas fallengelassen. Sie hatte Rir immer gehasst, er war ein gieriger Intrigant gewesen, aber sie hatte niemals Angst um ihr Leben gehabt, da er in ihrem Namen regiert hatte. Doch seit Angoaz herrschte war sie nicht mehr sicher. Sie hatte Angst vor ihm seit sie ihm zum ersten mal begegnet war. Wie er sie angesehen hatte... so gleichgültig, als wäre ihm ihr Leben völlig egal...
Ein Poltern direkt vor ihrer Tür ließ sie zusammenzucken. Also doch. Die Tür wurde zur Seite geschlagen und knallte gegen die Wand. Drei vermummte Männer traten ein. Sie bemerkte, dass sie aufgesprungen und zurückgewichen war. Sie wollte davon laufen, sich irgendwo verstecken, aber die Angst lähmte sie. Gerade wollte sie schreien, als einer von ihnen das Tuch, das sein Gesicht verbarg, abnahm. „Still, Luscinia!“, sagte er leise. Sie hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. Auch die Stimme kam ihr bekannt vor. Und er hatte sie mit ihrem Namen angesprochen!
„Bitte, schreit nicht, Prin- verzeiht, Majestät! Seid bitte still, vielleicht hat man unser Eindringen noch nicht bemerkt.“ Der Mann, der gesprochen hatte, sah sich nervös um und trat näher, während die anderen Beiden in der Nähe der Tür blieben und den Korridor im Auge behielten.
„Wir sind hier, um Euch zu befreien. Wenn ihr bitte mitkommen würdet.“
Jetzt erkannte sie ihn. Es war Meles! Er war ein Mitglied der Leibwache ihres Vaters gewesen. Endlich würde sie hier wegkommen! Sie nickte nur und folgte den Männern, die das Zimmer jetzt verließen und durch die Gänge eilten, an jeder Ecke nach Wachen ausspähend. Angst und Aufregung ließen Luscinia das Herz bis zum Hals schlagen. Aber da war auch die Freude, endlich hier raus zu kommen. Endlich müsste sie nicht mehr den ganzen Tag in ihrem Zimmer bleiben. Sie könnte draußen mit anderen Kindern spielen, bei Leuten leben, die sie von klein auf kannte, die sie an ihren Vater erinnerten!
Die Flüchtigen rannten zielsicher durch die labyrinthischen Gänge des Schlosses zur Dienstbotentreppe. Ohne auf Wachen zu stoßen gelangten sie in die Küche im Erdgeschoss. Hier hielten sie inne. Völlig außer Atem ließ sich Luscinia auf einen Stapel Feuerholz sinken, der neben dem Ofen aufgeschichtet war. Einer ihrer Entführer war an der Tür stehen geblieben, um diese zu sichern, der zweite lief zur gegenüberliegenden Tür, die hinaus in den Hof führte. Vorsichtig spähte er hinaus, schloss die Tür aber schnell wieder. „Die Wache ist gerade um die Ecke gekommen.“ Zischte er Meles zu, der sich neben die kleine Königin gestellt hatte.
Dieser blickte erschrocken auf. „Das kann nicht sein! Raq und seine Leute hätten sie schon längst ausschalten sollen.“ Er fluchte leise. „Irgendetwas muss schief gelaufen sein.“
Meles sah sich nervös um. Was sollte er jetzt tun? Kurz wog er ihre Chancen ab, den Hof trotz der feindlichen Soldaten zu passieren. Nein, das würden sie nicht schaffen. Sie mussten einen anderen Weg probieren. „Wir können auf keinen Fall länger hier bleiben. Wir versuchen es am Nordtor. Von dort... “
Ein schmerzerfülltes Keuchen unterbrach ihn. Drei Köpfe ruckten in Richtung der Tür, durch die sie hereingekommen waren. Der Rebell, der diese bewacht hatte sank röchelnd zu Boden. Ein tiefroter Schnitt klaffte in seiner Kehle und aus seinem Mund tropfte Blut. Die Augen des Mädchens weiteten sich entsetzt. Das konnte nicht sein! Nicht schon wieder!
Meles und der andere Rebell, dessen Namen sie nicht kannte, hatten ihre Schwerter gezogen, während Wachen am zusammengesackten Körper des toten Rebellen vorbei in die Küche stürmten. Unsanft wurde sie von Meles am Arm gepackt und auf die Tür zum Hof hin gezogen. Nur noch wenige Stritte vom Ausgang entfernt ließen Alarmrufe von draußen sie wieder zurückweichen. Auch von dort kamen nun Wachen herein. Sie saßen in der Falle!
Luscinia wurde von Meles an die Wand gedrückt. Er und der andere stellten sich schützend vor sie, die Schwerter zur Verteidigung erhoben. Die Wachen hatten sie umzingelt und griffen an.
Von ihrem Platz an der Wand konnte sie kaum etwas erkennen. Ihre Sicht war durch die zwei Rebellen verdeckt, die verzweifelt versuchten, die Angreifer abzuwehren. Aber sie hatten keine Chance, das sah sogar sie.
Entsetzt schrie sie auf, als eine blutige Schwertspitze sich durch den Rücken des Rebellen bohrte und nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht verharrte. Dann wurde die Klinge zurückgezogen und ihr Verteidiger sank zu Boden.
Meles fluchte laut, als er von drei Seiten gleichzeitig angegriffen wurde. Dieser Übermacht war er nicht gewachsen. Einige Schläge konnte er noch parieren, aber dann wagte der linke Angreifer einen Ausfall und rammte ihm sein Schwert in die Seite.
Der ehemalige Leibwächter stürzte auf die blutigen Holzplanken. Verzweifelt suchte sein Blick das Mädchen, das ihn wie paralysiert anstarrte. Er würde sterben und konnte nichts mehr tun, um sie zu schützen. Er hatte versagt. „Verzeiht mir, Majestät.“ Die Worte waren nur undeutlich zu verstehen. Kaum mehr als ein Flüstern, bevor sein Blick sich trübte und sein Kopf zu Boden sank.
Die Angreifer stockten kurz. Die Eindringlinge zu töten war selbstverständlich gewesen, aber was sollten sie mit dem Kind tun?
Auch ihr Anführer zögerte einen Augenblick, trat dann aber vor. Als sie dem Herrn Angoaz den Entführungsversuch gemeldet hatten, war sein Befehl eindeutig gewesen: „Tötet sie. Alle.“
Die Königin sah ihn voller Entsetzten an, unternahm aber keinen Fluchtversuch. Wohin sollte sie schon laufen? Alle Hoffnung hatte sie verlassen. Sie würden sie umbringen, so wie ihren Vater und Meles. Sie schloss ihre Augen. Der Hauptmann der Wachmannschaft erhob sein Schwert und...
„Halt!“
... erstarrte mitten in der Bewegung. Alle sahen zur Tür, in der, scheinbar seelenruhig, ein fünfzehnjähriger Junge stand.
„Junger Herr!“ Der Hauptmann ließ von seinem Opfer ab und verneigte sich leicht.
Der Junge zwang sich, die Küche zu betreten. Es kostete ihn unheimliche Mühe, die Toten zu ignorieren und sich gelassen zu geben. Er sah dem Hauptmann fest in die Augen. „Sie wird nicht getötet.“ Nachdrücklich betonte er jedes einzelne Wort.
„Aber der Befehl Eures Vaters ist klar, wir...“
Mit einer herrischen Geste, die die Wachen sehr an Angoaz erinnerte, brachte er den Älteren zum Schweigen. „Maßen Sie sich nicht an, meinen Befehl in Frage zu stellen!“ Seine Stimme klang leise und sehr bedrohlich. Ohne auf die Reaktion des Hauptmannes zu warten, ging er zur Königin, packte sie an der Schulter und schob sie vor sich her aus der Küche und zu ihrem Turmzimmer.
Dort fielen Ruhe und Gelassenheit von ihm ab und ihm wurde klar, was er da gerade getan hatte. Das würde Ärger geben...
Natürlich wollte sein Vater, dass Luscinia getötet wurde. Solange sie lebte, war Maloars Tochter eine große Gefahr. ‚Auf so eine Gelegenheit wartet mein Vater doch schon die ganze Zeit.’ , dachte Angoaz’ Sohn bitter. ‚Er könnte das Ganze wie einen Anschlag der Rebellen auf die Königin aussehen lassen. Viele würden das zwar nicht glauben, aber wer würde es schon wagen, offen die Wahrheit zu sagen?’
Traurig sah er zu dem kleinen Mädchen, das sich auf die Bank vor dem Fenster gesetzt hatte und weinte. Sie war in großer Gefahr, aber er konnte ihr nicht helfen. Schon für die Aktion eben war die Strafe kaum absehbar. Er hatte das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen, doch ihm fiel beim besten Willen nichts ein und er verließ fluchtartig den Raum.
2. Szene: In Hiel
Tief einatmend trat Ja’rui aus der Hütte und sah sich um. Hiel stellte sich als ein kleines Dorf heraus, das an einer Seite von einem ruhig fließenden Fluss, an den anderen durch den nahen Waldrand begrenzt wurde. Die Nachmittagssonne schien wohlwollend auf zwei Dutzend Häuser und kleine Hütten und einen größeren Bau in der Mitte der Ansiedlung.
Hinter ihm waren nun auch Yaro und Mej durch die niedrige Tür gekommen.
„Los, los, los! Ich soll euch doch zu Vandi bringen. Trödelt nicht so!“ Mej hatte Ja’rui am Ärmel gepackt und zerrte daran. Sie folgten ihr, an kleinen Gärten, Häusern und Ställen vorbei, auf das große Gebäude zu. Bei näherer Betrachtung stellte es sich als eine Art Langhaus heraus, etwa zehn Fuß hoch, sechzehn breit und dreiunddreißig lang. Die Stützbalken waren mit aufwendigen Schnitzereien verziert, die Tiere und Pflanzen zeigten und am Fürst ragten zwei sich kreuzende Dachbalken in die Höhe. Im Inneren der Halle herrschte reges Treiben. An der Decke hingen massenhaft getrocknete Kräuter und Pilze, die einen intensiven Geruch verströmten. Es war ziemlich stickig und laut. Die meisten Leute im Raum waren irgendwo mit der Zubereitung von Nahrungsmitteln beschäftigt, einige arbeiteten auch an anderen Dingen, wurden aber immer wieder aus dem Weg gescheucht, weil es so eng war.
„Ein Shun-Layna...“, murmelte Ja’rui gerührt. „Ich war schon ewig in keinem mehr.“
„Ein was?“, wollte Yaro wissen.
„Na... eine... Dorfhalle, das trifft es wohl am ehesten.“, erklärte Mej, die sich innerhalb weniger Sekunden dafür begeisterte, ihrem Gast etwas beizubringen. „Man trifft sich hier, kocht, feiert, handelt, arbeitet, na solche Dinge eben. Im Augenblick ist es allerdings immer sehr eng, weil einige Flüchtlinge hier wohnen bis sie sich eigene Häuser gebaut haben. Ein paar haben schon angefangen.“
Yaro erinnerte sich, schon mal derartige Häuser gesehen zu haben, allerdings immer ausgebrannt und verlassen. Aber sicher, diese Leute waren Shalún! Jetzt fiel ihm auch an einzelnen von ihnen die typische, rostrote Kleidung auf, allerdings auch die ängstlichen und wütenden Blicke, die sein Mantel auf sich zog.
In diesem Moment entdeckte Ja’rui Verdandi, die zusammen mit anderen Frauen um einen großen Topf herumstand und über die Zutaten stritt. Als sie die drei auf sich zukommen sah, lief sie ihnen entgegen. „Wir reden draußen.“, sagte sie und schob sie zurück in Richtung Ausgang.
Im Freien angelangt lehnte sie sich an die Hauswand und blinzelte in die Sonne. „Und geht’s euch besser? Hat die Medizin geholfen? Hat Mej euch auf Trab gebracht?“
Yaro verdrehte die Augen und Verdandi grinste fröhlich.
„Du bist also Zilbras.“, sagte Ja’rui plötzlich.
„Ja, wieso?“, Verdandi gab sich alle Mühe, unbeteiligt zu wirken, aber sie schien misstrauisch geworden zu sein.
„Weil ich mit dem Auftrag losgeschickt wurde, eine Zilbras zu finden und sie zu Assin zu begleiten.“
Verdandi verzog das Gesicht. „Verdammt, der soll mich in Ruhe lassen.“
„Heißt das, du wirst nicht hingehen?“
„Das heißt, dass ich nicht will.“
„Also kommst du nicht?“
„Doch.“
Ja’rui klang inzwischen genervt. „Ja, wie denn nun?“
„Ja.“, sagte Verdandi trotzig.
„Na, du musst nicht, wenn du nicht willst. Mir ist das völlig egal.“
„Doch ich muss. Wir können morgen los, also vergiss es.“
Ja’rui schüttelte den Kopf und wechselte das Thema. „Warum hast du nicht gleich gesagt, wie du wirklich heißt?“
„Weil ihr nicht gefragt habt.“, entgegnete sie schulterzuckend. „Außerdem macht es ja keinen Unterschied, wir hätten sowieso erst hierher gemusst, um uns auszurüsten.“
„Trotzdem.“
„Na hör mal, du kennst ja wohl auch Yaros Namen nicht.“
Ja’rui sah Yaro verblüfft an. „Stimmt! Und, wie heißt du?“
Yaro versuchte angestrengt so zu tun, als habe er nicht mitbekommen, worüber sie bis jetzt geredet hatten. „Wie? Heißen? Ähm... ich... ich werd’ mir mal das Dorf genauer ansehen. Kommst du mit, Mej?“
Mej war natürlich sofort begeistert und schleifte Yaro weg, während sie vor sich hin plapperte.
Ja’rui sah Verdandi verwundert an. „Was sollte denn das jetzt?“
„Vielleicht will er gerne, dass Mej ihm das Dorf zeigt.“, schlug sie gespielt arglos vor.
Ja’rui musste lachen. „Ja klar, ich glaub’ eher, der will nicht mit uns reden.“
„Wie kommst du nur darauf?“, fragte Verdandi mit hochgezogenen Augenbrauen. „So, das reicht jetzt aber, Schluss mit dem Geplänkel. In einer halben Stunde soll das Essen fertig sein. Ich hab’ zu tun und du kannst auch helfen.“ Mit diesen Worten zog sie Ja’rui wieder in die Halle.
3. Szene: Angoaz
Die zuckenden Flammen der Fackeln warfen unstet tanzende Schatten an die Wände des Raumes. Fast schien es so, als bewegten sich die grobbehauenen Felsquader, die sich zu einer unregelmäßigen Oberfläche zusammensetzten. Sah man lange genug hin, ohne die Augen zu schließen, konnte man beobachten, wie sie sich gegeneinander verschoben, ineinander flossen und sich schließlich, man wollte fast meinen widerwillig, voneinander trennten.
Der Junge fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung über die Augen und zog die Decken, die man ihm gebracht hatte enger um die Schultern. Während draußen der Frühling einzog, herrschte hier unten, in den Kerkern des Schlosses noch tiefster Winter. Der nächsten Wache, die sich hier blicken ließ würde er befehlen, einen Ofen zu holen.
Unabhängig von Angoaz’ Befehl, ihn einzusperren, war er schließlich immer noch der Junge Herr und die meisten Soldaten der Leibgarde wollten es sich mit ihm ebenso wenig verderben, wie mit seinem Vater. Und so hatte er ein trockenes und einigermaßen sauberes Verlies zugewiesen bekommen.
Wenn ihm nur nicht so langweilig wäre...
Wie lang er hier wohl noch bleiben musste? Sein Vater war nicht gerade bekannt dafür, sich schnell wieder abzuregen, wenn etwas nicht nach seinen Wünschen verlief. Andererseits war er wahrscheinlich so zornig, das er es sich kaum nehmen lassen würde, dieser Wut auch Luft zu machen.
Einen Moment lang überlegte der Junge, wie lange er wohl schon hier war. Nach seinen Schätzungen würde sein Vater jeden Moment auftauchen.
Als er nur wenige Minuten später dessen Stimme jenseits der dicken Kerkertür hörte, musste er unwillkürlich grinsen.
Seufzend erhob er sich von der Liege, auf der er gesessen hatte. „Na dann mal los.“
Sein resigniertes Murmeln wurde vom Quietschen des Schlüssels im verrosteten Schloss übertönt. Die Tür schwang auf und zwei Gardisten eilten herein, um Spalier zu stehen, bevor Angoaz den finsteren Raum betrat.
