Etwas großes erwartet uns - Fanfictions
Rhuns Fluch

Prolog

Eine reitende Gestalt, gehüllt in einen schwarzen Mantel. Das Pferd preschte so schnell über die Ebene, dass ihm eine Staubwolke folgte.
Die Reiterin, komplett verhüllt durch den Umhang, hielt einen weißen, mit Runen besetzten Stab in der rechten Hand. Mit der Linken, mit welcher sie gleichzeitig das Pferd lenkte, umklammerte sie eine ebenfalls weiße Flagge – das Zeichen eines Unterhändlers.
Noch einmal sah sie sich um. Die spärlich mit Gras bewachsene Ebene, auf der die sich befand, der weiße Strand und das Meer, der hellblaue Himmel... alles wirkte so friedlich. Doch das war es nicht. Zu ihrer Linken sah sie ein Soldatenlager, wie schon so viele in dieser Gegend. Um die prächtigen Zelte und Holzbauten herum standen hunderte Krieger in silbernen Rüstungen, die in der aufgehenden Sonne prachtvoll glitzerten. So wundervoll es auch aussah, man konnte den bestialischen Blutdurst der Männer beinahe fühlen. Und dies war nur ein kleiner Teil des rhunischen Heeres!
Sie war nur noch wenige hundert Meter von ihrem Ziel entfernt. Vor sich sah sie die „marmorne Stadt“, Chyrana, die Hauptstadt des rhunischen Reiches. Sie sah wunderschön aus, und man bemerkte auf den ersten Blick, dass es eine reiche Stadt war. Eine sehr reiche.
Doch umso näher sie kam, umso mehr veränderte sich der Anblick. Gewiss, alles war sehr schön, die Gebäude waren allesamt aus Marmor oder geschliffenem Stein erbaut, die Leute waren gut gekleidet und trugen wertvollen Schmuck. Auf den Stadtplätzen tummelten sich Händler und Käufer, nirgendwo sah man Arme!
Doch alles hat eine Schattenseite. Die zahlreichen Mauern und Türme waren überfüllt mit Wachen, jeder Mann und jede Frau trug ein Schwert, und jeder schien bereit, es sofort einzusetzen. Die Blicke, die man ihr zuwarf, waren abwertend und die Gesichter mordlustig.
Kein Wunder.
Diese Stadt ist auf Leichen errichtet...
Sie passierte das Stadttor und steuerte auf den Palast zu. Um sie herum patroullierten Wachen mit silbernen Rüstungen und blondem Haar.
Alle Rhuner hatten weißblondes Haar. Alle trugen sie entweder glänzende Rüstungen oder Gewänder aus Seide. Als ob sie besessen wären davon, perfekt zu sein...
Es war Zeit, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Der Krieg, den die Rhuner angefangen hatten, die zahllosen Toten, allesamt unschuldig ermordet durch die endlose Machtgier der Südländer...
Sie erreichte einen riesigen Platz. An der ihr gegenüberliegenden Seite war ein gewaltiges Bauwerk errichtet, prunkvoller als alles, was sie bisher gesehen hatte. Dies war der Palast, der Wohnsitz des rhunischen Anführers.
Momentan saß dieser auf einem elfenbeinernen Thron in der Mitte des Platzes, gehüllt in einen dunkelblauen Umhang aus Seide und flankiert von mehreren Wachen. Um ihn herum hatten sich hunderte Rhuner versammelt, um dem Ereignis beizuwohnen.
Einige weitere Wachen betraten den Platz und nahmen hinter ihr Stellung.
Das Gespräch schien eröffnet.
Ihr war etwas flau im Magen, doch sie wirkte völlig ruhig, als sie von ihrem Pferd stieg. Die Flagge und den Stab immer noch in der Hand, trat sie vor den Herrscher.
Der Anführer hatte noble Züge, wie alle seines Volkes. Eine Autorität strahlte von ihm aus, wie man sie selten bei Königen findet. Man konnte ihm seinen Stolz, ebenso aber seine Intelligenz ansehen. Nur eines verdeckte sein Äußeres: Seine Grausamkeit.
Nun begann er mit lauter Stimme zu sprechen:
„Wir haben dich erwartet, Unterhändler“ Er lächelte sie mitleidig an.
„Flehen die Kriegsherren Koriens um Gnade?“, fragte er lässig.
Am liebsten hätte sie ihm irgendetwas schlimmes angetan. Aber sie blieb diplomatisch und antwortete:
„Ich überbringe euch in der Tat eine Botschaft der Herrscher dieses Landes, Korien“
Von überall waren abwertende Blicke auf sie gerichtet.
„Sie lautet: Rhuner! Ihr seid über das Meer gekommen. Wir haben euch in Frieden empfangen. Ihr habt die Herrschaft über die südlichen Küsten gefordert. Wir haben es euch gewährt.“
Sie versuchte, nicht auf das Lachen der umstehenden Leute zu hören.
„Weil euch das nicht genug war, habt ihr einen Krieg begonnen. Einen sinnlosen Krieg. Ihr glaubt, ihr seid unbesiegbar, aber ihr wisst nichts von unseren Möglichkeiten. Hört nun unsere Forderung: Geht dahin zurück, wo ihr hergekommen seid! Gebt unsere Schätze zurück! Wir werden euch ziehen lassen. Tut ihr es aber nicht, so werdet ihr es ewig bereuen!“
Der große Platz hallte von dem anschwellenden Gelächter. Sie war so wütend, dass es sie große Mühe kostete, ruhig stehenzubleiben, als sie rief:
„Ich warne euch! Dies ist eure letzte Chance!“
Das Lachen wurde zum Grölen. Viele der umstehenden Leute zeigten mit den Fingern auf sie, oder scherzten über die Einfältigkeit der Könige Koriens.
Jetzt war es genug. Aus ihrer Wut wurde eine unheimliche Kraft, als sie ihren Geist leerte und sich bereit machte. Plötzlich musste sie wieder an den richtigen Unterhändler denken. Sie entschuldigte sich abermals bei seiner Seele, dass sie ihn hatte töten müssen. Sie hatte keine andere Wahl gehabt. Abrupt kehrten ihre Gedanken wieder zur Gegenwart zurück..
Es ist Zeit, diesen Wahnsinn zu stoppen, dachte sie, und begann.
Sie warf die Flagge weg und entledigte sich des Umhangs.
Plötzlich stockte das Lachen um sie herum, und daraus wurde ein entsetztes Keuchen, als die Rhuner sie erkannten. Der Anführer gab einen erstickten Schrei von sich, der von der starken Stimme der Magierin unterbrochen wurde, als diese ihren Stab in die Höhe riss. Die eingravierten Runen leuchteten rot.
„Ich verfluche dich, Rhun...“

1.Kapitel (2000 Jahre später): Auserwählt

1. Szene: Die Straßen von Manta


Ein leichter Wind lies das lange, feuerrote Haar des Jungen unruhig flattern. Er hatte für sein Alter überraschend erwachsene Züge und meerblaue Augen, die in weite Ferne zu blicken schienen.
Heute würde er es tun.
Während er durch die schmutzigen Straßen des Armenviertels von Manta schlenderte, dachte Yai´ro über sein Vorhaben nach.
Nein, seine Mutter würde es garantiert nicht gut heißen, aber gab es eine andere Möglichkeit?
Yai´ros Vater war gestorben, als er noch ein Kleinkind gewesen war. Seitdem hatten sie viel zu wenig Geld.
Plötzlich wurde er von einer krächzenden Stimme in seinen Gedanken unterbrochen.
„Junge, willst du eine Melone kaufen? Ich habe die Saftigsten weit und breit!“
Die Stimme gehörte Mister Giggs, dem runzelige, alten Melonenverkäufer. Yai´ro kannte ihn schon lange. Der alte Mann hatte ein freundliches Gesicht und lange, spitze Ohren, mit denen er dem Jungen zuwinkte. Und das sollte was bedeuten, denn nicht viele Leute konnten mit den Ohren winken!
„Nein, danke, Mister Giggs.“
Yai´ro zögerte einen Moment.
„Wissen Sie, wann der nächste Kampf stattfindet?“
„Heute Abend, denke ich. Aber hör mal, du willst doch nicht...“
„Danke, Mr Giggs! Wir sehen uns später!“ Und schon lief Yai´ro weiter, vorbei an den heruntergekommenen Marktständen und auf der Straße lagernden Bettlern.