Der ehemalige Heerführer stellte sich in voller Größe in die Mitte des Raumes und sah seinen Sohn, der sich an die gegenüber liegende Wand gelehnt hatte, eindringlich schweigend an. Kein Zweifel, er wartete darauf, dass dieser sich rechtfertigte. Aber dieses Spiel konnte man auch zu zweit spielen.
Als nach einer geraumen Weile immer noch keiner von beiden etwas gesagt hatte, ergriff Angoaz endlich das Wort. „Nun Laynar, ich höre.“, zischte er mit kaum verhohlener Wut.
Der Angesprochene stieß sich von der Wand ab und sah ihn halb spöttisch, halb unschuldig an. „Tja, neun von zehn Punkten, würde ich sagen. Das war ein wirklich imposanter Auftritt. Mit diesen zwei Soldaten und diesem bösen Blick... ich bin mächtig beeindruckt.“
„Spar’ dir deine Kindereien. Ich bin nicht in der Stimmung.“
Das sah Laynar auch. Sein Vater war normalerweise extrem selbstbeherrscht, kühl berechnend. Aber jetzt war sein unterdrückter Zorn fast mit Händen zu greifen. Sich hier rauszureden würde schwieriger werden, als er gedacht hatte. Zeit, die Taktik zu ändern; Angriff war ja bekanntlich die beste Verteidigung.
Erbost ging er einen Schritt auf Angoaz zu. „Ich auch nicht, Herr Vater, das kannst du mir glauben. Du lässt mich ohne Begründung die halbe Nacht in dieses verflucht kalte Loch werfen. Ich hab mich fast zu Tode gelangweilt! Ist dir eigentlich klar, dass ich damit auch jeden Respekt bei unseren Leuten verliere? Wenn hier jemand schleunigst eine Erklärung abgeben sollte, bist du das, nicht ich!“
Verstohlen beobachtete Laynar die Reaktion seines Vaters. War es wirklich eine gute Idee gewesen, ihn noch zu reizen?
Aber Angoaz blieb ruhig, zumindest äußerlich. Sein Mund verzog sich zu einem Unheil verkündenden Lächeln. „Mein lieber Sohn, wie es aussieht, gab es da wohl ein Missverständnis.“ Eindringlich sah er ihm in die Augen, während dieser sich bemühte, möglichst arglos zu wirken.
„Ein Missverständnis? Was betreffend?“
„Tja, was betreffend...“ Das Lächeln auf den Lippen des ehemaligen Heerführers erstarrte, die Augen verengten sich gefährlich. „Die Maloar betreffend natürlich! Oder kannst du mir erklären, warum dieses dumme Balg noch lebt? – Gegen meinen ausdrücklichen Wunsch?!“
Jetzt wurde es riskant. Den Ahnungslosen zu spielen fiel Laynar schwer, die Rolle passte nicht zu ihm. Ob sein Vater ihm das abkaufen würde? Innerlich atmete er noch einmal tief durch, während er einen verwirrten Ausdruck auf sein Gesicht zauberte.
„Verzeiht, Vater. Luscinia sollte getötet werden?“ Er sah ernsthaft zerknirscht aus. „Das ist dann in der Tat ein schreckliches Missverständnis. Ich hatte angenommen, wir bräuchten sie als Geisel und da wollte ich natürlich verhindern, dass sie getötet wird. Es tut mir leid, wenn mein unbedachtes Handeln deine Pläne gefährdet.“ Der letzte Satz war nur noch ein reuevolles Flüstern gewesen.
Während er so tat, als würde er demütig zu Boden sehen, beobachtete der Junge angespannt das unbewegte Gesicht seines Vaters. Dieser schien nicht so recht zu wissen, was er von dieser Vorstellung halten sollte. Er hätte es nie offen zugegeben, aber bei Laynar konnte er, der fast jeden durchschaute, schon seit Jahren nicht mehr sagen, ob er log oder die Wahrheit sagte. Warum war er nur mit so verschlagenen, eigensinnigem, rebellischen Söhnen geschlagen?
Laynar, der das Schweigen seines Vaters als Zweifel an seiner Ehrlichkeit deutete, entschloss sich, zu schwereren Geschützen zu greifen. Er sah Angoaz treuherzig ins Gesicht und verzog den Mund zu einem kalten Lächeln.
„Zum Glück, lieber Herr Vater, ist mein dummer Fehler ja leicht zu korrigieren. Wenn ihr es von mir verlangt, werde ich das Mädchen persönlich töten.“ Das war hoch gepokert, aber so wie er die Situation einschätzte, war Angoaz an einem plumpen Mord, der seinem Ruf schaden konnte, nicht interessiert. Er hoffte nur, dass er richtig lag...
Das Angebot verblüffte Angoaz; und es machte ihn misstrauisch. Argwöhnisch sah er seinen Sohn an. Ein Mord, das passte nicht zu ihm. Er war nicht rücksichtslos, nicht kaltblütig genug. Wollte er ihn für dumm verkaufen? Die Zweifel, die ihn so wütend gemacht hatten, tauchten wieder auf.
Wutentbrannt drückte er den Jungen gegen die Wand und zog ihn unsanft auf Augenhöhe. Seine eisgrauen Augen waren im Fackellicht fast schwarz, belebt nur von den zornigen, glutroten Funken, die sie jetzt auf sein Gegenüber schleuderten.
„Hör’ mir zu, Laynar!“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Zischen, aber unglaublich schneidend und furchteinflößend. „Jeder andere an deiner Stelle wäre schon längst tot. Und ich schwöre dir, wenn du mich hintergehst, wird es dir genauso ergehen. Glaub’ mir, ich werde keinen Augenblick zögern, dann ist es mir gleichgültig, ob du mein Sohn bist.“ Noch ein nachdrücklicher, drohender Blick, dann drehte sich Angoaz
abrupt um und verließ fast fluchtartig den Kerker. Die beiden Soldaten folgten ihm, die Tür ließen sie offen.
Laynar rutschte benommen an der Wand hinab und setzte sich auf den kalten Boden. Undeutlich wurde ihm bewusst, das er zitterte. Ob es an der Furcht oder an der eisigen Kälte lag, konnte er nicht sagen.
4. Szene: Abschied
Es war finster. Nur ein kleines Stück hatte er sich von den Gebäuden entfernt, die von einigen Fackeln erhellt wurden. Um ihn her herrschte eine tiefe, bedrückende Dunkelheit. Es war völlig windstill, aber aus dem nahen Wald drang ein lockendes Flüstern, ihn drängend, diesen Ort zu verlassen, weiter zu fliehen. Wenn er nur wüsste, wohin...
Im warmen Schein der Fackeln wirkte Hiel nun sehr friedlich, bald würden sie alle die Halle verlassen und zum Schlafen in ihre Häuser zurückkehren. Einige waren, wie er, schon gegangen. Ab und an huschte ein Schatten an den Hauswänden entlang und verschwand dann so plötzlich wieder, wie er gekommen war. Ein seltsam verlassenes Gefühl überkam ihn, als er dem Dorf den Rücken zuwandte. Aber es hatte keinen Sinn hier zu bleiben. Seine Gedanken schweiften zurück zu dem Fest, das er erst kurz zuvor verlassen hatte. Die Halle war so voll gewesen, dass sich die Leute gegenseitig auf die Füße traten und auch das Essen war eher notdürftig aus übrigen Wintervorräten zusammengekocht worden. Und dennoch... alle waren so fröhlich gewesen, so sorglos. Selbst er hatte es geschafft, einen ganz kurzen Moment lang zu vergessen.
Vergessen? Erstaunt drehte er sich um, warf noch einen letzten Blick auf die Halle und die umstehenden Häuser. Tatsächlich, für einen Augenblick hatte er einfach nicht daran gedacht, wer er war, was geschehen war und was zu tun er sich geschworen hatte.
Doch dann, von einem Augenblick zum anderen, waren alle Erinnerungen wieder da gewesen und mit ihnen der feste Entschluss, das Dorf sofort zu verlassen. Hastig war er aufgestanden und hatte sich verabschiedet. Er wäre müde, wolle schlafen, wie lächerlich! Als ob er schlafen könnte. Flüchtig wunderte er sich darüber, dass sie seine Lüge nicht sogleich durchschaut und versucht hatten, ihn aufzuhalten. Aber warum sollten sie das? Er war keiner von ihnen, würde es niemals sein.
Und dann war ihm diese seltsame, alte Frau begegnet. Sie saß an der Tür. Er wäre fast über sie gestolpert, aber sie hatte sich keinen Millimeter bewegt, hatte dort zusammengesunken an der Wand gelehnt und schien zu schlafen. Dünnes, weißes Haar fiel ihr ins runzlige Gesicht. Aber als er sich nach ihr umdrehte, hatte er gehört, wie sie etwas murmelte. Er hatte sich näher zu ihr gebeugt, um sie zu verstehen und sie hatte den Kopf gehoben und ihn aus trüben, grau verschleierten Augen angesehen. Trotz der ausgelassenen Stimmung und des Lärms, der daraus erwuchs, war es der brüchigen Stimme gelungen, ihn zu erreichen.
„Du willst uns schon verlassen, Krieger? Vielleicht wäre das ein Fehler, du solltest dich fragen, welchen Weg das Schicksal für dich bestimmt hat. Ist es nicht seltsam, dass du hier gelandet bist? Als Gardist.“ Sie hatte ihren dünnen, zitternden Arm ausgestreckt und kurz seine Hand berührt, dann hielt sie inne und sank schließlich wieder in sich zusammen. „Hmm...“, brummte sie. „...ganz außergewöhnlich.“ Einen Moment hatte sie gezögert, bevor sie weitersprach. „Vielleicht musst du deinen Weg allein fortsetzten, aber vielleicht...“ Wieder hatte sie versonnen in seine Richtung geblickt, aber die blinden Augen sahen nicht ihn, sondern schienen etwas weit entferntes zu erblicken.
Er wollte doch das Dorf so schnell wie möglich verlassen. Warum ging er jetzt nicht? Er wollte doch gar nicht hören, was eine greise, allem Anschein nach auch etwas verrückte Hexe ihm zu sagen hatte. Aber es war vergebens. Es hatte sich angefühlt, als wären seine Beine am Boden der Halle festgewachsen. Die Luft um ihn herum schien immer stickiger zu werden, die Gesprächsfetzen, die von den anderen herüberwehten immer unverständlicher und wirrer. Plötzlich hatte er die alte Frau wieder gehört, ohne dass er sich erinnern konnte, wann sie wieder begonnen hatte zu reden.
„Wenn du meinen Rat hören willst...“ Ein trockenes Kichern, fast ein Husten. „Aber natürlich willst du das nicht. Junge Leute wollen keine Ratschläge, sie wollen Antworten auf ihre Fragen. Und das, obwohl es immer die falschen Fragen sind, die sie stellen.“ Zerstreut schüttelte sie den Kopf. „Mein Rat wäre, deine Flucht hier zu beenden, neu zu beginnen, deine Rache zu vergessen, dir selbst zu verzeihen. Aber ob es dir gelingen wird?“ Zweifelnd, abwägend hatte sie das Haupt geneigt.
„Mir selbst verzeihen?“ Er hatte seine Stimme wiedergefunden, doch sie klang rau und fremd. Er wollte nicht darüber reden, nichts davon hören, nicht einmal darüber nachdenken.
Sie nickte leicht. „Diese Aura. Ein Geist schützt niemanden, dem er nicht verzeihen kann. Dir wurde vergeben, du bist nicht schuldig, du solltest aufhören, zu fliehen, solange es noch nicht zu spät ist.“
Die seltsame Lähmung hatte sich gelöst, er blinzelte. „Woher willst du wissen, dass es nicht längst zu spät ist? Ich kann nicht mehr umkehren.“ Es sollte wütend klingen, war aber nur ein ersticktes Flüstern. Er bekam hier drinnen keine Luft mehr, musste auf der Stelle raus. Er war zur Tür gewankt und ins Freie gestürzt. Nur weg von diesem Gerede. Die kalte Nachtluft und die beruhigende Dunkelheit machten ihn leicht benommen, aber vielleicht hatte er auch nur zu viel getrunken. Woher hatte diese Hexe das alles gewusst? Doch bei näherem Nachdenken wurde ihm klar, dass sie gar nichts gewusst hatte. Was hatte sie schon gesagt? Alles nur dummes Geschwätz über Geister und Schicksal von einer senilen, alten Närrin.
Doch trotz dieser Gedanken war ein eigenartiges Gefühl zurückgeblieben und nagte an ihm, während er zu der kleinen Hütte ging, in der Ja’rui und er erst einige Stunden zuvor aufgewacht waren. Er hatte seinen Mantel und sein Schwert geholt und das Dorf verlassen. Oder, besser gesagt, hatte es gewollt. Doch nun stand er hier und blickte zurück auf die Halle, aus der jetzt immer mehr Menschen in kleinen Grüppchen herauskamen. Bald würden sich auch Verdandi und Ja’rui auf den Weg machen, immerhin wollten sie ja morgen weiterreisen. Sie würden sein Verschwinden bemerken, ihn vielleicht sogar suchen. Aber warum sollten sie das eigentlich tun? Sie hatten ihn nicht gebeten, mit ihnen zu kommen und er hatte es auch nicht vorgehabt. Ja’rui hatte Zilbras gefunden und Verdandi war wieder in Hiel. Was hatte er also noch hier zu suchen?
Yaro drehte sich um und verschmolz mit den Schatten der Bäume. Es war zu spät zur Umkehr.
5. Szene: Blutsbande
Wenn du mich hintergehst, wird es dir genauso ergehen. Das glaubte Laynar unbesehen.
Es war seltsam, er hätte nie gedacht, dass er tatsächlich einmal Angst vor seinem Vater haben würde. Er hatte ihn oft als Unmensch beschimpft, hatte ihn abwechselnd verachtet, verabscheut und gehasst.
Aber Angst? Nein, das war neu. Er hatte ihn allerdings auch noch nie so aufgebracht erlebt. Ein stiller, schwelender Zorn, das war normal, nicht aber diese rasende Wut.
Und dann war da noch etwas gewesen, etwas sehr fremdes, das er nicht einordnen konnte.
Nachdenklich starrte er aus dem Fenster seines Zimmers. Im Osten war der Himmel schon nicht mehr tiefschwarz, sondern nahm langsam eine grünliche Farbe an, aber bis zum Sonnenaufgang würden noch einige Stunden vergehen.
Die Erkenntnis traf ihn völlig unvorbereitet. Nein, das konnte nicht sein, nicht bei Angoaz... oder doch?
Konnte es sein, dass sein Vater Angst hatte, Angst, auch von diesem Sohn verraten zu werden?
Laynar schüttelte ungläubig den Kopf. Und doch, irgendwie wäre es logisch. Es würde diese Wut erklären, dieses unbeherrschte Toben...
„Angst...“, gedankenverloren sah er vor sich hin.
Das konnte gefährlich für ihn werden. Mit diesem zornigen, unkontrollierten Angoaz war nicht zu spaßen, das hatte die Szene im Kerker vorhin mehr als deutlich gezeigt.
Aber was sollte er tun? Einfach weggehen, fliehen, wie sein Bruder?
Der Gedanken an ihn machte Laynar wütend. Dieser Verräter! Ließ ihn hier einfach mit Vater allein. Wenn er darüber nachdachte kam er sogar zu dem Schluss, dass letztlich kein anderer als er schuld an der Paranoia und den daraus resultierenden Wutanfällen ihres Vaters war. Einfach zu verschwinden!
Eine einzelne Träne der Enttäuschung tropfte auf seine Hand, die reglos auf dem Fensterbrett lag. Wütend und trotzig starrte er sie an. „Bruder!“, zischte er verächtlich, „Dass ich nicht lache!“
Nein, er würde nicht einfach davonlaufen. Ärgerlich wischte er die Träne weg und fuhr sich mit der Hand durchs rabenschwarze Haar. Mit Angoaz würde er schon fertig werden und irgendwie... er wusste nicht so recht, wie er sich dieses Gefühl erklären sollte – irgendwie war er es seinem Vater schuldig.