Im Armenviertel gab es nicht allzu viele Möglichkeiten, an viel Geld zu kommen.
Genaugenommen nur eine.
Die Arena-Kämpfe.
Am Rand des Armenviertels befand sich eine Arena, die vor einigen Jahren von den Reichen erbaut worden war. Dort fanden wöchentlich Zweikämpfe statt. Der Sieger gewann viel Geld, doch der Verlierer starb. Viele der hungernden Leute hatten schon in der Arena gekämpft, doch wenige waren zurückgekommen. Die meisten von Yai´ros Bekannten meinten, die Arena sei gewiss wunderbar für die Reichen, denn diese verdienten damit Geld, und wurden auch gleich die Armen los – damit hätte das Ministerium zwei Probleme auf einmal gelöst.

Yai´ro war das egal. Wenn er dadurch zu Geld kommen konnte, war ihm alles egal. Er wollte nur mit seiner Mutter raus aus dem Armenviertel, er wollte eine Zukunft haben – und dazu brauchte er das Geld.
Und er wusste, das er es schaffen würde. Er wusste, dass er nicht sterben würde.
„Kaufen sie die Zeitung!“, brüllte der Verkäufer eines Zeitungsstandes, an dem Yai´ro gerade vorbeirannte, so laut, dass ihm die Ohren klingelnden. „Das Ministerium leitet erste Schritte gegen den im Norden drohenden Krieg...“
Es war ihm egal, was die Reichen taten. Egal, ob ein Krieg drohte.
Mit großen Schritten rannte der Fünfzehnjährige weiter, er steuerte auf eine kleine Schmiede am Ende der schmutzigen Straße zu.
„Rith!“, schrie er. „Rith! Heute werde ich es tun!“
Yai´ros Freund, der Schmiedelehrling, drehte sich träge, wie er war, zu ihm um.
Er war gleich groß wie Yai`ro, doch um einiges kräftiger. Und er war ein Hull. In Manta war das nichts besonderes, denn hier vermischten sich alle Völker Koriens. Manchmal gab es hier Leute, die behaupteten, von zehn oder mehr verschiedenen Rassen abzustammen!
„Yai, schrei doch hier nicht so laut rum!“
Rith hielt in seiner rußgeschwärzten rechten Pranke immer noch seinen riesigen Schmiedehammer. Seine braungrüne, ledrige Haut unterschied sich vom Farbton her nicht wesentlich von seiner Kleidung – die gleiche Kleidung, die alle armen Leute trugen. Rith´s gelbe, kluge Augen stachen aus seinem laschen, aber keineswegs hässlichen Gesicht hervor. Wenn Yai´ro nicht gewusst hätte, wie gutmütig Rith war, hätte er es sicher mit der Angst zu tun bekommen.
„Du willst doch nicht wirklich in diese...“
„O doch! Und du kannst mich nicht aufhalten! Hör mal, du weist doch, wie gut ich kämpfe...“
Doch so leicht lies sich der etwas langsame, aber starrköpfige Rith nicht unterbrechen. Er lehnte sich gegen die steinerne Mauer der Schmiede und setzte zu einer längeren Rede an.
„Du kannst vielleicht gut gegen Kinder kämpfen, aber nicht gegen die Barbaren in dieser Arena! Yai, versteh es doch, dort herrschen andere Bedingungen als auf dem Kinderspielplatz, wo du kämpfen gelernt hast, denn vielleicht kannst du besser mit einem Schwert umgehen als jeder andere Fünfzehnjährige, vielleicht sogar besser als so mancher Soldat. Aber in dieser Arena wirst du abgeschlachtet! Und denk mal daran, was deine Mutter sagen würde, wenn du stirbst! Glaubst du, die würde sich dann freuen, weil ihr Sohn wegen ein paar lächerlichen Goldstücken draufgegangen ist?“
„Nein, aber ich muss es versuchen!“
„Nichts da! Dort darfst du nicht mal während eines Kampfes aufgeben! Das geht auf Leben und Tod, bis einer abkratzt, damit sich die reichen Pimpfe freuen...“
Er stieß einige Flüche gegen die reichere Bevölkerung Mantas aus.
Yai´ro machte sich inzwischen ernste Sorgen. Hulls waren normalerweise die Ruhe in Person, doch wenn sie sich aufregten, konnte das für Stunden andauern. Und Rith war gerade ganz nah dran, sich aufzuregen.
„Rith! Was tust du so lange? Komm rein!“
Das war der Schmied. Erleichterung schoss durch Yai´ros Körper.
Vielleicht war der Schmied, Riths Meister, der einzige, der den Hull besänftigen konnte, denn Rith hatte gewaltigen Respekt vor ihm.
„Ich komme, Meister!“
Er warf Yai´ro einen traurigen Blick zu.
„Bitte, lass den Unsinn!“
Er wusste genau, dass er damit nichts mehr erreichen konnte. Wenn Yai´ro so begeistert von einer Sache war, konnte ihn keiner mehr stoppen.
Eine Weile lang sahen sich die beiden nur an, beide kämpften mit ihren Erwartungen und Schuldgefühlen. Dann, als der Schmied bereits ein zweites Mal gerufen hatte, flüsterte Yai´ro:
„Versprich mir nur, dass du zusehen kommst. Ich brauche eine moralische Unterstützung.“
Rith nickte.
„Ich will nur nicht, dass du wegen so was stirbst. Das wäre total unnötig.“
Langsam drehte der Schmiedelehrling sich um und versuchte sich durch die viel zu enge Tür der Schmiede zu zwängen.
Bei diesem Anblick musste Yai´ro lächeln.
„Und noch was, Rith! Du erzählst doch niemandem davon, oder?“

2. Szene: Paryn

Die aus Lehm und Müll gebauten Baracken sahen so aus, als würden sie bei einem kräftigen Wind weggeweht werden. Die leere, aus mehr oder weniger festgetretenen Schlamm bestehende Straße war unbewohnt, bis auf einen halbverhungerten Bettler, der, zur Hälfte vergraben unter einem riesigen Müllhaufen, schlief. Der einzige Lärm kam von dem nah gelegenen Marktplatz, falls man die kleine Ansammlung von Marktständen, die allesamt vergammelte, schmutzige oder kaputte Waren anboten, so nennen konnte. Abgesehen davon war es totenstill.
Oder?
Er begann, unruhig zu werden. Sie sollte schon längst hier sein! Oder war das ganze nur eine Lüge? Er wusste nicht, was er glauben sollte. Nach zweitausend Jahren der Verzweiflung...
Vielleicht lebte sie gar nicht mehr. Ja, wahrscheinlich war das so. Warum war er dann überhaupt hier, wenn sie sowieso nicht kommen würde? Aber der Bote hatte doch gesagt, dass...
Kracks.
Blitzschnell fuhr der hochgewachsene Mann herum und zog während der Bewegung einen scharfen Säbel unter seinem langen, weißen Gewand hervor.
Es war nur der Bettler gewesen, der sich im Schlaf umgedreht und dabei einen metallenen Kanister umgestoßen hatte. Anscheinend war der Behälter schon etwas älter gewesen, denn er war prompt entzweigebrochen.
Schwitzend richtete sich der Krieger auf und rückte seinen, ebenso wie seine Kleidung, weißen Turban zurecht. Er war doch sonst nie so ängstlich...
Wahrscheinlich war ihm nur heiß. Während er die dunkelblauen Bänder, die er an Armen und Beinen trug, lockerte, spürte er auf ein mal ein Frösteln, das von seinem Nacken auf seinen Rücken lief. Dann schien es plötzlich von ihm abzufallen, als hinter ihm eine leise Stimme zu sprechen begann. Als Ausgleich dafür wurde ihm so heiß, als würde er in einem gewaltigen Ofen verbrennen.
„Ich habe dich erwartet... Paryn!“
Langsam drehte sich Paryn um. Er sah eine Gestalt, gekleidet in einen langen, schwarzen Umhang. Obwohl man ihr Gesicht nicht sehen konnte, strahlte von ihr eine beinah majestätische Aura aus. In der linken, vom Umhang völlig bedeckten Hand hielt die Magierin einen dünnen, weißen Stab.
Ein Bild flammt in Paryns Kopf auf...
Ein düsterer Himmel. Regen prasselte hernieder. Der Sturm heulte so laut, dass er die Schreie der Leute um ihn kaum noch hörte. Gebäude stürzten ein, Leute starben. Durch den Regen hindurch sah er die Magierin, wie sie, etwas strahlend rotes in der Hand, in der Mitte Chyranas stand. Um sie herum loderte ein blaues Feuer gen Himmel. Niemand konnte es durchbrechen.
Er versuchte, das Bild loszuwerden. Dies war vielleicht die einzige Chance, Rhun von dem Fluch zu befreien! Vergeblich bemühte er sich, ruhig zu klingen, als er endlich zu sprechen begann:
„Ich... ich bin auf der Suche nach dem Auserwählten!“
Er wartete darauf, dass sie irgendetwas erwiderte, doch als keine Antwort kam, sprach er weiter.
„Euer Bote – es war doch euer Bote? Er hat mir gesagt, dass ihr mich sehen wollt, und dass ihr wisst, wo sich der Auserwählte aufhält?“
Es war mehr eine Frage als eine Feststellung.
„Denkst du, dass ihr euch verändert habt?“
Ihre Worte trafen ihn tief. Die überlebenden Rhuner hatten zweitausend Jahre in Armut gelebt. Es hatte Seuchen gegeben, Hungersnöte... Keiner von ihnen dachte mehr daran, Krieg zu führen. Es war der größte Traum jedes Einzelnen von ihnen, endlich wieder frei zu sein!
Er musste wieder an damals denken...
„Falls ihr euch jemals ändern solltet, gibt es eine Möglichkeit, den Fluch zu brechen. Ein Auserwählter wird geboren werden, wenn es soweit ist. Er wird euch in die Freiheit führen!“
Die Rhuner hatten sich wieder vereinigt. Es war soweit, das wusste er!
Die Magierin hatte damit begonnen, langsam auf ihn zuzugehen. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie einfach es für sie wäre, ihn jetzt zu töten...
Sie stieß ein Lachen aus, das wohl herzhaft klingen sollte, aber für ihn klang es einfach nur kalt. Nein, korrigierte er sich, es klang tonlos.
„Keine Angst, Paryn. Ich töte keine unschuldigen Leute“
Wieder legte sich das Bild vor seine Augen...
Neben dem blauen Feuer, dass die Magierin umhüllte, wuchs plötzlich ein rotes heran. Paryn versuchte, näher heranzukommen, doch der Wind machte es ihm schwer. Inmitten der roten Flammen stand der Anführer der Rhuner. Er kämpfte ein magisches Duell mit der Frau!
Blitze zuckten vom Himmel. Anfangs schienen die Gegner gleich stark, doch nach einer Weile gewann die Magierin deutlich die Oberhand. Der Anführer begann zu wanken. Sein Schutzschild lies nur einen Moment lang nach. Das war zu lang.
Paryn stolperte über die Trümmer eines Gebäudes. Er wollte nur noch fort, bevor die Magierin ihn entdeckte! Als es sich aufrappelte, sah er neben sich die Leiche eines Kindes, völlig entstellt und zerrissen. Vom Blitz getroffen.
Ich töte keine unschuldigen Leute...
„Wenn du deinen Auserwählten finden willst, wird dir meine Gehilfin den Weg zeigen!“
Die Worte der Magierin brachten ihn wieder in die Gegenwart zurück.
„Selena weiß, wo er sich aufhält“
Als er sich nach dieser Selena umsehen wollte, bemerkte er eine kleine, schwarze Katze, die um die Beine der Magierin strich. Sie hatte silbrig glänzende Augen, aus denen eine Intelligenz sprach, die Paryn erklärte, warum das Tier die Gehilfin der Magierin war.
„Du wirst den Auserwählten sofort erkennen, an... gewissen Merkmalen“
Ihr Blick huschte zu einer feuerroten Haarsträne, die unter Paryns Turban hervorkam.
Dieser bemerkte das und strich die Haare hastig zurück unter seine Kopfbedeckung.
„Und... du solltest gut Acht geben, denn das Schicksal Rhuns hängt von diesem Jungen ab!!!“
Ohne die Wirkung ihrer Worte abzuwarten, drehte sich die Magierin um und verschwand hinter einem Müllberg.
Zuerst wollte Paryn sie zurückrufen, doch dann besann er sich und wendete sich Selena zu.
„Du...“, begann er, doch es kam ihm etwas lächerlich vor, sich mit einer Katze zu unterhalten.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, stieß Selena, ein beleidigtes „Miiiaaaooo!“ aus und blickte böse drein.
Also gut, dachte sich Paryn.
„Na los, Selena, bring mich zu dem Auserwählten!“
Und schon setzte sich die Katze in Bewegung und lief auf eine belebtere Straße zu.
„He! Warte!“, brüllte Paryn, während er keuchend versuchte, sie einzuholen.
Eine intelligente Katze... „Naja, man lernt immer wieder mal was neues!“, dachte er und grinste.

3. Szene: Die Arena

Yai´ro betrat die ärmliche, aber für die dortigen Verhältnisse überraschend saubere Wohnung. Er musste sich ducken, damit er mit dem Kopf nicht an die Decke stieß, und das Wasser musste von einem Brunnen geholt werden, und doch zählte die aus nur einem Zimmer bestehende Behausung zu den besten des Armenviertels.
„Mum! Ich bin wieder da!“
Yai´ro konnte seiner Mutter nicht in die Augen sehen, als sie ihn begrüßte. Hoffentlich las sie nicht von seinem Gesicht ab, dass er ihr etwas verheimlichte!
„Yai, hast du Sorgen? Du schaust so komisch!“
Er war einfach ein zu schlechter Lügner. Was sollte er ihr jetzt erzählen? Am Besten etwas, dass der Wahrheit nahe kam, damit die Lage nicht noch komplizierter wurde.
„Weißt du, ich mach mir Sorgen um Rith!“
Jetzt, wo Yai´ro sich seine Geschichte zurechtgelegt hatte, begann er, schneller zu sprechen.
„Er hat nämlich vor, heute Abend in der Arena zu kämpfen. Ich wollte dich noch fragen, ob ich zusehen darf!“
„Oje! Aber, natürlich darfst du. Das bisschen Geld für den Eintritt werden wir schon noch zusammenkratzen...“
Er hätte nicht erwartet, dass sie ihm diese Lüge abnehmen würde.
Yai´ros Mutter war eine relativ junge, kluge Frau mit langem, schwarzen Haar, welches sie immer offen trug (Yai´ro hatte seine rote Haarfarbe angeblich von seinem Vater geerbt). Sie trug die selbe, braune Kleidung wie Yai´ro, aber obwohl das ärmliche Gewand nicht gerade feminin betont war, schaffte sie es, damit hübsch auszusehen.
„Der arme Rith! Das wird er nicht überleben. Dabei hat er doch selbst immer gesagt, diese Arena sei eine tödliche Falle! Aber setz dich erst mal, Yai, und iss etwas Suppe...“
Während Yai´ros Mutter weiter um Rith klagte, löffelte dieser seine Fleischsuppe, eine Speise, die sie höchstens einmal in der Woche bekamen, weil sie so teuer war.
Aber das alles war kein wirklicher Wohlstand! Gut, sie verhungerten nicht und hatten auch ein Dach über dem Kopf, aber Yai´ro hatte andere Pläne.
Er wollte etwas lernen, er wollte reisen, er wollte die Welt um ihn herum verstehen, nicht nur dem täglichen Kampf ums Überleben ausgesetzt sein! Und deshalb musste er in diese Arena. Deshalb musste er seine Mutter anlügen. Deshalb musste er etwas riskieren. Für eine bessere Zukunft!
Und während seine Mutter in der anderen Ecke des Zimmers putzte, schwor sich Yai´ro, ihrer Armut ein Ede zu machen.