Obwohl das Verhältnis zwischen ihnen immer von Abneigung und Misstrauen geprägt war, obwohl ihre Verschiedenheit immer wie eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen gestanden hatte – oder vielleicht gerade deswegen -, hatte Laynar schon seit er denken konnte versucht, die Anerkennung seines Vaters zu erringen. Er durchschaute sich in diesem Punkt selbst und verachtete sich manchmal regelrecht dafür, aber er kam einfach nicht dagegen an. Und irgendeine naive Stimme in seinem Inneren versuchte auch jetzt noch verzweifelt, Angoaz’ krankhaftes Verlangen nach Loyalität als ein Zeichen väterlicher Liebe zu deuten.
Traurig lächelnd schüttelte der Junge den Kopf. Nein, sein Vater liebte nichts und niemanden. Er wollte nur beherrschen und was sich seiner Kontrolle entzog, das erregte seinen Zorn. Vielleicht war es einmal anders gewesen, aber wenn, dann waren diese Zeiten schon lange vorbei.
Aber es gab noch einen anderen, gewichtigeren Grund, hier zu bleiben: Laynar war einer der wenigen, die Angoaz’ Jähzorn, der nach dem Verrat seines ältesten Sohnes immer häufiger zu tage trat, besänftigen konnten.
Er machte sich ernsthaft Sorgen um seinen Vater. Er fürchtete, wenn auch er ihn im Stich ließe, könnte er endgültig den Verstand verlieren. Und bei der Macht, die er seit einiger Zeit innehatte, konnte das mehr als nur unangenehm werden.
Also würde er bleiben, die Verantwortung für seinen Vater übernehmen, versuchen, zu retten was – oder wer - zu retten war.
Ein resigniertes Seufzen entrang sich seiner Kehle, als er zum Bett hinüberging, um wenigstens noch ein paar Stunden zu schlafen. Bedrückt dachte er daran, wie sehr sein Vater es hasste, bevormundet oder beeinflusst zu werden. Er würde sehr vorsichtig vorgehen müssen... kein sehr ermutigender Gedanke.
6. Szene: Flucht durchs Dunkel
Die Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit, die zäh zwischen den Bäumen zu hängen schien. Der Schein von Hiels Fackeln, der sich mit trübem Sternenlicht vereinte und das fröhliche Lärmen aus dem Shun-Layna wurden vom Wald verschluckt, waren schon nach wenigen Schritten kaum mehr als eine angenehme Erinnerung, die schnell verblasste.
Yaro zwang sich, nicht noch einmal zurück zu schauen. Er hatte die richtige Entscheidung getroffen. Er passte hier so wenig her, wie der Gardemantel zum Himao. Man würde ihn nicht vermissen.
Er beschleunigte seine Schritte ein wenig, schritt energischer aus. Warum fiel ihm das hier nur so schwer?
Eine schmale Gestalt löste sich aus den Schatten und stellte sich Yaro in den Weg. In Gedanken verloren wäre dieser fast mit ihr zusammen geprallt. Verdutzt blieb er stehen und versuchte, in der Dunkelheit die Gesichtszüge auszumachen. Es dauerte eine Weile, bis er Verdandi erkannte, die ihn nachdenklich musterte.
„Was machst du hier?“ Seine Stimme klang wütend, abweisend.
„Dasselbe könnte ich dich fragen.“, kam es gezwungen ruhig aus der Dunkelheit. „Aber ich kann es mir denken. Du willst gehen, einfach so, ohne dich zu verabschieden.“ Verdandi sprach sehr leise, dann war die Stille vollkommen, nur noch ein leises Rauschen, wenn der Wind durch die Baumwipfel strich.
Yaro wusste nicht, wie er reagieren sollte. Natürlich, er könnte einfach weitergehen, den trotzigen, albernen Vorwurf ignorieren. Warum sollte er sich rechtfertigen? Er war dieser Frau, die er kaum eine Woche kannte, doch keine Erklärung schuldig, er konnte gehen wann immer er wollte.
Aber die Stimme hatte traurig geklungen und irgendwie enttäuscht. Es versetzte ihm einen Stich, diese ruhige, sanfte Stimme so zu hören.
Unschlüssig stand er da und dachte nach, bemerkte, wie seine Entscheidung mehr und mehr ins Wanken geriet.
„Weißt du, wir dachten, dass du mitkommen würdest, wenn wir morgen aufbrechen.“, begann sie leise. „Ich... würde mich freuen, wenn du uns begleitest. Aber wenn du lieber gehen möchtest...“ Ihre Stimme war immer dünner geworden, sie stockte, atmete tief ein, bevor sie mit fester Stimme weitersprach. „... wenn du lieber gehen möchtest, dann leb wohl.“
Ja, wollte er gehen? Vor wenigen Augenblicken hatte er es noch gewusst, aber jetzt... war er sich nicht mehr so sicher.
Sie hatte sich schon abgewandt, um zu gehen, drehte sich dann aber wieder um, als wäre ihr noch etwas eingefallen. „Es heißt, Heimat sei kein Ort, sondern Menschen, denen man willkommen ist. Du solltest nicht weiter allein umherziehen.“
Yaro starrte sie völlig entgeistert an. „Was soll das? Wie kommst du darauf, dass ich eine Heimat suche? Was weißt du schon über mich?“ Er merkte, wie wütend er geworden war und schwieg, atmete tief durch.
Verdandi wirkte nicht erschrocken, sie sah ihn nur forschend und... ja, traurig an. „Ach Yaro.“, begann sie leise. „Ich mache mir Sorgen um dich. Als ich dir damals nach der Schlacht geholfen habe, war es ein Wunder, dass du überlebt hast. Die Wunde war nicht das Problem, aber ich hatte das Gefühl, dass du... nicht weiterleben wolltest. Du warst so traurig, ich konnte den Schmerz in deinen Träumen fast mit Händen greifen...
Und dann, ein paar Wochen später, treffen wir uns wieder... dir ging es viel besser... Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wie Ja’rui es geschafft hat, dich mitzuschleifen.“ Sie lächelte spöttisch, wurde dann aber wieder ernst. „ Aber es war zweifellos gut für dich, mal wieder Gesellschaft zu haben. Und wenn du wieder allein bist, dann...“
Sie brach ab, als Yaro sich abwandte und in der Finsternis verschwand. Verdutzt blieb Verdandi zurück, starrte der dunklen Gestalt nach, die sie so plötzlich verlassen hatte. Zorn und Enttäuschung ließen Tränen in ihre Augen steigen. Was sollte sie jetzt tun? Ihn einfach gehen lassen? Natürlich, das hatte sie gesagt, aber da hatte sie auch gedacht, dass Yaro bleiben würde, wenn sie ihn darum bat. Hatten ihre Worte so wenig bewirkt?
Als selbst sie die schemenhaften Umrisse vor der Schwärze kaum noch ausmachen konnte, drehte auch Verdandi sich wütend und resigniert um und ging zurück in Richtung Dorf. Dieser sture Dummkopf! Warum musste er es sich so schwer machen?
Yaro ging entschlossen weiter, seine Gedanken überschlugen sich, seine Schritte wurden immer schneller. ‚Eine Flucht’, schoss es ihm durch den Kopf. ‚Schon wieder fliehe ich.’
Schneller und schneller trugen ihn seine Schritte weiter, durch die dumpfe Finsternis unter den Bäumen. Die Stämme konnte er immer erst zwei Schritte vorher in den Schatten erahnen, tiefhängende Äste schlugen ihm ins Gesicht. Das unter seinem Gewicht knackende Unterholz nahm er gar nicht wahr, nur seinen eigenen dröhnenden, immer schneller gehenden Herzschlag und das Rauschen in seinen Ohren.
‚Menschen, denen man willkommen ist’... Verdandis Gesicht stand ihm deutlich vor Augen, ihr trauriger Blick, die Sorge in ihren Zügen... Sie machte sich Sorgen um ihn.
Immer schneller und schneller wurden seine Schritte, aus dem gehetzten, hastigen Gehen wurde ein Laufen. Fast blind durch die Dunkelheit rannte er durch den Wald.
Nein! Nie wieder Menschen, die sich um einen sorgten, denen man willkommen war... Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis man von ihnen enttäuscht und verletzt wurde oder, noch schlimmer, sie selbst verletzte, sie verriet. Und selbst wenn das nicht geschah, wenn eine seltene Fügung die Illusion von Glück schuf, war da immer noch der Tod. Er kam unaufhaltsam in diesen unruhigen Zeiten, listig, mitleidlos, in unzähligen Gestalten... er kam, nahm nur ein Leben und zerstörte doch zwei...
Yaro zwang sich seine Gedanken zu unterbrechen. Wenn er hier noch lange wie wahnsinnig weiterrannte, würde er sich in diesem riesigen Wald verlaufen.
Keuchend ließ er sich gegen einen der gigantischen, kalten Baumstämme sinken, schloss die Augen und versuchte seinen verzweifelt nach Luft verlangenden Lungen eine langsamere Atmung aufzuzwingen.
Er war einer Ohnmacht nahe, konnte kaum noch klar denken. Er schlief zu wenig, das wusste er. Kaum mehr als zwei Stunden pro Nacht, eine todesähnliche Betäubung, die jedes Mal von einem Alptraum beendet wurde.
Die Erschöpfung zog ihn immer stärker in den schwarzen Strudel und er wehrte sich nicht, sehnte sich die erlösende Bewusstlosigkeit herbei, ließ sich einfach fallen.
Als hätten all die Gedanken nur auf seine Schwäche gewartet, brachen sie noch einmal über ihn herein. Glasklar hörte er wieder Verdandis traurige, besorgte Stimme, verspürte den Stich in seiner Brust, den er schon vorhin bemerkt hatte... – Nie wieder geliebte Menschen!
Es half nichts, bevor er entgültig in der traumlosen erlösenden Schwärze versank, setzte sich ein Gedanke, stärker als alle anderen in seinem fiebernden Bewusstsein fest:
Es war zu spät!
7. Szene: Aufbruch
Es war noch früh am Morgen, als Verdandi aus ihrer Hütte trat und sich auf den Weg zum Stall machte, um Tchan für den Aufbruch vorzubereiten. Die wenigen Sachen, die sie brauchte, hatte sie noch gestern Nacht zusammengepackt. Das etwas unhandliche Paket auf der Schulter balancierend, betrat sie den eher kleinen Bretterverschlag, der als Stall diente.
Tchan schnaubte fröhlich, als er sie hereinkommen sah und auch Verdandi musste lächeln. Es wirkte schon komisch, wie das riesige Schlachtross friedlich zwischen den Ziegen, Schafen und Eseln des Dorfes stand.
Sie ließ sich Zeit mit dem Satteln des Pferdes und streichelte Tchan ausgiebig, was sich dieser gern gefallen ließ. Dann band sie ihr Gepäck am Sattel fest und verließ den Stall mit Tchan im Schlepptau.
Sie sah sich um. Von Ja’rui war keine Spur zu sehen. Nach ihrem Gespräch mit Yaro gestern abend war sie in ihrer Hütte verschwunden und hatte ihn einfach in der Halle sitzen lassen. Aber er wusste doch, dass sie heute aufbrechen wollten, immerhin hatte sie es ihm gestern gesagt.
Ärgerlich zuckte sie die Schultern und machte sie sich auf den Weg zum Shun-Layna, wo auch die Vorratskammer lag. Erst mal würde sie sich um den Proviant kümmern, und sich dann, falls er bis dahin immer noch nicht aufgetaucht war, auf die Suche nach Ja’rui machen. Tchan trottete gelassen hinter ihr her und schien die ersten Sonnenstrahlen des Tages zu genießen.
Als Verdandi die Halle betrat, kam Mej ihr gleich mit einem ausgelassenen „Guten Morgen, Vandi!“ entgegengesprungen. Das verkaterte Stöhnen und die verhaltenen Flüche der auf dem Boden Schlafenden, die von ihr überrannt wurden, schien sie gar nicht wahrzunehmen. In der Halle herrschte ein einziges Chaos. Großteile des gestrigen Festmahles lagen noch bunt über den Tisch verteilt und außer den Flüchtlingen, die sowieso hier schliefen, hatten offensichtlich auch die, die es gestern Abend nicht mehr bis zu ihren Betten geschafft hatten, hier die Nacht verbracht.
Trotz ihrer schlechten Laune musste Verdandi über das kleine Mädchen lächeln. „Morgen, Mej. Warum bist du denn so früh schon wach?“
„Na ich hab gestern gehört, dass du wieder weggehst.“ Das Kind sah sie ein wenig vorwurfsvoll an. „Und da wollte ich eben früh aufstehen, damit ich dich noch mal sehe.“
„Na gut.“ Verdandi wuschelte ihr über den Kopf und ging mit ihr zum hinteren Teil der Halle. „Dann kannst du mir ja helfen, Proviant einzupacken.“
Nachdem das erledigt war, hängte sie sich den Beutel über die Schulter und sah sich nachdenklich in der Halle um. Dann wandte sie sich an Mej, die gerade damit beschäftigt war, einem der Schlafenden Brotkrümel in die Nase zu stopfen.
Verdandi verdrehte die Augen. „Hör auf mit dem Unsinn, Mej! Sag mal, hast du hier irgendwo Ja’rui gesehen?“
Die Kleine sah von ihrer Beschäftigung auf und lief kichernd zu Verdandi zurück. „Nee, hab ich nicht. Der ist nicht hier, hab ihn schon gesucht, weil mir langweilig war, als ich auf dich gewartet habe.“
Verdandi seufzte auf. Wo konnte der Kerl sein? Eigentlich hatte sie fest damit gerechnet, dass er hier irgendwo rumlag, da er ja keine Hütte hier im Dorf hatte. Aufgewacht war er gestern Nachmittag in ihrer und da hätte sie ihn wohl bemerkt.
Unentschlossen, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte, trat sie erst mal aus der Halle.
Ja’rui stand davor, neben dem grasenden Tchan und grinste ihr entgegen. „Einen schönen guten Morgen! Können wir los?“ Er nahm Verdandi die Tasche ab und wühlte sich ein Stück Brot heraus, bevor er sie neben dem anderen Gepäck ebenfalls an Tchans Sattel befestigte. Dann gingen die Beiden langsam in Richtung Wald.
„Hast du nicht in der Halle geschlafen?“ So viel gute Laune konnte Verdandi heute nur schwer verkraften.
„Nein.“, grinste Ja’rui zurück und kaute weiter an seinem Brotkanten.
„Und wo... Ach weißt du, ich glaub, ich will es gar nicht wissen.“
„Nein, willst du nicht.“, bestätigte er zufrieden, bevor er sich etwas verwirrt umschaute. „Aber sag mal, wo ist denn Yaro hin?“
„Gegangen.“, schnaubte Verdandi kurz angebunden und sah ihn wütend an.
„So richtig?“
„Scheint so.“
„Und das macht dir nichts aus?“, bohrte er weiter.
Sie warf ihm einen wahrhaft furchterregenden Blick zu. „Nein!“
Ja’rui zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Nach einer Weile zuckte er mit den Schultern. „Na, er muss selbst wissen, was er tut...“
Verdandi sah nur zur Seite und entschloss sich, das Thema zu wechseln. „Was will Assin eigentlich von mir?“
„Keinen Schimmer, das war ja gerade das interessante an dem Auftrag.“
„... Ich nehme an, er ist ein großes Tier bei den Rebellen?“
„Ja, kann man so sagen.“ Ja’rui grinste. „Er führt die Bewegung an.“
„Sieht ihm ähnlich.“, brummte Verdandi nur unbeeindruckt. „Weißt du denn wenigstens, wo er ist?“
„Nicht so genau, aber wir werden’s einfach erst mal im Hauptlager versuchen.“, meinte er zuversichtlich.
Sie hatten jetzt den Waldrand erreicht und traten auf den Weg zu, auf dem sie auch hergekommen waren. Verdandi drehte sich zu Mej um, die ihnen, vollkommen untypisch für sie, ruhig und still gefolgt war, wahrscheinlich in der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden.
„Na dann, auf Wiedersehen, meine kleine Mej.“
„Och, Vandiii. Ich will mitkommen!“ Sie sah sie mit großen, feuchten Kinderaugen an. „Bitte, bitte, bitte. Ich werde auch gaaanz lieb sein, wenn ihr mich mitnehmt, wirklich.“
„Nein, Mej, du kannst nicht mitkommen.“ Sie hockte sich hin, um besser mit ihr reden zu können. „Es wird wahrscheinlich gefährlich und außerdem macht sich Martes doch sorgen, wenn du weggehst.“
Das Mädchen sah einen Moment lang nachdenklich aus. „Und wenn wir ihn auch mitnehmen, dann muss er sich auch keine Sorgen um mich machen.“ Mit dieser Lösung schien sie sehr zufrieden.