Paryn war schon minutenlang hinter Selena hergelaufen, als die Katze endlich stehen blieb. Sie hatten einen riesigen Platz am Rand des Armenviertels erreicht. In der Mitte dieses Platzes befand sich ein ebenso riesiges Gebäude - das erste nicht zerfallene Bauwerk, dass er sah, seit er sich in Manta aufhielt. Anscheinend wurde es von einer reicheren Bevölkerungsschicht instandgehalten. Über dem Eingang des Gebäudes – ein gewaltiges Tor, durch das mindestens sieben Männer nebeneinander gepasst hätten – stand in großen, gut sichtbaren Buchstaben an die Wand gemalt:

ARENA
Erbaut im Auftrag von Senator Fadson im Jahr 3651


Anscheinend sollte er hier auf den Auserwählten warten, denn Selena, die ihm bisher nur zugesehen hatte, nickte nun und lief davon.
Paryn ließ sich neben dem Eingang nieder, wobei er seinen Säbel gut unter seinem Gewand versteckte. Er versuchte, gelassen auszusehen, obwohl das relativ egal war, denn überall auf dem Platz lagen stöhnende und sich krümmende Bettler, neben denen er gewiss nicht auffallen würde. Trotzdem versuchte er, seine Aufregung zu verstecken, was gar nicht einmal so einfach war.
Wie würde der Junge aussehen, was würde er tun?
Wie sollte Paryn ihm begegnen? Wahrscheinlich würde es das Beste sein, einfach abzuwarten, was geschah. Ja, die einfachste Lösung war manchmal die Beste.
Trotzdem gelang es ihm nicht, sich vollkommen zu beruhigen. Um sich abzulenken, begann er, seine Umgebung aufmerksam zu beobachten.
Er würde seine Aufgabe erfüllen.

Als Yai´ro den gewaltigen Platz, in dessen Mitte sich die Arena befand, betrat, wurde es ihm doch etwas flau im Magen. Er hatte nicht etwa Angst vor dem kommenden Kampf, vielmehr waren es Schuldgefühle seiner Mutter gegenüber, die ihn plagten.
Seit dem Mittag hatte er versucht, ihr aus dem Weg zu gehen. Zum Glück war ihr sein sonderbares Verhalten nicht aufgefallen, oder sie hatte einfach gedacht, er sei nur besorgt wegen Rith. Sie hatte gesagt, dass sie mitgekommen wäre, weil Rith ja keine Eltern habe, aber es ginge nicht, weil sie ja leider wieder arbeiten müsse. Yai´ros Mutter musste den ganzen Tag, abgesehn von einer kurzen Mittagspause, in einer Fabrik arbeiten, damit sie ein bisschen Geld verdiente.
Unwillkürlich musste Yai´ro wieder an die Lüge denken, die er ihr erzählt hatte. Hoffentlich würde Rith das verstehen!
Rith... wo war er eigentlich?
Yai´ro sah sich um. Der Platz war trotz seiner enormen Größe überfüllt von verschiedensten Leuten. Reiche, die sich Eintrittskarten für die Arena leisten konnten, arme Bettler, die gnadenlos abgewiesen wurden, schreiende Marktverkäufer, die hofften, möglichst viel verkaufen zu können, Soldaten, die vor Streitereien schützen sollten, und Krieger, die sich auf die kommenden Arena-Kämpfe vorbereiteten. Alles in allem bedeutete das wenig Platz zum Stehen und viel Lärm.
Yai´ro gab die Hoffnung auf, Rith hier zu entdecken, aber er war sich trotzdem sicher, dass dieser sein Versprechen halten würde. Es war einfach nicht Riths Art, Versprechen zu brechen.
Während Yai´ro auf den Einzug in die Arena wartete, sah er sich nach Arena-Kämpfern um, denn er wollte auf alles, was ihn erwarten konnte, vorbereitet sein. Soviel er wusste, kamen oft sogar aus weit entfernten Teilen Koriens Krieger nach Manta, nur um in der Arena zu kämpfen.
Unweit von sich bemerkte er ein dürres, hochgewachsenes Wesen, dessen Geschlecht er nicht feststellen konnte. Es trug hauptsächlich schwarze Kleidung, hatte blaugrüne Haut, einen Insektenkopf mit riesigen Augen und vier Arme. Um es herum standen einige weitere Kreaturen von derselben Rasse, die sich in einer seltsamen Sprache unterhielten.
Ein Stück weiter schlurfte ein zweienthalb Meter großer Troll durch die Menge. Hier muss gesagt sein, dass Trolle zwar groß und brutal, keineswegs aber dumm waren. Yai´ro überkam die Vorstellung, gegen den Riesen kämpfen zu müssen, und es lief ihm kalt den Rücken herunter. Rasch verdrängte er den Gedanken.
Noch bevor er nach weiteren Kämpfern suchen konnte, hallte eine laute Stimme über den Platz, die es schaffte, die Menge zu übertönen.
„Achtung, Achtung! Bitte treten Sie vom Haupttor zurück! Bitte nur die Arena-Kämpfer zum
Haupttor. Ich wiederhole...“
Es war so weit! Eine Kolonne von Soldaten marschierte durch die Menge und drängte die beim Haupttor Stehenden zurück. Hinter ihnen kam auf einem Tenna kam ein Offizier angeritten und sagte mit einem Sprechrohr Meldungen an die Menge durch. Tennas waren pferdeähnliche Reittiere mit sandfarbenem Fell, die hohe Temperaturen ertrugen.
Yai´ro und einige andere Kämpfer traten aus der Menge hervor zu den Soldaten. Das Insektenwesen und der Troll, die Yai´ro zuvor beobachtet hatte, waren unter ihnen. Als sich schließlich alle Kämpfer versammelt hatten, begann der Einzug in die Arena.
Während Yai´ro inmitten der Krieger und Soldaten auf ein Seitentor der Arena zuging, bemerkte er einen Mann, der etwas abseits an die Mauer der Arena gelehnt saß. Er trug lange, weiße Kleidung und einen ebenso weißen Turban. Um seine Hand- und Fußgelenke hatte er dunkelblaue Bänder gebunden - Yai´ro war sich nicht mehr sicher, aber er glaubte einmal gehört zu haben, dass das bei irgendeinem Volk ein Zeichen der Krieger war.
Letztendlich wusste er nicht, warum ihm dieser Mann sofort aufgefallen war. Vielleicht wegen seiner beinah übernatürlichen Ruhe, mit der er in der lärmenden und tobenden Menge saß.
Aber momentan gab es wichtigere Dinge zu tun als irgendwelche Leute anzugaffen! Yai´ro konzentrierte sich auf den kommenden Kampf und hatte den fremden Mann beinah sofort vergessen.

Paryns Blick folgten dem Jungen mit dem feuerroten Haar, als dieser in der Arena verschwand. Das war er also... der Auserwählte!

4. Szene: Der Kampf

Die Arena war ein riesiges, rundes Gebäude. Sie hatte kein Dach, dafür waren Tribünen eingerichtet, ebenso rund wie die Grundform des Bauwerks und nach Innen abfallend, zu dem mit Sand bedeckten Kampfplatz hin.
Durch das Haupttor konnten die Zuseher ohne Umwege zu den Tribünen gelangen, die zahlreichen Nebentore hingegen waren nur für die „Unterhalter“ und Wächter gedacht, die so die Gänge und Räume im Inneren des Gebäudes betreten konnten.

Die Kämpfer waren in zwei Gruppen geteilt worden , diese sollten den Kampfplatz aus verschiedenen Richtungen betreten. Danach waren sie unter strenger Bewachung im Gänsemarsch durch die hellen, aber alles andere als sauberen Gänge marschiert, um einen rechteckigen Raum zu erreichen, in dem ihnen Waffen zugeteilt wurden. Nur noch eine stählerne Gittertür trennte sie von der eigentlichen Arena.
Schwitzend betrachtete Yai´ro seine Waffen. Seine Augen brannten, und das nicht nur wegen der enormen Hitze. Der junge Mann trug ein selbstgefertigtes Trainingsgewand aus lockerem, aber gut schützendem Leder. Sein langes, rotes Haar hatte er zu einem Zopf zusammengebunden.
Als die Kämpferin vor ihm, es schien sich um eine Amazone zu handeln, durch die Tür trat, war Yai´ro der Erste in der Reihe. Er würde als Nächster kämpfen.
Das schartige Schwert in seiner Hand fühlte sich schwer an, ebenso die kleine Axt in seinem Gürtel. Er hatte Angst, umso mehr durch die begeisterten Schreie des Publikums und das klirren der Waffen, aber trotzdem zweifelte er keinen Moment an seiner Entscheidung, hier zu kämpfen. Und irgendwo dort draußen wartete Rith...
Ein lauter Schrei war zu hören. Ein zweiter, längerer, der plötzlich erstarb. Dafür tobte das Publikum los, lauter als je zuvor. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, aber er war bereit.
Vor ihm öffnete sich die Gittertür und eine Wache schob ihn ins Freie.

Die tausenden Zuseher, der enorme Lärm, der Geruch von Blut und Tod, der über dem Kampfplatz hing; all das stürzte mit voller Wucht auf Yai´ro ein, als das Gitter hinter ihm einrastete. Er war so überwältigt von den verschiedenen Eindrücken, die ihm die Arena lieferte, dass er anfangs überhaupt nicht auf seinen Gegner achtete, welcher aus einer Gittertür an der gegenüberliegenden Seite der Arena getreten war.
Als Yai´ro ihn bemerkte, fühlte er sich ziemlich hart in die Realität zurückgeholt. Aber das hatte etwas Gutes, denn der Lärm, die Hitze und alles andere drangen zwar immer noch auf ihn ein, aber mit halber Stärke, so dass er sich auf den kommenden Kampf konzentrieren konnte.
Sein Gegner war das grünhäutige Insektenwesen, das noch furchterregender aussah als zuvor. In jeder seiner vier Hände hielt es einen langen Dolch, und nach dem blutdurstigen Glitzern in seinen Facettenaugen zu urteilen hätte es die Klingen seiner Waffen nur zu gerne sofort in Yai´ros Fleisch versenkt.
Dieser ging lächelnd auf seinen Gegner zu. Dazu würde es noch Gelegenheit genug geben.
Als er beinahe in der Mitte der Arena angekommen war, zog er sein Schwert. Er blieb stehen. In seinem Kopf herrschte vollkommene Stille, zurück blieb nur Konzentration und der Wunsch, zu siegen. Es gab keine Arena, keine Zuseher. Nur ihn, sein Schwert und seinen Gegner.
Ein Posaunenton signalisierte den Beginn des Kampfes.