„Aber dein Bruder will doch gar nicht mitkommen.“
Mej gab es auf. Sie seufzte theatralisch auf und umarmte Verdandi. „Du willst mich ja nur nicht dabei haben.“
„Stimmt.“, grinste Verdandi.
„Du bist gemein!“ Mej lächelte zurück, wurde dann aber ernst. “ ... kommst du auch zurück?“
„Klar, wie immer. Versprochen.“
„Und du schickst mir Urd ab und zu?“
„Bestimmt.“
Damit konnte sich Mej offensichtlich abfinden. Mit einem „Wiedersehen, Vandi. Tschüss, Ja’rui.“ Rannte sie wieder Richtung Halle.
„Jetzt terrorisiert sie bestimmt wieder Erwachsene mit Kopfschmerzen.“, brummte Ja’rui und ging, Tchan am Zügel hinter sich herführend, in den Wald. Verdandi folgte ihm.
8. Szene: Reick
Der Wirt des Gasthauses „Zur Brücke am Treim“ sah kurz auf, als ein neuer Gast hereinkam, wandte sich dann aber wieder dem Glas zu, das vor ihm auf dem Tisch stand. Schon ein flüchtiger Blick genügte, ihn als Mitglied des Predigerordens zu erkennen. Der schneeweiße Umhang, den der Fremde trug, schien selbst im trüben Licht der heruntergekommenen Spelunke zu leuchten. Nur das Gesicht wurde von der weiten Kapuze in tiefe Schatten getaucht, die die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die schmutzigen Fenster ins Innere der Kneipe drangen, nicht zu erhellen vermochten.
In der Tür verharrte die hagere Gestalt. Mit fließenden Bewegungen wurde die Kapuze nach hinten geschoben. Ein asketisches Gesicht von unbestimmbarem Alter kam zum Vorschein. Die hellen Haare waren sehr kurz geschnitten, nur im Nacken waren lange Strähnen zu Zöpfen geflochten, die im Kragen des Umhangs verschwanden. Stechende Augen musterten abschätzig den schäbigen Raum. Er war so früh am Vormittag noch leer, bis auf den Wirt, der abwartend an einem der hinteren Tische saß.
Langsam durchquerte der Fremde den Raum, jeder Schritt begleitet vom leisen metallischen Scharren des Kettenhemdes, das der Umhang verbarg. Vor dem Tisch blieb er wieder stehen und sah abwartend auf den Wirt hinunter.
Dieser hob nun träge den Blick – und erstarrte. Die Augen des Priesters waren rot, rot wie dünnes Blut und sie funkelten ihn ungehalten an. „W-was kann ich für Euch... “, stotterte der Wirt mühsam, während er wie hypnotisiert weiter in diese kalten, unmenschlichen Augen starrte.
Eine wütende Ungeduld in der Stimme unterbrach ihn der Gast. „Dachte ich’s mir doch,“ zischte er, „dass du versoffene Kreatur der Wirt dieses... Gasthauses bist.“ Der Hohn und die Verachtung in seiner Stimme konnten selbst dem Wirt nicht entgehen, dieser hielt es aber offensichtlich für ratsamer, zu schweigen und schluckte die Beleidigungen wortlos.
Ein kaltes Lächeln auf den schmalen Lippen, fuhr der Priester fort. „Ich bin nicht gewillt, mich länger als unbedingt nötig hier aufzuhalten, also komme ich gleich zur Sache.“ Plötzlich hatte er ein Stück Papier in der Hand, das er dem Wirt gereizt unter die Nase hielt. Es zeigte das Bild einer jungen Frau, die Zeichnung war an vielen Stellen verwischt, die Linien kaum noch zu erkennen. „Der Orden der weißen Sonne verahndet nach dieser Shalùn-Hexe. Sie soll in dieser Gegend oft gesehen worden sein. Hast du sie schon mal gesehen?“
Der Wirt brachte kein Wort heraus, er schüttelte nur panisch den Kopf. Diese Augen! Diese grausamen, blutigen Augen. Sie schienen sich in seinen Kopf zu bohren, jeden einzelnen seiner Gedanken aufzuspießen, aber er konnte seinen Blick nicht von ihnen lösen. Wenige Augenblicke später drehte sich der Priester abrupt um. Die Dielen knarrten laut unter seinen Schritten. Am Rand, wo der Saum dem Boden zu nah kam, hatte sein Umhang eine schmutzig braune Farbe angenommen.
„Hast du sonst etwas ungewöhnliches gesehen?“, fragte er noch desinteressiert, kurz bevor er die Tür erreichte.
Der Wirt schluckte. „Ja“ Seine Stimme klang unsicher und heiser, er räusperte sich. „Vor ungefähr einer Woche war jemand hier. Ein Mann in Shalùn-Kleidung und Gardemantel.“ Er stockte. Der Fremde hatte sich ruckartig umgedreht und starrte ihn an. Es war unmöglich zu sagen, was er dachte.
Er machte eine ungeduldige Bewegung auf den Anderen zu. „Was ist? Erzähl weiter!“
Wieder räusperte sich der Wirt und wünschte sich, er hätte nichts gesagt. Der Priester war ihm unheimlich, er sollte gehen. „Es gibt nicht viel zu erzählen. Er war kurz hier, eine abgerissene Gestalt. Dann wurde er fast in eine Schlägerei verwickelt und ist mit irgend so einem Halsabschneider nach draußen verschwunden. Ich war froh, dass er weg war.“
Der Wirt schwieg, wartete, das der andere gehen würde, doch der war offensichtlich noch nicht zufrieden. „Was für ein Halsabschneider?“ Der Blick des Priesters heftete sich wieder auf den Wirt. Hier auf einen so wichtigen Hinweis zu stoßen, damit hatte er nicht gerechnet.
Der Wirt beruhigte sich langsam, oder besser: der Gedanke, der ihm eben gekommen war beruhigte ihn. Gier glomm in seinen Augen auf. „Wie viel ist Euch diese Information wert, gnädiger Herr?“
Der Priester verdrehte nur die Augen und warf gereizt einige Münzen in Richtung des Wirtes. „Wirst du jetzt reden, du verfluchter Hund?“
„Ja Herr, ihr seid sehr nobel.“ Hastig hatte der Wirt das Geld eingesammelt und nickte jetzt diensteifrig. „Er kam etwas später hier an als der im Gardemantel. Die beiden schienen sich gut zu kennen. Der kleinere hat noch irgendwas von ‚Garde’ und ‚Mission’ geredet und dann waren sie weg. Sind angeblich in Richtung Treim verschwunden.“
Der Prediger schien kurz nachzudenken und sah den Wirt dann durchdringend an. „Ich werde in ungefähr einer Stunde wiederkommen und wünsche, dass bis dahin ein Zimmer für mich bereitsteht. Und zwar ein sauberes Zimmer, falls es so etwas in diesem billigen Loch gibt.“ Damit drehte er sich um und war aus dem düsteren Raum verschwunden.
Der Wirt sah auf die Goldstücke in seiner Hand und seufzte. Er würde arbeiten müssen, und das schon so früh am Tag.
9. Szene: Die Vision
Ja, Der Herr wird denen helfen, die mit ihm sind...
Jetzt konnte Reick es deutlich sehen. Der Herr sah ihn, Er würde ihn leiten, ihn führen gegen die Feinde, auf dass diese in Blut und Schmerzen untergehen.
Schnell galoppierte sein Schimmel über den Weg. Mehr und mehr verwirrten sich seine Gedanken. Er schaffte es gerade noch sein Pferd ein wenig zu zügeln.
Die Worte Des Herrn, der zu ihm sprach nahmen seinen Geist gefangen und schienen ihn gleichzeitig in alle Richtungen zu zerstreuen. Ein berauschendes Gefühl der Allmacht vermischte sich mit dem Wissen, nur Asche zu sein. Nichts war mehr klar, alles verschwamm, löste sich auf und wirbelte um ihn herum. Denn er war Mittelpunkt von allem und kleinstes Rädchen, war Werkzeug Gottes.
Wieder sah er das Mädchen auf dem Markt von Andal. Nur einmal war er ihr begegnet. Vor zwei Jahren hatte Der Herr in seiner Weisheit ihm seinen Weg offenbart. Sie war es, die sterben musste. Sie und ihr ketzerisches Volk, das versucht hatte, Gott zu töten, indem es Dämonen erschuf. Und er, Reick Sudatt, war es, der sie töten sollte und den Weg ebnen, für die Vernichtung ihres Volkes.
Und sie würden ihr Ziel erreichen. Manchmal konnte er es deutlich vor sich sehen, wie er und seine Anhänger über die Feinde triumphieren und die Welt reinigen würden. Der Sieg war nah. Der Orden der weißen Sonne gewann täglich neue Anhänger, Menschen die durch den Krieg alles verloren hatten und nun Glaube suchten. Sie würden ihm folgen auf dem Weg Gottes.
Ebenso plötzlich, wie sie begonnen hatte, endete die Vision. Der Verstand des Priesters arbeitete wieder klar. Klar, kalt und logisch.
Gut, die Shalùn-Hexe hatte er nicht gefunden, das würde später geschehen, Der Herr würde ihn leiten.
Aber er hatte Hinweise auf den jungen Angoaz erhalten, das war fast genau soviel wert. Damit könnte er den Alten ablenken. Der wurde langsam misstrauisch und es konnte gefährlich für den Orden werden, wenn dieser Halunke zu der Ansicht kam, dass ihr Bündnis nicht mehr von Nutzen für ihn war.
Reick zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Seine helle, fast weiße Haut vertrug die Sonne nicht und das grelle Licht stach in seinen Augen. Wie er den Winter vermisste.
Kurz dachte er über seine nächsten Schritte nach. Der nächste Predigerstützpunkt war nicht weit entfernt. Von dort würde er einen Boten nach Andal schicken.
Dann sollte er versuchen, die Fährte aufzunehmen. Die Informationen, die der Wirt ihm gegeben hatte waren sehr begrenzt, aber er wusste nicht mehr, da war sich der Prediger sicher. Er müsste also in der Umgebung nach weiteren Spuren suchen.
Moment. Hatte der Wirt nicht gesagt, die beiden wären Richtung Treim gegangen? Dann müssten die Wachposten an der Treimbrücke eigentlich etwas wissen.
Ungeduldig trieb er sein Pferd zur Eile. Er wollte so schnell wie möglich mit seinen Nachforschungen beginnen.
Viertes Kapitel
Szene 1: Alte Sagen
Schweigend folgten Verdandi und Ja’rui dem Weg, der sich langsam im Unterholz verlor. Seit sie Hiel verlassen hatten, war zwischen ihnen kein Wort gefallen.
Gelangweilt beobachtete Ja’rui seine Begleiterin, die mit gesenktem Blick neben ihm herlief und offensichtlich ganz in ihre düsteren Gedanken versunken war. Er konnte so etwas nicht leiden.
Langsam nervte ihn die trübe Stimmung und er brach das Schweigen. „Hör’ mal, Zil…“, keine Reaktion, wahrscheinlich hatte sie ihn gar nicht gehört. Er räusperte sich und stieß sie leicht von der Seite an.
Ein wenig erschrocken blickte sie auf und sah ihn fragend an.
„Ähm… weißt du, wenn du nicht zu Assin willst, dann musst du meinetwegen nicht. Ich werd’ ihm einfach sagen, dass ich dich nicht finden konnte.“
Sie lächelte ihn dankbar an, schüttelte aber den Kopf. „Ich kann nicht einfach hier bleiben, auch wenn ich gern würde.“ Ihr Lächeln wurde noch eine Spur wehmütiger und sie ließ ihren Blick sehnsüchtig über die großen, schönen Bäume und den Weg zurück nach Hiel schweifen. „Sosehr ich es auch versuche, ich kann mich meiner Verantwortung nicht entziehen. Früher oder später werde ich sowieso nach Andal zurückkehren.“ Seufzend sah sie wieder zu Boden.
Ja’rui war verwirrt. Er hatte von Anfang an nicht verstanden, warum der Rebellenführer ihn auf die Suche nach einem Mädchen schickte aber langsam begriff er gar nichts mehr. „Verantwortung? Wofür? Wer bist du?“
Verdandi lachte leise. „Ich muss schon sagen, du stellst die richtigen Fragen… Du bist nicht sehr bewandert in den alten Sagen, oder?“ Sie sah ihn von der Seite her an. Er schüttelte nur den Kopf.
„Das dachte ich mir. Aber denk nach, ich bin mir sicher, du hast sie schon gehört. Kommt dir nichts bekannt vor? Ich wette, dir ist nichts Wichtiges entgangen… Meine Träume…“
Ja’rui nickte leicht.
„… mein Name in Hiel, … Skuld und Urd.“ Sie nickte zu den beiden Raben hinüber, die auf dem Gepäck thronten und sich von Tchan tragen ließen.
Einen Augenblick dachte er angestrengt nach. Sie hatte recht. Alles kam ihm bekannt vor. Es war ihm schon oft aufgefallen, aber nie recht bewusst geworden. All das war wie eine alte Erinnerung… eine Geschichte aus der Kindheit... von Frauen, denen die Geister dienten, denen sie die Geheimnisse von Zukunft und Vergangenheit offenbarten... das Märchen von den Verdandi.
Entgeistert sah er die junge Frau an, die jetzt neben ihm stehen geblieben war. „Aber… aber das ist doch nur ein Märchen. Nicht mehr als eine schöne Geschichte, die man vorm Schlafengehen kleinen Kindern erzählt…“
„Ja, ein Märchen.“ Verdandi zuckte mit den Schultern. „Es ist nicht mehr, aber irgendwie… ist es… ähnlich.“ Sie sah ihn unsicher an und ging dann langsam weiter.
Ja’rui folgte ihr verdattert. „Wieso ‚ähnlich’? Bist du nun eine...“, er suchte nach dem Wort aus der Geschichte, „... Zeitwächterin, oder nicht.“
„Ja, vielleicht.“ Sie lächelte nachdenklich. „Die meisten, die mich kennen, glauben es und es deutet ja auch viel darauf hin, nicht wahr?“
„Glaubst du es denn?“
Wieder lachte sie. „Und noch einmal stellst du auf Anhieb die wichtigste Frage. Die wichtigste... und eine der schwierigsten...“, murmelte sie und wurde schlagartig wieder sehr ernst. Ein seltsamer Ausdruck zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Es ist nicht wichtig, ob ich daran glaube. Es ist ja keine Prophezeiung oder so. Was bleibt, ist die Tatsache, dass ich durch meine Fähigkeiten viel Leid verhindern kann. Und deshalb habe ich eine Verantwortung.“
Für eine Weile trat wieder Schweigen ein. Beide hingen ihren Gedanken nach, bis sie an eine kleine Lichtung kamen. Weil es schon beinahe Mittag war, setzten sie sich auf einen großen sonnenbeschienenen Stein und fingen an zu essen.
Plötzlich grinste Ja’rui. „Dann hatte Ro also die ganze Zeit Recht. Du hast uns nicht zufällig getroffen.“
Sie sah ihn sehr nachdenklich an. „Ja, Skuld hat mich zu euch geführt. Eigentlich zu Yaro. Und er... irgendwie hat er es gewusst.“
„Wenn er wichtig ist, sollten wir ihn vielleicht suchen.“, meinte Ja’rui besorgt.
„Nicht nötig.“ Verdandi blickte ihn nicht an, sondern sah über seine Schulter hinweg.
Ja’rui drehte sich um und sah, dass Yaro hinter ihm aus dem Wald getreten war. Er konnte sich ein spöttisches Lachen nicht verkneifen. Yaro sah furchtbar aus. Das Gesicht war zerkratzt, die Haare zerzaust und der Mantel, soweit man das feststellen konnte, noch zerrissener.
„Mahlzeit, Ro! Genug geschmollt? Was machst du denn auch für Sachen? Du siehst ja aus, als hättest du eine Nacht im Wald verbracht. Hattest du Ärger mit deiner Freundin?“
Zwei mordlüsterne Blicke ließen ihn verstummen, aber das schadenfrohe Grinsen blieb.
Eine Weile herrschte ein unbehagliches Schweigen auf der Lichtung, das nur ab und an von einem Prusten Ja’ruis unterbrochen wurde.