Ein paar Sekunden lang herrschte eine angespannte Stille. Die Kontrahenten warteten beide darauf, dass der andere den Kampf eröffnen würde.
Plötzlich rannte das Insektenwesen los. Es legte die wenigen Meter zwischen ihm und Yai´ro mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit zurück und schlug mit einem seiner Dolche scheinbar spielerisch zu. Yai´ro parierte mit derselben Geschwindigkeit, doch die Attacke war noch längst nicht vorbei.
Als ob der bisherige Angriff nur eine Finte gewesen wäre, sprang das Insekt ansatzlos in die Luft, schlug mehrere Saltos über Yai´ros Kopf und lies, noch bevor es hinter ihm aufkam, zwei seiner Säbel auf ihn zurasen.
Doch es hatte seinen Gegner eindeutig unterschätzt. Yai´ro sprang zu Seite, wodurch er einem der Messer entging, das zweite blockte er mit seiner Axt ab.
In diesem Moment kam das Insekt auf dem Boden auf, und war damit für einen Augenblick wehrlos. Instinktiv nutzte Yai´ro das aus.
Die Dolche, die herbeischnellten, um seinen Schlag zu parieren, kamen zu spät. Das Insekt drehte sich reflexartig zur Seite, und das war sein Glück, denn das Schwert, welches nun in seiner Schulter steckte, hätte sein Herz getroffen.
Yai´ro zog seine Waffe aus dem Körper seines Gegners und sprang einen Meter zurück. Er wollte für weitere Angriffe gewappnet sein.
Doch das Insekt war mit einer unglaublichen Geschwindigkeit wieder auf den Beinen. Es sprang Yai´ro nach, als ob es vollkommen unverletzt wäre, und lies einen Hagel von Schlägen auf ihn niederprasseln. Es wartete nicht, ob Yai´ro einen Hieb parierte, sondern schlug sofort mit dem nächsten Dolch zu. Es schien auf seine Geschwindigkeit zu setzen, und darauf, dass Yai´ro irgendwann nicht mehr alle Hiebe parieren konnte.
Und damit hatte es vollkommen recht.
Yai´ro blieb keine Zeit mehr für Angriffe, denn obwohl sein Gegner den verletzten Arm kaum benutzte, musste er all sein Können einsetzen, um die zahlreichen Schläge zu parieren.
Er hatte vollkommen das Zeitgefühl verloren. Seine Welt bestand nur mehr aus Schlägen, Finten und Ausfällen. Er wurde immer erschöpfter, konnte sich nicht mehr konzentrieren. Knapp duckte er sich unter einem herabsausenden Messer hindurch, stieß sein Schwert nach vorne, und musste bemerken, dass sein Gegner längst hinter ihm war.
Er musste sich etwas einfallen lassen, sonst würde er nicht mehr lange durchhalten!
Noch bevor das Insekt wieder zuschlagen konnte, sprang er zur Seite, drehte sich in der Luft und warf seine Axt. Das Insektenwesen, welches ihm wie erwartet gefolgt war, wurde zwar nicht getroffen, doch es war für einige Augenblicke damit beschäftigt, dem Wurfgeschoss auszuweichen, wodurch es sich eine Blöße bot.
Als Yai´ro am Boden aufkam, zögerte er keinen Moment, sondern stieß sich wieder ab, in die Richtung des Insekts, und trat es mit voller Wucht auf die Brust. Das kam so unerwartet, dass das Insekt mehrere Meter zurückgeschleudert wurde und zusätzlich zwei seiner Dolche verlor.
Yai´ro, der ebenfalls, nur etwas weniger heftig, am Boden gelandet war, rappelte sich sofort wieder auf. Sein Gegner lag sich krümmend und nach Luft japsend am Boden, er schien für den Moment kampfunfähig zu sein.
„Das ist ein Kampf auf Leben und Tod!“, dachte Yai´ro, bevor er ihm sein Schwert in die Brust rammte.
Doch als ob das Insekt ihm sagen wollte: „Ja, genau so ist es!“, rollte es im letzten Moment zur Seite.
Entweder war die Atemnot vorüber, oder es hatte sie nur vorgespielt, jedenfalls schnellte es in die Luft und kam auf Yai´ro zu, die Spitzen der zwei übrigen Säbel bedrohlich auf ihn gerichtet.
Yai´ro, dessen Schwert tief im Sand steckte, hatte keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Doch kurz, bevor das Insekt ihn erreichte, warf sich jemand zwischen sie beiden, stieß ihn beiseite und wurde selbst von den Säbeln getroffen.
Obwohl es schwer verletzt war, richtete sich das breitschultrige Wesen wieder auf. Seine gelben Augen blitzten vor Wut.
„Rith!“
Yai´ro hatte noch nicht verstanden, was eigentlich geschehen war.
Von überall her tönten Buhrufe. Wachen strömten aus den Seitentoren, denn das Eingreifen eines Zusehers in den Kampf war strengstens verboten!
Doch das Insektenwesen, das sich um seinen Sieg betrogen fühlte, war damit nicht zufrieden. Vor Wutschnaubend ließ es den taumelnden Rith hinter sich und rannte auf Yai´ro zu.
Dieser hatte sein Schwert schon wieder in der Hand und machte sich zur Verteidigung bereit, doch es war nicht nötig.
Als das Insekt die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, sprang ein in weiß gekleideter Mann von der Tribüne und zog im Sprung einen Säbel unter seinem langen Gewand hervor. Genau im richtigen Moment kam er neben dem Insekt auf und schlug zu. Blut spritzte, als der Hals des Wesens durchtrennte und der Kopf abgeschlagen wurde. Auf dem Gesicht des Insekts blieb nur ein überraschter Ausdruck zurück.
Yai´ro hatte keine Ahnung, wer der Mann war, aber er wusste, dass er ein Problem weniger hatte, und so rannte er zu Rith.
Einen Moment lang sahen sie sich nur in die Augen, inmitten all des Lärms und des Todes, inmitten der näherkommenden Wachen.
In einer anderen Situation hätte Rith seinen Freund angeschrien, ihm erzählt, was für ein Idiot er war, doch er sagte bloß: „Mach, das du wegkommst!“
Yai´ros Augen brannten, doch er wusste, dass sein Freund rechthatte. Rith konnte seine Verletzungen nicht überleben.
Tränen rannen ihm über die Wangen und vermischten sich mit Blut, als er Rith umarmte.
„Danke“, sagte er. „Danke für alles!“
Eine starke Hand fasste ihn an der Schulter.
„Junge, wenn du hier noch lebend rauskommen willst, solltest du dich lieber beeilen!“
Yai´ro sah den Mann, der den blutigen Säbel noch in der Hand hielt, an. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er ihn schon vor der Arena gesehen hatte.
„Okay!“
„Ich decke euch den Rücken!“, rief Rith und rannte los.
Wenn ein Hull wütend ist, sollte man sich nicht mit ihm anlegen.
Die erste Wache wurde einfach niedergerannt, der zweiten entriss er die Lanze und spießte sie damit auf. Mit einem leichten Schwung der Waffe schleuderte er einem Soldaten mehrere Meter weit zurück, ein anderer bekam das stumpfe Ende der Waffe so stark in den Bauch gerammt, dass es am Rücken wieder hervorkam.
Mehr sah Yai´ro nicht mehr, weil er schon beim Haupttor, das praktischerweise offen war, angelangt war.
Hinter dem fremden Krieger rannte er durch die abendlichen Straßen Mantas. Nur wenige Leute waren zu sehen, diese aber achteten kaum auf die zwei Männer.
„Warum läufst du so schnell?“, rief Yai´ro dem Mann zu.
Dieser bedeutete ihm, leise zu sein, doch er lief auf eine unscheinbare Seitengasse zu und blieb dort stehen.
„Ist es dir noch nicht aufgefallen? Wir werden verfolgt!“
„Aber wer...“
„Still jetzt!“
Der Mann kauerte sich hinter einen Müllberg, Yai´ro tat es ihm gleich.
Nur wenige Sekunden später hörte er es auch:
Das aufgeregte Trappeln von Tennahufen. Gleich darauf ritt eine Gruppe von Leuten an der Gasse vorbei. Yai´ro erkannte sie Reitenden, sie waren von der selben Rasse wie sein Gegner in der Arena.
„Sie wollen ihren Freund rächen“, erklärte der Mann, als die Reiter etwas weiter weg waren. „Die Nuishi sind eine sehr stolze Rasse!“
Yai´ro sah ihn an. „Wie heißt du?“ Es wäre ihm albern vorgekommen, den Mann nach den vergangenen Ereignissen nicht zu duzen.
Der Mann lächelte. „Ich bin Paryn!“
Paryn... der Name kam ihm so bekannt vor!
Plötzlich wurden sie von einem lauten „Miaoo!“ unterbrochen.
In der Mitte der Gasse stand eine kleine, schwarze Katze, die die beiden Männer aus ihren silbrigen Augen musterte.
„Selena... sie will uns den Weg zeigen!“, sagte Paryn und klang dabei verstört. „Wir sollten ihr folgen!“
„Aber wohin gehen wir?“, fragte Yai´ro. „Ich will zurück zu meiner Mutter!“
Paryn beugte sich zu ihm herunter.
„Wenn du in dieser Stadt bleibst, bist du innerhalb von ein paar Tagen tot!“
Er sah Yai´ro abschätzend an. „Außerdem habe ich eine Mission. Und die lautet, dich nach Rhun zu bringen“
„Rhun? Was ist das?
Paryns Gesichtsausdruck änderte sich, einen Moment lang sah er durchaus weich und verletzlich aus, als er fragte:
„Was weißt du über deinen Vater?“
„Gar nichts, er starb, als ich noch ein Kind war!“, antwortete Yai´ro rasch, und wunderte sich darüber, dass bei diesen Worten sein Herz unangenehm schneller zu schlagen begann.
„Dann will ich dir etwas verraten, Yai´ro. Ich bin dein Onkel!“

5. Szene: Die Legende

Die Morgensonne beschien ein Hügelland, bestehend aus Höhen und Tiefen, Wäldern und Seen. Die Temperatur war erträglicher als in Manta, wodurch das Wachstum einer Vielfalt von Pflanzenarten möglich war. Alles wirkte idyllisch,
aber – verlassen.
„Vor ein paar Jahren war diese Gegend hier beinahe überbevölkert“, bemerkte Paryn. „Aber in letzter Zeit sind die Leute von hier geflohen, hauptsächlich nach Manta oder in die ‚Festung der Verbannten’. Deshalb wachsen dort auch die Armenviertel und Slums so stark“
Die beiden hatten die Nacht in einem verlassenen Schuppen in einem Außenbezirk Mantas verbracht. Früh am Morgen waren sie unter der Führung Selenas aufgebrochen. Anscheinend hatten die Nuishi ihre Spur wieder aufgenommen, und die Rhuner wollten keine offene Auseinandersetzung riskieren.
„Warum sind sie alle geflohen?“, fragte Yai´ro.
Einen Moment lang blieb Paryn stumm, während er weiter den Hügel hinaufging. Mehrere Meter vor den beiden hopste Selena durch die Gegend, als ob der Weg überhaupt nicht anstrengend wäre.
Schließlich antwortete er leise: „Weil sie Angst vor dem Krieg haben!“
Yai´ro erinnerte sich an die Worte eines Zeitungsverkäufers: „Das Ministerium leitet erste Schritte gegen den im Norden drohenden Krieg ein...“
Erschöpft blieb Paryn stehen und sah sich um.
Die Nuishi sind nicht dumm“, sagte er und sah Yai´ro an. „Sie wollen uns nach Norden treiben, in das Kriegsgebiet. Entweder geraten wir dort zwischen die Fronten, oder wir kehren um und laufen ihnen in die Arme!“
Der Mann betrachtete abschätzend das letzte Stück des Aufstiegs, bevor er sich wieder in Bewegung setzte.
„Und was werden wir tun?“, fragte Yai´ro, doch er bekam keine Antwort. Sein Onkel hatte soeben die Hügelkuppe erreicht und war wie vom Blitz getroffen stehen geblieben. Als Yai´ro die letzten paar Meter auch zurückgelegt hatte, wusste er, warum.
Anstatt dass auf die eben erklommene Hügelkette ein Tal oder eine weitere folgte, klaffte dort ein gewaltiger Krater. Gesteinsbrocken waren durch die Gegend geschleudert und Erdrutsche ausgelöst worden, soviel man erkennen konnte, war sogar ein halber Wald zerstört worden. Überhaupt sah man nirgends mehridyllisches Grün, am Rand des Kraters waren bloß einige umgeknickte Baumstämme und gelbes, verwelktes Gras zu sehen. Dahinter erstreckte sich eine weitere Hügelkette, die vielleicht noch größere Verwüstung barg.
„Anscheinend hat der Krieg schon begonnen“, beantwortete Paryn Yai´ros unausgesprochene Frage.
Selena, die die Ganze Zeit über auf der Hügelkuppe gewartet hatte, tat mit einem lauten „Miaoo!“ ihre Meinung kund.
Paryn seufzte. „Vielleicht ist es besser, wenn wir hier erst einmal Rast machen. Dann können wir auch entscheiden, was zu tun ist“
Yai´ro konnte ihm, angesichts der Situation, nur zustimmen. Während sich die beiden Rhuner niederließen und von ihren, wie Yai´ro schändlicherweise zugeben musste, gestohlenen Vorräten aßen, döste Selena in der Sonne.
Dem jungen Mann schwirrten hunderte Fragen im Kopf herum, doch eine drängte sich immer mehr in den Vordergrund.
„Paryn... ich weiß nichts über Rhun. Warum sollst du mich dort hinbringen?“
Einen Moment lang zögerte Paryn, doch dann erwiderte er:
„Es gibt viele verwirrende Ereignisse und Geschichten im Zusammenhang mit den Rhunern. Damit du das alles besser verstehst, will ich dir eine Legende erzählen...“
Er sah Yai´ro durchdringend an.
„Eine Legende, die in Korien längst vergessen ist. Die Legende von Rhuns Fluch!“
Bei diesen Worten sah Paryn seinem Neffen das erste Mal tief in die Augen. Als dieser schon beinahe platzte vor Spannung, begann er zu erzählen:
„Bevor die niederen Völker zu leben begannen, bevölkerten zwei Herrenrassen die Welt: Die Menschen und die Rhuner. Die Menschen lebten immer in Eintracht mit ihrer Umwelt, aber nicht so die Rhuner. Sie blieben nicht in ihrer südlichen Heimat, sondern kamen über das Meer nach Korien. Als sie dessen Küsten gleichzeitig mit der aufgehenden Sonne erreichten, wurden sie fürstlich empfangen. Alle Völker jubelten, alle – bis auf die Menschen. Als ob sie die Zukunft erahnt hätten, zogen sich diese zurück nach Faanland, ihrer nördlichen Heimat. Indessen wurde den Rhunern die Herrschaft über die südlichen Küsten Koriens gewährt, doch das war ihnen nicht genug. Sie begannen einen Krieg mit den niederen Völkern und metzelten diese nieder. Doch bevor sie den ganzen Kontinent besetzt hatten, geschah etwas Außergewöhnliches. Eine Magierin, in Schwarz gewandet, trat unter die Rhuner und verfluchte sie.
Die Macht der Rhuner wurde vollkommen zerstört, Seuchen und Hungersnöte suchten das Herrenvolk heim, Als Zeichen des Blutes, das sie vergossen hatten, färbten sich ihr Haar und der Sand der südlichen Küsten, wohin sie verdrängt wurden, rot. Die meisten von ihnen starben, die Überlebenden jedoch können die verfluchten Strände nicht mehr verlassen. Völlig machtlos leben sie in Armut und warten auf ihre Erlösung, denn die letzten Worte, die die Magierin, welche den Fluch aussprach, an das Volk der Rhuner richtete, waren:
„Falls ihr euch jemals ändern solltet, gibt es eine Möglichkeit, den Fluch zu brechen. Ein Auserwählter wird geboren werden, wenn es soweit ist. Er wird euch in die Freiheit führen!“ Und so endet die Legende, denn Rhun ist bis heute verflucht!“, schloss Paryn.
Yai´ro dachte über das eben Gehörte nach.
„Ich habe verstanden, was Rhun ist. Aber was habe ich damit zu tun?“
Paryn lächelte. „Dein Vater, also mein älterer Bruder, war der Auserwählte, der uns erlösen sollte. Aber er war im Krieg gegen Korien ein großer Feldherr, und er fühlte sich dermaßen schuldig an den begangenen Verbrechen, dass er kein Retter sein wollte. Deshalb verließ er Rhun -“
„Aber du hast doch gesagt, das Volk könne die Küsten nicht verlassen!“
Paryn lächelte abermals. „Der Auserwählte und seine Blutsverwandten anscheinend schon, sonst wären wir ja wohl nicht hier! Aber zurück zu deinem Vater. Er verließ uns und ging nach Manta, wo er deine Mutter kennen lernte. Ich weiß zwar nicht, wie er gestorben ist, aber ich bin mir sicher, dass du das selbe in dir trägst. Du bist der Auserwählte, Yai´ro“
In diesem Moment wurden sie durch einen lauten Knall unterbrochen, der aus dem Tal an der Südseite des Hügels tönte. Yai´ro sprang auf und sah die Nuishi, wie sie auf ihren Tennas reitend näherkamen. Der Knall ertönte abermals, etwas Gelbes blitzte in einem Gebüsch am Wegrand auf und einer von ihnen wurde vom Tenna geschleudert. Er blieb reglos liegen, in einer Lacke von Blut.
Ein Fluch entfuhr Paryns Lippen. Dan flüsterte er: „Die Nuishi wurden schon entdeckt. Keiner von ihnen wird überleben. Wir müssen enorm aufpassen,
damit wir -“
Bevor er ausgesprochen hatte, sprang ein in schwarzes, enganliegendes Gewand gehüllter Mann von einem der Bäume, die auf der Hügelkuppe wuchsen, und landete beinahe lautlos neben Paryn. Im nächsten Moment war er hinter diesem und presste ihm die scharfe Klinge eines Messers, das er aus irgendeiner Falte seiner Kleidung hervorgezaubert hatte, gegen den Hals. Die Augen des schlanken Mannes, die als einziges nicht verhüllt waren, funkelten kampflustig.
Yai´ro konnte gerade noch denken: „Es ist zu spät!“, bevor auch er etwas Kaltes in der Nähe seiner Schlagader fühlte...