Endlich rang sich Yaro dazu durch, etwas zu sagen. „Ich... wollte mich entschuldigen, denke ich... für Gestern. Du hattest Recht... mit so ziemlich allem, was du gesagt hast und... und wenn du nichts dagegen hast, dann würde ich euch doch gern begleiten.“
Verdandi stand vom Stein auf und ging ein paar Schritte auf ihn zu. „Weißt du, eigentlich bin ich dir böse.“ Sie musste lächeln. Schnell tat sie noch wenige Schritte nach vorn und umarmte den verdutzten Yaro.
„Aber es wäre sehr schön, wenn du uns begleitest, du sturer Dummkopf.“
Szene 2: Ortwin
Übellaunig betrachtete Reick das Lager, das links des Weges unweit der Treim-Brücke lag. Von allen Wachlagern, die er auf seinen Reisen schon gesehen hatte, war dieses mit Abstand das heruntergekommenste. Nicht einmal die helle Frühlingssonne, die auf die Szenerie herunterschien konnte den armseligen Zustand der Zelte kaschieren. Früher einmal weiß, waren die Zeltplanen nun fleckig in den verschiedensten Farben, von leichtem Matschbraun bis hin zu Rußschwarz. Auch der Eindruck, die provisorischen Unterkünfte könnten jeden Augenblick in sich zusammensinken, kam nicht von ungefähr. Leinen, die eigentlich als Halterungen dienen sollten hingen schlaff am Stoff herunter, der augenscheinlich nur lieblos über die windschiefen Gerüste geworfen worden war.
Vor dem größten der Zelte, das sich auch durch eine geringere Anzahl von Löchern auszeichnete, stand ein Tisch, an dem vier Wachen lautstark würfelten. Ein fünfter Mann, der sich durch seine Gardistenuniform als ihr Hauptmann auszeichnete, hatte die Beine auf dem Rand des Tisches übereinander geschlagen, schien in der warmen Sonne zu dösen und ließ sich dabei nicht im geringsten vom Lärm der Würfelnden stören. Eine Pfeife klemmte locker in seinem Mundwinkel und nur die Rauchwölkchen, die er in regelmäßigen Abständen ausstieß, zeigten, dass er wohl doch nicht schlief.
Entspannt lauschte Ortwin auf das Würfeln, das Rauschen des Treim, der durch das Schmelzwasser aus den Bergen stark angeschwollen war und das Singen der Vögel. Zufrieden spürte er die warme Sonne, die mit jedem Tag stärker wurde, auf der Haut. Wie er den Sommer vermisste.
Träge öffnete er die Augen, als er das Schnauben eines Pferdes hörte und beobachtete die weiße Gestalt, die gerade von dem ebenso weißen Pferd stieg. Ein Wanderpriester vom Orden der weißen Sonne. Was wollte der hier? Seufzend richtete er sich aus seiner halb liegenden Position auf, trat dem Besucher entgegen und begrüßte diesen mit seinem üblichen Redefluss.
„Willkommen! Solch hohen Besuch hätte ich in diesem bescheidenen Lager nie erwartet. Ihr habt Glück mit dem schönen Wetter. Wenn es regnet ist der Boden hier immer ganz aufgeweicht und das hätte Eurer Kleidung gewiss nicht gut getan.“
Reick sah ihn nur mit undurchdringlicher Miene an und erwiderte nichts. Er hatte Schwierigkeiten, diesen Menschen einzuschätzen, der sich so wenig beeindruckt zeigte von seinem finsteren Auftritt.
Ohne sich zu unterbrechen hatte Ortwin mit wenigen ungeduldigen Handbewegungen die Spieler vom Tisch verscheucht und deutete jetzt auf einen der wurmstichigen Stühle. „Setzt Euch doch. Was führt Euch hierher und wie kann ich Euch helfen?“
Aber der Prediger blieb stehen, seinen prüfenden Blick immer noch auf dem Gardisten.
Er war ein Idiot... oder doch nicht? Hätte er es dann in die Garde geschafft? Reick musste es herausfinden. Es war gefährlich, sein Gegenüber zu unterschätzen. Aber hier in der Sonne konnte er nicht darüber nachdenken. Er war erschöpft von dem Ritt und der Vision und seine Haut, die er vorhin so unvorsichtig der Sonne ausgesetzt hatte, brannte jetzt unangenehm.
Er warf also dem Gardisten, der sich gerade als Ortwin vorgestellt hatte, einen bedrohlichen Blick aus seinen blutroten Augen zu und unterbrach ihn. „Ich würde es vorziehen, ins Zelt zu gehen.“ Es war ein Befehl, keine Bitte, und so folgte Ortwin ihm murrend in das düstere Zeltinnere.
„Ich bin hier“, hob Reick an, ohne sich mit Förmlichkeiten aufzuhalten „weil ich hörte, dass hier vor ein paar Tagen zwei Personen aufgetaucht sind, die ihrer Beschreibung nach im Verdacht stehen, Rebellen zu sein.“
Gleichmütig, fast gelangweilt, hatte Ortwin gelauscht und sah jetzt mit ahnungslosem Blick auf. „In den letzten paar Tagen sind hier sogar weit mehr als nur zwei Personen aufgetaucht, von denen aber keiner im Verdacht steht, ein Rebell zu sein. Deshalb haben wir auch schon seit zwei Wochen keine Verhaftungen mehr gehabt.“
Reick stutzte. Machte sich dieser Kerl über ihn lustig? Er warf ihm einen weiteren scharfen Blick zu, aber der Gardist blickte nur respektvoll zurück.
Nein, er hatte sich getäuscht, dieser Ortwin war wirklich nur ein harmloser Trottel. „Sind hier vielleicht zwei Personen aufgefallen, von denen einer einen Gardemantel trug?“, fragte er genervt weiter.
Ortwin horchte überrascht auf. Das wusste er also? Dann hatte leugnen auch keinen Sinn. „Ja, die waren tatsächlich hier. Wir haben sie passieren lassen, da ja einer von ihnen Gardist war.“
„Ihr habt sie passieren lassen?“ Reick war kurz davor, die Fassung zu verlieren. „Hattet ihr denn nicht den Befehl bezüglich Yaro Angoaz? Ihr hättet sie festnehmen müssen.“
Ortwin kratzte sich betreten am Kopf und grinste den Priester verlegen an. „Tja, den haben wir leider erst ein paar Stunden später erhalten und da waren die beiden schon über alle Berge.“
Reick konnte ob dieser Inkompetenz nur ungläubig schnauben. Wie konnte man nur derartig unfähig sein?
Er wandte sich zum Gehen. Hier würde er wohl kaum noch nützliche Informationen erhalten. Schnell zog er noch die Zeichnung der Shalún-Hexe heraus und befragte den Gardisten nach ihr. Dieser schüttelte aber nach einem pflichtschuldigen Blick auf das Portrait nur den Kopf.
An einen Pfahl gelehnt, blickte Ortwin dem weißen Priester nach, der gerade frustriert und verärgert davon ritt. Je weiter er sich entfernte, desto stärker wich der gelassene Blick einem höhnischen Grinsen. Ein Blick auf den Stand der Sonne, und der Gardist stieß sich von dem Pfahl ab und machte sich auf den Weg in Richtung Treffpunkt. Er würde wieder einmal zu spät kommen.
Leise und falsch vor sich hinpfeifend folgte er einem schmalen Pfad, der kurz hinter dem Lager begann und flussaufwärts am Treim entlang führte, bis er auf felsigem Grund verschwand. Nicht weit entfernt von dieser Stelle sah er schon die schmale Gestalt des Brevit auf einem der Felsen sitzen.
„Du bist mal wieder zu spät!“, rief er Ortwin zu, als er diesen bemerkte. Seine Stimme wurde durch das Rauschen des Treim, der hier besonders laut war, übertönt.
Obwohl er sich denken konnte, was ihm der Junge zu sagen hatte, machte Ortwin nur eine ahnungslose Geste in Richtung seines Ohrs, grinste aber dabei verräterisch.
Daraufhin erhob sich der Brevit in einer einzigen fließenden Bewegung, an die sich ohne Verzögerung der Sprung von dem zwei Meter hohen Felsen anschloss. Die sanfte Landung wurde Übergangslos zu einigen mühelosen Schritten, und schon stand er vor dem Gardisten und grinste diesen frech an. „Ich habe gesagt, dass du mal wieder zu spät bist.“
Ortwin sah daraufhin leicht besorgt aus und nickte traurig. „Ich fürchte, ich werde alt...“
Die unnatürlich hellen Augen blitzten ihn übermütig an. „Bist du doch schon, da kann nicht mehr viel verderben.“
„Unhöflich wie immer! Diese Jugend... werd’ du erst mal fünfundzwanzig, da kann man nun mal nicht mehr so schnell, wie man gern würde.“
„Deine Ausreden werden auch von Mal zu Mal schlechter. Was hat dich nun schon wieder aufgehalten? Die Würfelrunde oder bist du wieder eingepennt?“
„Nichts dergleichen, Kuadí.“, erwiderte Ortwin mit beleidigter Miene. „Ich hatte hohen Besuch. Reick Sudatt höchstpersönlich.“
Der junge Brevit stieß einen überraschten Pfiff aus und sah ihn mit einem schiefen Grinsen an. „Wie kommst du denn zu dieser Ehre? Bist du plötzlich religiös geworden?“
„Trotz der Tatsache, dass mir weiß natürlich ganz ausgezeichnet stehen würde, konnte ich mich nicht zu einem Beitritt durchringen. Ob du’s glaubst oder nicht, diese Prediger sind alle nur halb so bekloppt, wie ihr Ordensführer.“
„Das ist ja wahrscheinlich auch der Grund, dass er sie anführt.“
Ortwin nickte lachend, wurde dann aber schlagartig ernst. „Er ist wirklich gefährlich. Der Orden gewinnt von Tag zu Tag mehr Einfluss.“
„Und was wollte er von dir?“, fragte Kuadí jetzt nachdenklich.
„Er sucht nach dem jungen Angoaz und nach Verdandi Zilbras.“
„Woher weiß er von der Verdandi?“
„Ich weiß es nicht. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass er nicht wirklich weiß, wer sie ist.“
„Aber mit Angoaz’ Sohn war er doch bei dir an der richtigen Adresse.“ Zerstreut schob der Junge sich die Mütze, die seine spitzen Ohren verbarg, tiefer ins Gesicht, auf dem jetzt schon wieder ein breites Grinsen stand. „Hast ihn doch praktisch eigenhändig über die Brücke geschoben.“
„Nicht doch, das wäre ja ein Verrat an der Garde gewesen.“, stellte Ortwin richtig. „Er ist selbst gelaufen.“
Kuadí lachte laut auf. „Natürlich, das ist dann kein Verrat...“
„Aber du hast schon Recht, dass er bei mir richtig war. Ich hab ihm dann auch von meinem kleinen Missgeschick erzählt.“ Ein genießerisches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. „Ich dachte schon, er platzt gleich. Der Irre war so wütend, dass er sofort losgeritten ist, was mir natürlich äußerst gelegen kam, da ich ja noch mit einem verzogenen Brevit verabredet war.“
Dieser überging diese Bemerkung, sah Ortwin aber ein wenig besorgt an. „Und du meinst nicht, dass du früher oder später Schwierigkeiten bekommst?“
„Doch natürlich, wohl eher früher... und das, wo ich sie mir bis jetzt immer so erfolgreich vom Hals halten konnte.“
Szene 3: Die Flößerhütte
Heiß! Das sengende Glühen, das ihre Haut verbrannte, ihr Haar versengte, die Luft in ihren Lungen Blasen schlagen ließ, wurde immer stärker, ergriff immer mehr von ihr Besitz. Immer schwächer wurde die kleine, vernünftige Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr zuschrie, dass das alles nicht wirklich geschah, dass sie träumte, eben noch auf nachtschwarzen Schwingen durch die Dunkelheit geflogen war.
Schmerzhaft wünschte sich ihr Geist in die kalte, düstere Einsamkeit zurück, die sie so sehr hasste. Hier würde sie verbrennen. Verbrennen oder ersticken, wenn ihre rauchgeplagten Lungen aufgeben würden, sich weigern, diese heiße, tödliche Luft weiter aufzunehmen.
Wie war sie nur in dieses Inferno geraten? Wo war sie überhaupt? Selbst in Träumen gab es ein Wann und Wo, eine bizarre Logik, Brücke zur Realität, Hoffnung auf Flucht.
Wenn sie doch nur etwas sehen könnte! Aber ihre Lider waren schwer wie Blei, ließen sich von dem kümmerlichen Rest Kraft, den ihr die erdrückende Hitze ließ, nicht öffnen. Blind, gefangen in rotflammender Dunkelheit, war ihr einziger Sinneseindruck der beißende Schmerz, der sich tief in ihre Haut fraß, wenn die gierigen Feuerzungen darüber leckten. Die Hitze schien größer zu werden, fast meinte sie zu spüren, wie sich verbrannte Haut von ihrem Fleisch löste, die Fieberglut sie einschloss, verschlang, bis nichts mehr von ihr übrig blieb.
Dann setzten mit einer niederschmetternden Plötzlichkeit ihre Lungen aus, ließen einfach dem letzten Atemzug keinen weiteren folgen. Es war fast eine Erleichterung, keine Hitze mehr, die in ihren Körper strömte, sie von innen her verbrannte, kein bitterer Qualm, der sich in ihre Schleimhäute ätzte.
Doch dann bäumte sich ihr gepeinigter Körper auf, verlangte nach Luft. Luft, egal, wie giftig, wie tödlich, sie wäre. Panik, die schon die ganze Zeit in ihr gebrodelt hatte, schoss jetzt als alles zerschmetternde schwarze Welle in ihr hoch, ließ nur Trümmer der Vernunft zurück, erstickte selbst die versengenden Schmerzen in den rasenden Wogen und gab ihr die Kraft, endlich die Augen zu öffnen.
Noch mehr als die hell lodernden Flammen blendete sie das stechende Weiß der Gestalt, die vor ihr im glühenden Hauch des Feuers stand. Der weiße Teufel stand mitten im Flammenmeer und beobachtete ihr Leiden aus Augen, die selbst zu brennen schienen, deren rotes Glühen sich tief in ihren Kopf fraß, bevor sie mit einem verzweifelten Keuchen aufwachen konnte.
Einige Sekunden konzentrierte sie sich nur auf ihr Atmen, hätte fast aufgelacht, bei dem Glück, das sie verspürte, nur weil sie endlich wieder atmen konnte. Aber die Panik war immer noch da und lag klebrig auf ihren Gedanken. Wo war sie?
Verstört stellte Verdandi fest, dass sie in einem Bett lag, sich in einem Haus befand.
Ja, sie erinnerte sich wieder. Sie hatte Skuld geschickt und der Flößer hatte schon auf sie gewartet, hatte sie hinüber gebracht und darauf bestanden, dass sie über Nacht dort blieben.
Egal, alles egal. Die Luft war zu stickig, zu warm. Die Panik gewann wieder die Oberhand. Sie musste raus, würde hier drinnen ersticken. Hastig sprang sie aus dem Bett und eilte zur Tür. Zu kräftig stieß sie sie auf und prallte mit der Schulter hart an den Türrahmen, weil sie für einen Moment Schwärze einhüllte, sie wanken ließ. Aber der Schmerz verhinderte eine Ohnmacht und ließ zu, dass sie einige Schritte nach vorn stolperte und sich dann unter dem klaren Sternenhimmel zu Boden sinken ließ.
Die eisige Nachtluft tat ihr gut. Unter ihrem Einfluss erstarrte die brodelnde Panik, das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen erstarb. Behutsam versuchte sie langsamer zu atmen, ihre aufgescheuchten Gedanken zu beruhigen, in geordnete Bahnen zu lenken.
Es war nur ein Alptraum gewesen, nur ein Traum.
Fast hätte sie bitter aufgelacht. Nur Träume. Als kleines Kind hatte man sie mit ähnlichen Worten beruhigen wollen. Damals hatte sie es noch geglaubt, gehofft, dass ihre Träume niemals Gestalt bekamen. Aber inzwischen wusste sie es besser. Sie hatte gesehen, wie ihre Träume zu Realität geworden waren, die konturlosen Schatten zu Monstern wurden, die es gar nicht erwarten konnten, endlich ihre Zähne zu zeigen und sie tief in ihr Fleisch zu graben. Die grausamsten Alpträume wurden ständig zur Realität - und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte, meist schaffte sie es noch nicht einmal, jemanden zu warnen.
Apathisch starrte sie in die kühle Frühlingsnacht, nahm aber nichts wahr, was außerhalb ihrer düsteren Gedanken lag. Ihr schweißnasser Körper zitterte in der kalten Nachtluft, aber sie bemerkte es nicht, ignorierte es genauso, wie die Tränen, die glitzernde Linien auf ihre Wangen malten.
Nur ganz am Rande ihres Bewusstseins registrierte sie gerade noch den Menschen, der sich ihr zögernd näherte.
Einen Augenblick sah Yaro unschlüssig auf die bebende Gestalt vor ihm. Es tat ihm weh, Verdandi so zu sehen. So klein, machtlos und so unendlich verzweifelt.
Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, ging er neben ihr auf die Knie, zog sich seinen Mantel aus, den er ihr behutsam um die Schultern legte. Bedächtig löste er ihre Hände aus dem Boden, in den sie sie Halt suchend gegraben hatte, und nahm sie in seine eigenen, viel größeren. Sie waren kalt, so kalt, dass er kaum noch spüren konnte, wie das Blut durch die Finger strömte. Eine Weile saß er einfach nur neben ihr und massierte die verkrampften Hände, registrierte eher nebenbei, wie die Kälte aus dem Boden in seine Knie kroch, sie langsam taub werden ließ. Aber er bewegte sich nicht, blieb nur still sitzen und betrachtete fasziniert die traurigen grünen Augen, in denen die Tränen schimmerten wie nächtlicher Tau auf einer Wiese. Sie waren so dunkel. Fast schmerzhaft wurde ihm bewusst, dass das spöttische Funkeln fehlte, das so typisch für sie war. Der Blick war stumpf ins Nichts gerichtet, fokussierte sich aber langsam, bis sie den seinen etwas verwirrt erwiderte.
Erkennen schimmerte in ihnen, ließ sie noch dunkler werden. Die Tränen flossen stärker, ein verzweifeltes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, stieg auf zu den hell leuchtenden Sternen, die gleichgültig die Kälte der Nacht beschienen.
Sachte ließ Yaro ihre Hände los, zog die zitternde Gestalt an den Schultern zu sich, umarmte sie, wiegte sie sanft hin und her. Er hätte gern etwas gesagt, irgendetwas, was sie tröstete, aber ihm fiel nichts ein, sein Kopf war wie leer gefegt. Er wusste nicht, warum sie so außer sich war, fühlte sich hilflos, weil er ihr nicht helfen konnte.
Fassungslos bemerkte er, dass aus dem stummen Tränenfluss ein richtiges Weinen geworden war, das den ganzen Körper schüttelte. Er zog sie noch näher zu sich, konnte jetzt die eisige Kälte spüren, die von ihrem ganzen Körper ausging, die heißen Tränen an seiner Schulter. Er wusste nicht, was er noch sagen oder tun konnte, aber vielleicht reichte es ja, wenn er sie nur noch ein wenig fester an sich drückte, ihr mit der Hand weiter über den Rücken strich.
Tatsächlich wurde das Schluchzen nach einer Weile leiser und die Tränen an seiner Schulter kühlten ab, weil keine neuen hinzu kamen, um sie zu wärmen. Einige Atemzüge lang bewegte sich Verdandi nicht, ließ sich einfach treiben und hoffte, dass die Zeit jetzt stehen bleiben könnte. Dann hob sie ihren Kopf langsam an und sah etwas verlegen zu Yaro auf, machte jedoch keine Anstalten, sich aus seiner Umarmung zu lösen.
„Es war nichts... nur ein böser Traum.“, beantwortete sie leise und leicht zittrig die unausgesprochene Frage. „Ich... habe manchmal diese... Alpträume.“ Ein kleiner Teil in ihr fragte sich, warum sie ihm nicht die Wahrheit sagte. Weil er kein Shalún ist, antwortete eine böse Stimme, er würde es nicht verstehen, würde dich auslachen.
Yaro sah sie eindringlich an, als versuche er die Antwort selbst zu finden, sie in ihrer Seele zu lesen, und einen Augenblick glaubte sie wirklich, dass er das könne, sie vollkommen durchschauen, nur indem er ihr in die Augen sah. Und sie konnte den Blick nur erwidern, in diese seltsam ausdruckslosen Augen starren, denen das kalte Sternenlicht jedes Blau genommen hatte. In diesem unwirklichen Licht waren sie grau,
- kalt und grau, wie blanker Stahl -
Verdandis Atem stockte bei diesem Gedanken, sie wusste nicht, warum. Sie würde darüber nachdenken müssen... nachdenken, das konnte sie gerade gar nicht, alles in ihr wehrte sich dagegen.
Yaro seufzte nur leise. Sie traute ihm nicht. Sein Blick wurde weicher und er nickte nachdenklich. „Ja... Alpträume sind schrecklich, sie... können einen sehr mitnehmen.“ Seine Stimme klang fremd, schien in der klaren Nachtluft seltsam zu hallen.
Der Schatten eines Lächelns stahl sich auf Verdandis Gesicht, ließ es nicht mehr ganz so müde und traurig wirken. „Vielleicht sollten wir reingehen. Es ist kalt.“ Zitternd richtete sie sich auf.
Yaro nickte nur und erhob sich ebenfalls, er hatte Schwierigkeiten aufzustehen. Er spürte seine Beine kaum, teils lag es an der Kälte, teils an der ungünstigen Position, in der er so lange gekniet hatte.
Widerwillig folgte er Verdandi in die Hütte des Flößers. Auch für ihn war auf dem Boden ein provisorisches Lager bereitet worden, aber es war noch unberührt und er hatte auch nicht vor, sich darauf niederzulassen. Nichts war schlimmer, als in die Dunkelheit zu starren und nicht schlafen zu können, was man auch gar nicht wollte, weil man wusste, was einen erwartete. Und letztendlich wurden die Gedanken genauso düster, wie die Nacht, die einen umgab, und man fühlte noch stärker als sonst, so stark, dass es jedes andere Gefühl einfach abtötete, dass man allein war. Es war viel besser hier draußen in der Kälte zu stehen und auf den Treim zu blicken, sich von den dunklen Fluten, die rauschend vorbei hasteten, hypnotisieren zu lassen, sodass es keine anderen Gedanken mehr gab und der Geist sich endlich etwas beruhigen konnte. Es war fast wie schlafen... nur ohne Träume.
Wärme schlug ihnen entgegen, als sie die Hütte betraten. Die Dunkelheit war fast komplett, die Glut im Kamin war erloschen, das kleine Fenster mit einem Fell verhangen, das erst in einem oder zwei Monaten abgenommen werden würde, wenn der Sommer stärker wurde. Verdandi ging zu dem Bett des Flößers, der es ihr keinen Widerspruch duldend überlassen hatte, und selbst auf dem Boden schlief.
Yaro wollte wieder hinaus gehen, blieb aber vor der Tür stehen. Verdandi hatte noch seinen Mantel, ohne ihn würde er frieren. Tastend tat er ein paar Schritte durch die Dunkelheit und wollte gerade fragen, ob sie ihn ihm geben konnte, als ihre Stimme sich aus den Schatten erhob. Sie zitterte nicht mehr vor Kälte, sondern klang sehr leise und unsicher. „... könntest du... vielleicht bei mir bleiben? Ich... will nicht allein sein.“ Eine Hand kam aus der Finsternis, immer noch kalt und leicht zitternd, fand sein Handgelenk und zog ihn näher ans Bett. „... bitte.“
Er wollte es nicht. Oder doch... er war so verwirrt, müsste erst darüber nachdenken. Aber die Stimme klang so... ja, einsam und er konnte dieses Bild nicht ignorieren, von Verdandi, wie sie weinend und klein unter den teilnahmslosen Sternen saß.
Er zog sich Stiefel und Gürtel aus und legte sich neben sie, hörte, wie sie erleichtert aufatmete, als hätte sie schreckliche Angst gehabt, er könne doch noch gehen. Ergeben starrte er in die Dunkelheit, wartete auf die düsteren Gedanken, die wieder und wieder die Vergangenheit beschworen, auf die quälende Schuld, die ihn würgen würde... aber nichts geschah. Hier zu liegen und dem ruhigen Atem neben sich zu lauschen, war einfach nur... angenehm. Die Wärme an seiner Seite vertrieb die Dunkelheit, der Herzschlag, den er zu hören glaubte, beruhigte ihn. Er war so müde, so erschöpft. Träge schloss er die Augen. Wach bleiben!, durchzuckte es ihn noch einmal, aber die Worte hatten keine Bedeutung mehr. Er konnte sich einfach nicht mehr an ihren Sinn erinnern und war auch viel zu müde, darüber nachzudenken. Es strengte zu sehr an, sosehr, dass er schließlich darüber einschlief.
Szene 4: Boten
Laute Stimmen und Schritte auf dem Gang rissen Laynar aus dem Schlaf. Träge drehte er sich auf die andere Seite und zog die Decke ein wenig höher, als es auch schon an seiner Tür klopfte.
„Junger Herr, entschuldigt die Störung, aber soeben ist ein Bote eingetroffen, der darauf besteht, sofort vorgelassen zu werden.“
Das war ja klar. Wenn mitten in der Nacht ein Bote auftauchte, wurde natürlich nicht Angoaz geweckt, sondern er. Mit ihm konnte man das ja machen. Die unliebsamen Aufgaben, die nach einer repräsentativen Person verlangten, blieben ja letztendlich immer an ihm hängen.
Seufzend richtete er sich auf und warf einen Blick in Richtung Fenster, während er sich unwirsch die schwarzen Haare aus dem Gesicht strich. Der Mond verschwand gerade am Horizont. Die Nachricht musste wichtig sein.
Schnell kleidete er sich an und verließ sein Zimmer. Ein Gardist aus der Palastwache wartete neben der Tür auf ihn und verbeugte sich leicht, als der Junge heraustrat.
„Er wurde in euer Arbeitszimmer gebracht.“, sagte er knapp.
Laynar nickte nur und wandte sich um, die Wache folgte ihm.
Nachts war der Gang nur notdürftig beleuchtet und die Schritte der beiden schienen viel lauter.
Es überraschte Laynar, dass man ihn wegen eines so wichtigen Boten weckte – denn wichtig musste er sein, wenn die Nachricht nicht bis morgen früh warten konnte. Erst gestern hatte sein Vater ihm – mehr oder weniger klar – sein Misstrauen ausgesprochen.
Andererseits hatte man sich längst an Angoaz’ Launen gewöhnt und maß ihnen wohl keine allzu große Bedeutung bei. ‚Da muss ich in nächster Zeit etwas unternehmen, die Leibgarde darf nicht den Respekt verlieren.’, notierte sich Laynar in Gedanken bevor er sich wieder dem Empfang des Boten zuwandte.
Vor der Tür zu dem kleinen holzgetäfelten Raum blieb er stehen, bis der Gardist neben ihm stand, dann öffnete er und trat ein.
Man hatte ein Feuer im Kamin gemacht und die Lampen angezündet. In einem der Sessel, die vor Laynars Schreibtisch standen, saß ein junger Soldat, der aber bei seinem Eintreten sofort aufsprang und sich verbeugte.
Laynar winkte nur ab, woraufhin der Soldat sich wieder setzte. Dann trat er neben den Kamin und sah den Boten abschätzend an. „Ich höre...“
„Ich komme aus Irund. In der ganzen Provinz sind in der Nacht vor drei Tagen Aufstände ausgebrochen. Alles war gut organisiert, vermutlich durch die Rebellen. Gardequartiere in den Städten wurden gezielt als erstes angegriffen, sie hatten besonders große Verluste. Die Verteidigung blieb im Großen und Ganzen erfolglos. Krinz und drei weitere Städte werden von den Rebellen gehalten. Aus Odon und Dra hatten wir als ich losgeschickt wurde noch keine Nachricht, wahrscheinlich wurden sie auch besetzt.“ Erschöpft ließ sich der Soldat in den Sessel sinken.
Laynar schwieg besorgt. Irund war eine der entferntesten Provinzen, der Bote musste die letzten drei Tage im Sattel verbracht haben, um es so schnell hierher zu schaffen...
„Wenn das alles war, wird dich Xahl“, er deutete ein Nicken in Richtung des Gardisten an, der mit ihm zusammen eingetreten war, „jetzt auf ein Zimmer bringen. Ich erwarte morgen einen ausführlichen Bericht.“
Der Soldat nickte dankbar, stand auf und verbeugte sich noch einmal, ehe er dem Gardisten aus dem Zimmer folgte.
Laynar blieb allein zurück. Nachdenklich starrte er in die Flammen. Ein gut organisierter Aufstand in der Provinz... taktisch war Irund nicht viel wert, aber es war weit von Andal entfernt. Das roch geradezu nach einem Ablenkungsmanöver.
Gut, für sich genommen, konnte es auch etwas anderes sein, aber gestern hatte einer seiner Spione Laynar über Gerüchte informiert, dass Assin hier in Andal gesehen worden war. Glücklicherweise hatte Angoaz davon wohl noch nichts erfahren. Eine Hexenjagd einzig aufgrund von vagen Gerüchten war das letzte, was die von der Seuche ohnehin schon geschwächte Stadt gebrauchen konnte. Da wäre es schon besser, wenn sein Vater zur Rückeroberung Irunds aufbräche.
Laynar schreckte aus seinen Gedanken auf. Hinter der geschlossenen Tür ertönte hastiges Gemurmel. Was war denn da noch los?
„Da ist noch ein Besucher angekommen. Ein Prediger. Er sagt, er hätte eine Nachricht von seinem Ordensführer.“ Xahl hatte die Tür nur einen Spalt breit geöffnet und versperrte so einer scheinbar äußerst aufgeregten, weiß gekleideten Gestalt den Weg.
„Lass ihn herein.“, erwiderte Laynar zerstreut. „Ach... und sorge dafür, dass mein Vater geweckt wird. Wahrscheinlich wird er so schnell wie möglich nach Irund aufbrechen wollen.“
Xahl war offensichtlich nicht besonders begeistert von der Vorstellung, Angoaz mitten in der Nacht wecken zu müssen, nickte aber ergeben, ließ den Prediger vorbei und schloss die Tür hinter ihm.
Laynar wandte sich dem Neuankömmling zu und musterte ihn kühl. Ein junger Mann, nur einige Jahre älter als er selbst, mit kurzen, braunen Haaren.
„Welche Nachricht hast du mir zu überbringen?“
Der Angesprochene trat nervös von einem Fuß auf den anderen. „Ich habe strikte Order, den Brief nur Eurem Vater auszuhändigen...“
„Mein Vater hat besseres zu tun, als sich mit solchen Lappalien abzugeben.“ Laynars Stimme klang nun schneidend und arrogant. „Gib ihn mir!“ Er hielt fordernd die Hand auf und beobachtete amüsiert, wie der Andere nach kurzem Zögern den Brief hervorholte und aushändigte.
„Vielen Dank!“, sagte er noch etwas spöttisch bevor er die Zeilen kurz überflog.
Der Inhalt überraschte ihn sehr, aber das zeigte er nur, indem er eine Augenbraue anhob. Mit einem liebenswürdigen Lächeln wandte er sich wieder dem Prediger zu. „Das sind sehr interessante Neuigkeiten. Danke, dass du dich mit dem Brief so beeilt hast, ich werde ihn schnellstmöglich an meinen Vater weiterleiten.
Gute Nacht!“, setzte er noch nachdrücklich hinzu, als der Weißgekleidete immer noch keine Anstalten machte zu gehen.
Den Wink verstand er aber und verließ kleinlaut den Raum.
Als er wieder allein war, fiel die Maske aus Selbstsicherheit und Arroganz mit einem Schlag von Laynar ab. Erschöpft ließ er sich auf einen der Sessel sinken und las sich den Brief noch mal in Ruhe durch. Zwei Hiobsbotschaften in einer Nacht, das war selbst ihm zuviel.
Yaro war also gesehen worden... Was sollte er jetzt tun?
Würde Angoaz davon erfahren, bekäme dieser nur einen weiteren Anfall und könnte sich nicht auf Irund konzentrieren. Damit wäre keinem geholfen, weder seinem Vater noch seinem Bruder.
Kurzentschlossen warf er den Brief ins Feuer und sah gedankenverloren zu, wie sich die Flammen durch das weiße Papier fraßen. Nach wenigen Augenblicken war nur noch ein Hauch grauer Asche zu erkennen.
Langsam erhob er sich wieder und machte sich auf den Weg zurück in sein Zimmer, vielleicht könnte er noch einige Stunden schlafen. Auf dem dunklen Gang kam ihm noch ein neuer, beunruhigender Gedanke.
Je stärker die Royalisten wurden, desto größer war die Gefahr, die von der Königin ausging – solange diese noch lebte. Wenn die Rebellen Erfolg hatten, hing Luscinias Leben am seidenen Faden. Und auf die kühl berechnende Beherrschtheit seines Vaters konnte Laynar auch nicht mehr bauen.
Er würde etwas unternehmen müssen.
Szene 5: Das Rebellenlager
Das gequälte Knarren der Dielen, vorsichtige Schritte, das Quietschen der Tür... träge lauschte Ja’rui auf die Geräusche und die darauf folgende Stille. Gedämpft drang das Singen der Vögel und das gleichmäßige Rauschen des Treim in die Hütte. Einige blasse Sonnenstrahlen fanden durch einen Spalt in der Tür ihren Weg ins Innere.
Er setzte sich auf und sah sich kurz verschlafen in dem kleinen Raum um, ehe er leise aufstand und nach draußen trat.
Yaro saß etwas abseits der Hütte am Fluss und starrte gedankenverloren auf die weißschäumenden Fluten.
Gähnend und sich streckend trat Ja’rui hinter ihn. „Na, gut geschlafen?“
Der Angesprochene drehte sich langsam um und sah Ja’rui nachdenklich an. „... ja.“ Er runzelte überrascht die Stirn, sagte aber nichts mehr, sondern wandte sich wieder den hellgrauen Fluten zu, die im ersten Morgenlicht aufblitzten.
„Aber nicht in deinem Bett.“
Ja’rui ließ sich nicht so einfach abwimmeln...
„Hm... sag mal, wo wollen wir eigentlich hin?“, wechselte Yaro nicht eben elegant das Thema.
Ja’rui seufzte. „Wir suchen nach Assin. Erst mal geht’s zum Hauptlager der Rebellen. Vielleicht haben wir Glück und er ist dort.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wenn nicht kann man uns da wahrscheinlich sagen, wo er ist.“
Ein wenig besorgt sah er zu Yaro, der immer noch schweigend auf das vorbeieilende Wasser sah.
„Du bist heute irgendwie komisch... noch komischer als sonst, meine ich. Was ist los?“
Erst schien es, als würde Yaro weiter schweigen, dann meinte er scheinbar zusammenhangslos: „Das Hauptlager... du willst mich da wirklich hinführen? Warum vertraust du mir?“
„Ich weiß nicht genau.“, meinte der Shalún ein wenig ratlos. Dann lachte er spöttisch auf. „Naja, ein Spion bist du jedenfalls nicht. Dafür bist du viel zu leicht zu durchschauen.“
„Ach ja? Ich selbst durchschau mich nicht...“
„Siehst du. Ich sagte doch, du wärst ein schlechter Spion.“ Lachend ging Ja’rui zurück zur Hütte.
Ja, warum vertraute er Yaro? Mit seinem Gardemantel und seinem verschlossenen Wesen war er eigentlich sehr verdächtig. Er wollte weder seinen Namen verraten, noch, warum er aus der Garde desertiert war. Genau genommen hatte er seit sie sich kannten nie irgendetwas über sich erzählt, nicht einmal Belanglosigkeiten.
Andererseits war Ja’rui sich ziemlich sicher, dass er kein Spion war und Angoaz und der Garde alles andere als friedlich gegenüber stand. Es gab ein paar Fakten, die dafür sprachen. Zum Beispiel, dass er sich Ja’rui nicht von sich aus angeschlossen hatte und offenbar von der Gegenseite gesucht wurde.
Letztendlich verließ sich Ja’rui bei ihm aber vollkommen auf seine Menschenkenntnis. Das war leichtsinnig. Er war zwar nicht leicht zu täuschen, aber unmöglich war es ja nicht...
Mit einem Kopfschütteln vertrieb er diese Gedanken. Bisher hatte ihn sein Gefühl nie getrogen und er war viel zu sehr Shalún, als dass er nicht darauf gehört hätte.
Man sollte den Dingen ihren Lauf lassen und sich nicht zu viele Sorgen machen, der Rest würde sich schon finden. Alles zu seiner Zeit...
Er ging zurück in die Hütte und ließ die Tür offen für das helle Licht des neuen Tages.
Und jetzt war es definitiv Zeit fürs Frühstück.
Der Frühling schien in den letzten Tagen mit aller Kraft durchzubrechen. Helle Sonnenstrahlen fielen durch die jungen Blätter der Bäume und sprenkelten den Waldboden mit hellgrünen und weißen Lichtflecken.
Verdandi atmete tief ein. Angesichts des Lichts und Lebens, das dieser Wald ausstrahlte, verblasste ihre Vision zu einem harmlosen Alptraum. Der Gesang der Vögel und das rascheln der Blätter unter ihren Füßen erinnerte sie an die Wälder rund um Hiel und ließen sie ihre Sorgen für kurze Zeit vergessen.
Kurz nach dem Frühstück hatten sie sich von dem alten Flößer verabschiedet und hatten einige Stunden später diesen Wald erreicht.
Dörfer und andere Siedlungen hatten sie gemieden, aber überall waren die Folgen des Bürgerkrieges sichtbar gewesen. Abgebrannte Bauernhöfe, Spuren von hastig aufgelösten Flüchtlingslagern oder Schlachtfeldern...
Die Auseinandersetzungen dauerten an, seitdem König Maloar gestorben war und Rir als Vormund seiner Tochter die Regierung an sich gerissen hatte. Das war vor zwei Jahren gewesen und wenige Monate später hatte die Verfolgung der Shalún und Brevit begonnen, die sich am offensten gegen den Emporkömmling ausgesprochen hatten...
Was war das für ein Geräusch?
Sie sah sich unauffällig um. Es war nichts zu sehen – das war verdächtig. Hätte ein Tier das Geräusch verursacht, hätte sie es bestimmt bemerkt. Sie fühlte sich auch schon seit einiger Zeit beobachtet, als ob...-
„Sag mal, könnte es sein, dass wir uns schon wieder verlaufen haben?“ Yaros Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Du weißt ja... wir sind, dank deinem großartigen Orientierungssinn, schon mal ziemlich lange in einem Wald rumgelaufen.“
Ja’rui starrte ihn beleidigt an. „Unsinn, ich kenne den Weg und wir sind absolut richtig.“ Er sah zu Verdandi hinüber, die scheinbar völlig unbeteiligt neben ihnen herlief. „Findest du nicht auch, dass er nicht versuchen sollte, witzig zu sein?“
„Hm...? Was? Witzig... ja.“, erwiderte diese verwirrt.
„Was hast du?“
„Ich weiß nicht... Ich glaube, es ist jemand in der Nähe. Ich höre es ständig rascheln.“
Auch Ja’rui und Yaro sahen sich jetzt um und achteten auf die Geräusche in ihrer Umgebung.
Dann schüttelte Ja’rui den Kopf. „Nein, ich kann nichts hören, aber es wäre möglich, dass es ein Rebell ist. Wir sind schon ziemlich nah am Lager. Wahrscheinlich haben sie Wachen aufgestellt.“
„Und was jetzt?“, fragte Yaro besorgt.
Ja’rui zuckte nur unbekümmert mit den Schultern. „Was soll sein? Wir gehen einfach weiter. Wenn es ein Rebell ist, wird das nicht schaden und wenn nicht, ist es auch egal. Wenn er uns bis hierher gefolgt ist, findet er das Rebellenlager sowieso.“
Die anderen Zwei sahen ihn zweifelnd an. „Wieso findet er das Lager sowieso?“
„Weil wir da sind.“ Der Shalún zog eine Augenbraue hoch und deutete nach oben. Seine Begleiter legten die Köpfe in den Nacken und betrachteten jetzt ebenfalls, staunend, das Lager.
Fast direkt über ihnen, in einer Höhe von mindestens zwanzig Fuß waren zahlreiche, große Holzkonstruktionen zu erkennen. Allerdings war es kein Wunder, dass sie sie nicht schon früher gesehen hatten. Wer sah schon nach oben, wenn er auf der Suche nach einer Siedlung war? Und bei dem dichten Wald fielen sie tatsächlich kaum auf.
‚Im Sommer müssen sie durch die Blätter nahezu unsichtbar sein’, dachte Yaro.
Sie hingen hoch genug, dass sie von den tieferen Ästen der Bäume verdeckt wurden. Jetzt, wo die Blätter noch klein waren, konnte man die Plattformen sehen, die rund um die Stämme oder zwischen den Astgabeln –offenbar in mehreren Ebenen- angelegt waren. Die Größeren waren durch schmale Holzstege untereinander verbunden, zu den Kleineren führten scheinbar Seilkonstruktionen, die man vom Waldboden aus, gegen das Licht, nur schwer erkennen konnte.
Einen Aufgang konnte Yaro nirgendwo ausmachen. Nur an den wenigen Bäumen, die keine Äste am Stamm hatten, waren Stangen angebracht, die auf den ersten Blick als Leiter hätten dienen können. Aber die ersten befanden sich in einer Höhe von mindestens zwölf Fuß. Selbst einem geschickten Kletterer wären sie wohl kaum eine Hilfe...
„Und? Hübsch, oder?“, grinste Ja’rui.
Verdandi und Yaro nickten nur beeindruckt.
„Hm, scheint aber keiner hier zu sein. Komisch...“ Etwas beunruhigt sah er sich um. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte das alles belebter gewirkt. Es hatte Zelte auf dem Boden gegeben, einige Strickleitern und eine große Wendeltreppe, die von der Zentralen Plattform zum Boden führte. Damals waren mehr als tausend Rebellen hier gewesen...
„Es sieht nicht danach aus, als wären sie angegriffen worden.“, überlegte Yaro laut.
„Nein, scheint eher, als ob sie... unterwegs wären.“ Yaro sah sich noch mal prüfend um. „Aber sie würden das Lager niemals völlig unbewacht lassen. Irgendjemand ist bestimmt hier.“
„Du hast Recht,“ Verdandi sah sich leicht besorgt um. „Hier ist jemand...“
Szene 6:
Yaro fuhr herum, als er das Rascheln direkt hinter sich vernahm. Diesmal war er sich sicher, dass er es gehört hatte. Aber da war nichts, nur ein Ast, der sich leicht im Wind wiegte...
Yaro schloss die Augen, konzentrierte sich auf seine Umgebung. Es war windstill. Nur weit oben in den Wipfeln der ältesten Bäume strich eine leichte Brise durch die Äste, ließ sie sanft raunen. Neben ihm das gedämpfte Schnauben und die raschelnden Schritte von Tchan, die beiden Shalún waren völlig geräuschlos stehen geblieben.
Von dem Verfolger - er war sich inzwischen sicher, dass es einen gab - war ebenfalls nichts zu hören.
Er öffnete wieder die Augen und sah sich nach den Anderen um. „Ich denke, es ist ein Rebell.“
Verdandi nickte leicht, sah aber über sine Schulter hinauf in die Krone eines Baumes. „Wer bist du? Zeig dich!“
Yaro folgte ihrem Blick und erkannte zwischen den Ästen eine schmale Gestalt, die mit bewundernswerter Behändigkeit nach unten kletterte. War das ein Mensch? Diese katzenhaften, fließenden Bewegungen. Fast sah es aus, als fiele der Junge herunter und die Äste würden den Sturz nur bremsen. Es gab kein Zögern zwischen den Sprüngen, sie gingen fließend ineinander über.
Dann stoppte die Bewegung plötzlich. Reglos saß der Junge auf einem Ast, nur wenig über ihnen und beobachtete sie aufmerksam. „Ich finde, ihr solltet mir zuerst sagen, wer ihr seid...“ In seinen hellen Augen blitzte es belustigt. „Ich weiß es zwar, aber sicher ist sicher.“
„Ja’rui Fidès, Aquila Zilbras und Yaro.“
Der Junge war mit dieser Antwort offenbar zufrieden, denn er nickte kurz und sprang dann vom Baum. Mühelos federte er auf dem unebenen Boden ab, wandte sich den Dreien zu und deutete eine Verbeugung an. „Es ist mir eine Ehre, die Verdandi hier begrüßen zu dürfen. Wartet bitte einen Moment, ich lasse euch eine Leiter runter.“ Und schon war er wieder auf einem der Bäume verschwunden.
Yaro sah ihm kurz nach, verfolgte fasziniert die Bewegungen, mit denen dieser Junge die enormen Abstände auf seinem Weg hinauf überwandt. Natürlich, die Brevit. Für sie war ein Sprung von zwölf Fuß kein Problem, die Stangen hatte man für sie angelegt.
„Aufgepasst da unten!“ kam noch eine knappe Warnung, bevor das Ende einer Strickleiter dicht vor Yaro über den Boden peitschte. Dieser hatte es gerade noch geschafft, sich mit einem Sprung in Sicherheit zu bringen. Murrend stand er wieder auf, wartete bis Verdandi die Plattform erreicht hatte und stieg dann selbst hinauf. Ja’rui folgte in einigem Abstand, nachdem er Tchan noch ein wenig Gepäck abgenommen hatte.
Yaro warf noch einen Blick auf das Pferd, das ruhig zwischen den Bäumen stand. „Willst du ihn nicht festbinden?“
Verdandi sah ihn erstaunt an. „Nein, warum sollte ich? Wenn er mich begleiten will, wird er nicht weglaufen.“
Er zuckte nur die Schultern und sah sich um. Von hier oben konnte man die wahren Ausmaße dieser Anlage erahnen. Es gab tatsächlich mehrere Ebenen. Die untere, auf der sie sich jetzt befanden, bestand, soweit Yaro das erkennen konnte, weitestgehend nur aus Plattformen und Stegen, über die man die oberen Ebenen erreichen konnte. Oben waren die kreisförmigen Plattformen, die jeweils den Stamm eines Baumes umschlossen, zu Hütten ausgebaut. An den besonders großen Bäumen hatten diese scheinbar mehrere Stockwerke. Wo diese Siedlung endete, konnte Yaro nicht erkennen. Sogar an den letzten Bäumen, die er zwischen den Stämmen noch ausmachen konnte, hingen noch Hütten.
Diese Anlage war groß. Sehr groß. Aber sie wirkte verlassen...
„Wo ist denn dieser Junge hin?“ riss ihn Ja’ruis Stimme in die Gegenwart zurück.
Verdandi sah sich suchend um. „Ich weiß auch nicht, wo... ach, da kommt er!“
Der junge Brevit blieb vor ihnen stehen und verbeugte sich noch mal förmlich, wobei er sogar seine Mütze abnahm. „Ich heiße euch herzlich Willkommen in Shun ad Dahir, der Stadt in den Wipfeln. Assin ist derzeit abwesend. Ich habe Kommandant Iden über eure Ankunft informiert und bin beauftragt, euch zu ihm zu bringen.“ Er setzte seine Mütze wieder auf und grinste die Drei an, wobei alle Förmlichkeit wieder von ihm abfiel. „Ähm... ja, ich glaub, das war alles, was ich euch ausrichten sollte... Ihr habt ziemlich lange gebraucht, wir hatten euch schon gestern hier erwartet.“
„Entschuldige mal, wer bist du überhaupt?“
„Oh, natürlich... ich bin Kuadí.“ Ohne eine weitere Erklärung drehte er sich um und ging. Verdandi, Yaro und Ja’rui folgten ihm über eine Anzahl Stege und Leitern, bis sie zu einer Konstruktion kamen, die sogar für Yaro auf den ersten Blick als Shun-Layna zu erkennen war. Es war das einzige verzierte Bauwerk, das er hier gesehen hatte und es war wesentlich größer als all die Unterkünfte an denen sie vorbei gekommen waren. Als Pfeiler für diese Konstruktion diente nicht ein Stamm, sondern gleich fünf.
Sie betraten die Halle, in der dämmriges Licht vorherrschte. Auch hier waren kaum Menschen, zwanzig oder dreißig vielleicht, die aber die große Halle nicht annähernd füllten. An einem der großen Fenster, durch das die grün gefärbten Lichtstrahlen fielen, saß ein alter Mann.
Kuadí ging zielstrebig auf ihn zu. „Kommandant? Hier sind sie.“
Der Alte, bei dem es sich offensichtlich um Iden handelte erhob sich rascher als sein Aussehen vermuten ließ und verbeugte sich ehrerbietig vor Verdandi. „Es ist mir eine Ehre.“ Dann wandte er sich Ja’rui zu und lächlte. „Und eine Freude, dich wieder zu sehen. Du hast ganzschön lange gebraucht, um sie zu finden.“
„Sie war gut versteckt.“ verteidigte sich der Angesprochene. „Außerdem glaub’ ich so langsam, dass ich der Einzige war, der nicht wusste, wer sie ist und warum wir sie suchen. Ich mach’ nie wieder eine Mission, bei der ich so wenige Informationen kriege.“ brummte er missmutig.
In Idens braunen Augen schien eine Spur Schadenfreude aufzublitzen. „Setzt euch doch zu mir.“ Er deutete auf die Bank und setzte sich wieder. Die Drei folgten der Aufforderung.
„Was ist hier eigentlich los?“ Ja’rui machte eine weit ausholende Geste, die sowohl die leere Halle, als auch die verlassenen Hütten draußen mit einschloss.
„Die Operation Irund ist vor einer knappen Woche angelaufen.“
Ja’rui sah ihn ungläubig an. Er kannte den Plan nur in Grundzügen, da er nur in der Anfangsphase daran mitgearbeitet hatte. Das war noch in Andal gewesen und schon über zwei Jahre her. Seitdem hatte sich eine Menge geändert, aber das Ziel der Operation war sicher das Gleiche geblieben: Die Rettung der Königin. „Erfolgreich?“ brachte er nur hastig hervor.
Iden schüttelte traurig den Kopf. „Bisher noch nicht. Vorgestern fand die Aktion unter Befehl von Meles statt, schlug aber fehl. Nach unseren Informationen sind Meles und seine Leute tot. Was aus Luscinia geworden ist, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Wir gehen aber davon aus, dass sie noch lebt. Alles andere wäre wahrscheinlich bekannt gegeben worden.“
Ja’rui sah den Kommandanten nur entsetzt an. Meles war tot? Er hatte ihn zwar nur flüchtig gekannt, aber dieser war einer der wichtigsten Männer hinter Assin gewesen – und, wie man hörte, einer der erfahrensten Krieger. „Wie konnte das passieren?“
„Wir haben wohl ihr Nachrichtensystem überschätzt. Es gab keine Anzeichen dafür, dass sie schon von Irund wussten und ihre Abwehrbereitschaft war noch nicht geschwächt.“
„Und Assin? Ist er in Irund?“
Iden antwortete nicht, sondern warf einen vielsagenden Blick auf Yaro. Dieser wollte schon gehen, aber Verdandi hielt ihn fest.
„Du kannst vor ihm reden. Ich vertraue ihm.“
Iden sah sie eindringlich an. „Weißt du, wer er ist?“
Verdandi blickte entschlossen zurück. „Er wird es mir noch sagen... Aber das spielt sowieso keine Rolle.“ Sie schwieg einen Moment und hielt Idens zweifelndem Blick stand. „Ich vertraue ihm.“ Wiederholte sie noch einmal und betonte dabei jedes Wort.
Der alte Kommandant gab sich geschlagen. Er musterte Yaro noch einmal besorgt, ehe er sich zu einem Lächeln durchrang. „Dann sei auch du willkommen, Yaro Adar.“
Yaro stockte der Atem. Für einen Augenblick hatte er wirklich gedacht, der Alte würde ‚Angoaz’ sagen. Kein Zweifel, Iden wusste ganz genau, wer er war. Aber jetzt würde er es wohl kaum noch verraten.
Yaro war fürs erste beruhigt. Aber Verdandi hatte Recht, er würde es ihr irgendwann sagen.
Er musste.
Das Problem war nur, dass er nicht wusste, wie. Er hatte Angst, ihr Vertrauen zu verlieren.
Er wurde von Ja’ruis Lachen aus seinen Gedanken gerissen und bemerkte, dass Verdandi rot geworden war. Warum? Wegen dem Namen, den Iden ihm gegeben hatte? Adar... Was bedeutete das überhaupt? Wie so oft, seit er mit den beiden Shalún unterwegs war, hatte er mal wieder das Gefühl, der Einzige zu sein, der einen Witz nicht verstanden hatte.
Ja’rui wurde aber schnell wieder ernst und brachte das Gespräch auf das ursprüngliche Thema zurück. „Wo ist also Assin jetzt?“
„Er ist kurz nach der fehlgeschlagenen Entführung nach Andal abgereist.“
„Was will er dort? Jetzt, wo Angoaz gewarnt ist, ist er dort doch in noch größerer Gefahr.“ Verdandi schien ernsthaft um diesen Assin besorgt zu sein.
Iden schüttelte beruhigend den Kopf. „Inzwischen müsste die Nachricht vom Aufstand auf jeden Fall für Ablenkung sorgen. Außerdem ist die Seuche in Andal ausgebrochen und kaum jemand traut sich noch auf die Straßen, geschweige denn, die Häuser zu kontrollieren. Er kann sich also gut verstecken.“
„Und was hat er vor?“
„Das weiß ich nicht genau. Als er aufbrach hatte er auch noch keinen genauen Plan. Die Verhältnisse in der Hauptstadt ändern sich zu schnell... Aber ich denke, er will auf eine günstige Gelegenheit warten, den Aufstand doch auszunutzen.“
Ja’rui nickte kurz. „Und wir? Sollen wir hier auf ihn warten oder auch nach Andal aufbrechen?“
„Wir gehen auch nach Andal! Es kommt überhaupt nicht in Frage, dass wir hier bleiben, wenn Assin irgend so eine planlose Aktion vor hat!“ mischte sich Verdandi ein.
Yaro sah sie überrascht an. Wie gut kannte sie diesen Assin eigentlich?
Iden lachte nur. „Er hat mir schon gesagt, dass du so reagieren würdest. Ich soll euch Pferde und Waffen geben, wenn ihr nach Andal aufbrecht.“ Er erhob sich und deutete zur anderen Seite der Halle, wo lange Tische aufgestellt waren. „Aber vorher wollt ihr mir doch bestimmt noch die Freude machen, mit uns zu essen?“
Szene 8: Falle
Der Raum, den Yaro jetzt betrat, war nicht sehr groß. Ein Tisch in der Mitte nahm den meisten Platz ein. Um ihn herum saßen mehrere Männer. Ihre Gesichter wurden von sechs oder sieben Kerzen erhellt, die auf dem Tisch verteilt waren. In ihrem flackernden Schein konnte Yaro auch Ja’rui, Verdandi und Kuadí erkennen, die zwischen den anderen saßen. Gerade schob irgendjemand einen weiteren Stuhl für ihn heran, auf den er sich mit einem knappen Kopfnicken in die Runde setzte.
Assin wartete noch einen Augenblick, dann hob er zum Sprechen an. „Wie ihr seht, hatte sich Kelem nicht getäuscht: in der Eingangshalle waren tatsächlich Besucher.“ Er deutete ein Lächeln an und stellte sie der Reihe nach vor: „Die junge Dame ist die lang erwartete Verdandi Zilbras.“ Er machte eine kurze Pause, als ein Murmeln durch die Runde ging. Die meisten Männer grüßten Verdandi, indem sie im Sitzen eine Verbeugung andeuteten. „Ja’rui Fidès werden einige von euch schon kennen. Er war in den letzten Monaten inaktiv, weil sein Gesicht zu bekannt geworden war. Ich hatte ihn beauftragt, Verdandi hierher zu bringen. Kuadí dürfte, zumindest dem Namen nach, auch den meisten schon bekannt sein. Und das“, er warf Yaro einen finsteren Blick zu, „ist Yaro. Er hat Ja’rui und Verdandi bis hierher begleitet.“
Noch einige knappe Begrüßungsworte an die Neuankömmlinge, misstrauische Blicke in Yaros Richtung, und die Vorstellung war beendet.
„Jetzt, wo das geklärt wäre,“ Assin richtete sich auf seinem Stuhl auf und sah mit festem Blick in die Runde, dann wechselte er in Shalúin. „können wir ja da weitermachen, wo wir eben unterbrochen wurden.
Nach unseren neuesten Informationen ist Angoaz heute Vormittag mit achtundzwanzig Abteilungen seiner Garde nach Irund aufgebrochen. Das Schloss wird zurzeit also nur von einer Gardeabteilung und der üblichen Zahl gewöhnlicher Soldaten bewacht. Wir müssen diese Chance unbedingt nutzen, um die Königin in Sicherheit zu bringen.
Des weiteren schlage ich vor, die Ablenkung noch so lange aufrecht zu erhalten, bis Angoaz vor den Grenzen steht, und die Truppen dann aus Irund abzuziehen. Es-“
„Irund aufgeben?“ wurde er von einem der älteren Männer unterbrochen, der von seinem Stuhl aufgesprungen war und sich jetzt auf dem Tisch abstützte. „Die Eroberung Irunds ist der wichtigste militärische Sieg, den wir in den letzten Monaten zu verzeichnen hatten und Ihr wollt es einfach aufgeben?!“ Er unterbrach sich selbst und atmete einmal ruhig durch, bevor er weitersprach. „Wir haben hohe Verluste für diesen Sieg in Kauf genommen. Es wäre nicht klug, ihn wegzuwerfen, ohne darum zu kämpfen.“
Assin sah ihn kurz nachdenklich an. „Es ist nicht so, dass ich es nicht bedauere. Mir ist klar, dass es dir besonders schwer fallen muss, dort wieder abzuziehen. Aber mehr als eine Ablenkungsaktion war die Einnahme von Irund nie. Wir sind zu geschwächt, um es gegen Angoaz’ Heer zu verteidigen. Unser Rückhalt in der Bevölkerung ist zwar noch relativ stark, aber wenn Angoaz erst mal da ist, wird er nachlassen. Irund wird nicht offiziell von Andal abfallen, das war von Anfang an klar. Wenn wir nicht noch mehr Männer verlieren wollen, müssen wir rechtzeitig fliehen.“ Er sah mit ernster Miene in die Runde. „Wenn einer von euch eine Möglichkeit sieht, Irund wirkungsvoll zu verteidigen, bin ich für Vorschläge offen...“ Niemand sagte etwas. Gegen eine solche Anzahl von Angoaz’ Gardisten kam ihr Heer nicht an.
Assin nickte. „Auf militärischem Wege sind wir zu schwach. Was uns bleibt, ist ein Attentat auf Angoaz selbst. Es wird schwer genug, das zu erreichen. So weit sind wir noch lange nicht. Unser erstes Ziel ist es, Luscinia zu befreien, die als Geisel gegen uns eingesetzt werden kann.
Stimmen wir in diesem Punkt überein?“
Wieder schwieg Assin kurz und suchte den Blick seiner Hauptleute. Jeder von ihnen nickte kurz.
Der Rebellenführer gestattete sich ein kurzes Lächeln, bevor er wieder in die Landessprache zurückfiel. „Gut. Wie schon gesagt, ist das Schloss nur schwach bewacht. Es dürfte möglich sein, die Königin zu retten, ohne dass sich das Fiasko der letzten Tage wiederholt.“ Er warf Yaro einen durchdringenden Blick zu, schien zu überlegen, wie weit er gehen konnte. „Oder seht Ihr da irgendwelche Probleme, Yaro?“
Überrascht sah Yaro auf und erkannte, dass er jetzt von allen verwundert angesehen wurde. Nur Assins Blick lag immer noch alles durchdringend und gefährlich auf ihm, wie der eines lauernden Raubtieres. Er hatte von der vorhergehenden Besprechung nur einige Brocken mitbekommen, weil er nur wenige Worte Shalúin verstand. Die letzten Sätze hatte er allerdings verstanden. Was sollte er sagen? Sollte er leugnen, irgendetwas zu wissen? Oder antworten?
Kurz sah er Verdandi an, die jetzt mehr als besorgt wirkte.
‚Lass dich nicht provozieren! ’ Leichter gesagt, als getan...
„Ich sehe da allerdings Probleme.“ Er erwiderte Assins Blick und versuchte, etwas von seiner gewöhnlichen Ruhe und Selbstsicherheit zurück zu gewinnen. „Angoaz würde das Schloss nie ungeschützt lassen. Man kann also davon ausgehen, dass die zurückgelassenen Streitkräfte immer noch völlig ausreichen, um ein Eindringen zu verhindern. Es fällt mir außerdem schwer, zu glauben, dass das Ablenkungsmanöver in Irund nicht als solches durchschaut wurde... obwohl Angoaz’ Reaktion dagegen spricht...“ Er überlegte kurz. Was war da los? Laynar ließ sich nicht so leicht täuschen. Aber dass er seinem Vater etwas verschwieg passte nicht zu ihm. Oder?
Er bemerkte Assins stechenden Blick, der ihn regelrecht fixierte. „So... und wie sollen wir Eurer Meinung nach vorgehen?“
Seine Meinung? Was sollte das? Warum fühlte er sich plötzlich so unsicher? Als wäre er die ahnungslose Beute und geradewegs auf dem Weg in die Falle...
Ja, eine Falle. Sicher wollte Assin auf irgendetwas hinaus, aber Yaro hatte keine Ahnung, auf was. Wahrscheinlich wäre es das Beste, jetzt einfach zu schweigen, gar nicht zu reagieren.
Aber sein Stolz ließ das nicht zu. In den braunen Augen seines Gegenübers erkannte er eine unausgesprochene Herausforderung, die er nicht einfach ignorieren konnte.
„Ohne Hilfe von Innen ist es so gut wie unmöglich.“, hörte er sich sagen und verfluchte sich im selben Moment dafür, sich nicht besser unter Kontrolle zu haben.
Der Triumph, der über Assins betont gelassenes Gesicht zu huschen schien, ließ seine Wut noch wachsen. ‚Verdammt! Warum konnte ich nicht still sein? So wie der aussieht, hab ich gerade genau das gesagt, was er hören wollte.’ Ihm war immer noch nicht klar, was Assin plante, aber er merkte, dass er offenbar sehr gut mitspielte.
Das maliziöse Lächeln, das die markanten Gesichtszüge des Rebellenführers noch zu verstärken schien, zeigte Yaro, dass er sich nicht getäuscht hatte.
Assin deutete durch ein Neigen des Kopfes eine Verbeugung in Yaros Richtung an und heftete seinen lauernden Blick wieder auf ihn. „Genau das habe ich nämlich auch gedacht. Meine ersten Überlegungen waren, einen Spion einzuschleusen... in den jetzigen Zeiten ein unmögliches Unterfangen. Das Misstrauen ist groß...“ Seine Augen verengten sich für einen Augenblick zu schmalen Schlitzen, durch die er Yaro drohend anstarrte, während sein Ton weiter gelassen, ja fast teilnahmslos klang. Er erhob sich und fing an, die Längsseite des Raumes auf und ab zu gehen. „Aber wie der Zufall so spielt, wurden wir selbst vor wenigen Stunden kontaktiert...“
Das Licht der Kerzen erfasste nicht mehr die ganze Gestalt und wie er sich so ruhig durch die Schatten bewegte wirkte er mehr denn je wie ein großes, geduldig lauerndes Raubtier.
Yaro überlegte fieberhaft, worauf sein Gegenüber hinaus wollte. Ein Spion hatte sich gemeldet, ein Verräter? Jemand aus dem Schloss? Aber wer würde ein solches Risiko eingehen?
War das Ganze nicht eher eine Falle, um die Rebellen zu enttarnen?
„... und uns wurde ein Treffen vorgeschlagen.“
Sicher, Assin musste jede Chance nutzen, die er kriegen konnte, aber die Sache stank geradezu nach einer Falle. Wen von seinen Leuten wollte er denn...
Yaro unterdrückte nur mit Mühe den Impuls, sich gegen die Stirn zu schlagen. „Und du willst jetzt, dass ich da hin gehe...“ Er hatte den Satz noch nicht beendet, da hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Warum hatte er überhaupt etwas gesagt? Warum ließ er sich so leicht provozieren?
Assin setzte sich wieder auf seinen Platz. Er sah aus, wie eine Katze, die gerade eine besonders fette Maus erlegt hatte.
„Ich hätte dich nur ungern darum gebeten. Aber wenn du es anbietest, gehe ich gerne darauf ein.“ Auf seinem Gesicht lag ein zufriedenes Grinsen.
Yaro stellte sich vor, es ihm herauszuschlagen und zählte in Gedanken langsam bis sieben.
„Das glaube ich gern.“, erwiderte er bissig, verkniff sich aber jedes weitere Wort.
„Schön. Dieser Informant wird morgen um die Mittagszeit im Gasthaus ‚Zum wilden Eber’ sein. Einer meiner Leute wird dich hinbringen.“
‚... und kontrollieren, ob ich hingehe.’, dachte Yaro zynisch. Aber er sagte nichts dazu, er wusste, wann er verloren hatte.