2. Kapitel: Krieg


1. Szene: Grenzpatrouille


Sergeant Matthew erhielt einen Funkspruch. Er bedeutete dem Fahrer seines Jeeps anzuhalten, damit er einen besseren Empfang hatte, und aktivierte den minimierten Empfänger, der in seine Hand implantiert worden war.
„Hier Sergeant Matthew von der Grenzpatrouille. Empfang gut, keinerlei Schwierigkeiten“, leierte er die formelle Begrüßung herunter.
„Sergeant, hier spricht die Zentrale. Wir haben einige unidentifizierte Eindringlinge in ihrem Gebiet! Sie müssen entfernt werden. Der genaue Aufenthaltsort ist...“
Der Funker gab die genauen Koordinaten durch, bevor er das Gespräch beendete.
Sergeant Matthew überlegte einen Moment, schließlich befahl er einem seiner Leute:
„Wir haben einen Unbekannten in Zone a-d-95. Überprüfen sie das mit dem Radar!“
Er hatte der Fabrik und dem Fortschritt Treue geschworen, und er würde seinen Teil dazu beitragen, den Krieg zu gewinnen. Während er seine Ausrüstung noch einmal überprüfte, kam schon die Antwort des Soldaten:
„Positiv. Eine Gruppe von Eindringlingen, die sich mit dreißig Meilen pro Stunde nach Norden bewegt. Ich kann keine Waffen über dem Pfeil-und-Bogen Niveau feststellen, es scheint sich aber nicht um Ordensangehörige zu handeln.“
Irgendwelche Unbeteiligten also.
„Der Befehl lautet, sie zu entfernen. Macht euch bereit, und nehmt nur Bolzengewehre! Andere Waffen erregen zuviel Aufmerksamkeit.“
Sechs Männer sprangen von der Ladefläche des Jeeps, jeder trug eine leichte Rüstung aus einem speziellen, reißfesten Kunststoff und einen Helm. Schließlich stieg auch der Sergeant aus und führte den Ausrüstungs-check zuende. Die technischen Implantate seines Körpers, die seine Leistungsfähigkeit verbesserten, arbeiteten perfekt. Er trug wie seine Soldaten einen Kampfanzug aus Kunststoff, der aber Schutz vor „fast allem, dass verletzen kann“ bot, wie einer der Techniker der Fabrik zu sagen pflegte. Das einzige, woran man den Offizier von seinen Soldaten unterscheiden konnte, waren einige Rangabzeichen an seinen Schultern. Zufrieden klappte er das Visier seines Helms herunter, worauf einige automatisch gesteuerte Anzeigen darauf erschienen.
„Gut. In diesem Gebüsch können wir Stellung nehmen, die Eindringlinge müssten in wenigen Minuten hier vorbeikommen. Und seid vorsichtig, ich möchte kein Gemetzel wie das vor zwei Wochen auslösen. Wir sollen nur ein paar Eindringlinge eliminieren!“
Er erinnerte sich nur noch zu gut daran, was vor zwei Wochen an der Nordseite des Hügels, an dessen Fuß sie sich befanden, geschehen war. Der Vorfall war dermaßen ausgeartet, dass sie eine WY-Bombe über dem Gebiet hatten abwerfen müssen.
„Sir! Sie kommen!“
„Gut. Passt auf, dass man euch nicht sieht. Die Sache muss schnell gehen!“
Sie wurden durch näherkommendes Hufgetrappel unterbrochen. Es war soweit!
Matthew legte seine eigene Waffe, ein Schnellfeuergewehr, an. Er zählte sieben Eindringlinge vom Volk der Nuishi, die allesamt auf Tennas ritten.
Als sie nur noch zehn Meter von den Soldaten entfernt waren, gab er das Zeichen zur Eröffnung des Feuers. Mit einem Knall wurde einer der Nuishi von seinem Tenna geschleudert, noch bevor die Anderen die Situation erfassen konnten, gab es weitere Tote. Sergeant Matthew betete zum Himmel, dass der Orden keinen Wind von der Sache bekam, bevor er mit seinem Schnellfeuergewehr die restlichen Eindringlinge ins Jenseits schickte.
Einen Moment lang wurde es ruhig.
„Okay, seht nach, ob auch wirklich alle tot sind. Danach -“
Er wurde von einem weiteren Funkspruch unterbrochen. Der Funker ließ ihm keine Zeit für die Formalitäten, sondern begann sofort mit hastiger Stimme zu sprechen:
„Sergeant, hier ist die Zentrale. Es befinden sich Ordenskrieger in ihrer Nähe, die Koordinaten sind a-d-97.“
Dem Sergeant lief es kalt den Rücken herunter. Nicht schon wieder...
„Schicken sie Verstärkung. Wir werden sie solange aufhalten!“
„Geht in Ordnung, Sergeant.“
Die Funkverbindung wurde beendet. Der Offizier überlegte einen Moment lang. Die Koordinaten bedeuteten...
„Ordenskrieger befinden sich auf diesem Hügel. Vielleicht haben sie uns noch nicht entdeckt. Wir müssen sie aufhalten, bis Verstärkung kommt, also los!“
Die Soldaten, die solche Manöver bereits gewohnt waren, achteten darauf, dass man sie von der Hügelkuppe aus nicht sehen konnte, während sie die Erhebung empor schlichen. Mit schussbereiten Waffen fanden sie hinter Bäumen oder Felsvorsprüngen Schutz und gaben sich Rückendeckung.
Trotz all dieser Vorsichtsmaßnahmen benötigten sie nur wenige Minuten, um den Gipfel zu erreichen. Sergeant Matthew wies seine Leute an, zu warten, und betrat Erster die Hügelkuppe.
Seine geschulten Augen erfassten die Situation sofort. Er sah drei Ordenskrieger, die wie üblich in schwarze Kleidung gehüllt waren und nur primitive Waffen trugen. Einer von ihnen hielt Ausschau, die anderen beiden bewachten zwei Gefangene, die gefesselt auf der Erde lagen.
Matthew überlegte schnell. Die Gefangenen konnten keine Angehörigen der Fabrik sein, das sah man an ihrer Kleidung, ihrem Verhalten und ihren Waffen, die neben ihnen auf dem Boden lagen. Also musste er keine Rücksicht auf sie nehmen.
Plötzlich zuckte ihm ein Gedanke durch den Kopf:
Normalerweise waren die Ordenskrieger nie in so kleinen Gruppen unterwegs...
Instinktiv fuhr er herum und duckte sich zur Seite. Nur wenige Zentimeter neben ihm zerschnitt ein scharfes Schwert die Luft.
Der Sergeant wusste bereits, wem es gehörte, bevor er den Mann sah: Ein weiterer Ordenskrieger, der es auf ihn abgesehen hatte.
Matthew stieg der Schweiß auf die Stirn. Er wusste, dass er im Nahkampf hoffnungslos unterlegen war!
Doch er hatte Glück. Noch bevor der Krieger seine Attacke fortsetzen konnte, stürmten seine Soldaten auf den Hügel und eröffneten das Feuer.
Einer der Ordensleute, die die Gefangenen bewachten, wurde an der Schulter getroffen, doch die anderen drei gingen ebenfalls zum Angriff über. Dank ihren trainierten Körpern waren die Ordenskrieger schnell genug, um dem Feuer der Soldaten zu entkommen. Sie rannten und sprangen so schnell, dass man ihnen mit den Augen kaum folgen konnte. Plötzlich war einer von ihnen mitten unter den Soldaten und mähten zwei mit einem Schwung seines Schwertes zwei von ihnen nieder. Als auf ihn geschossen wurde, verschwand er, indem er einfach auf den nächststehenden Baum sprang.
Sergeant Matthew sah, wie einer der Gefangenen die Aufregung ausnutzte, um sich von seinen Fesseln zu befreien. Der Mann, er trug lange, weiße Kleidung und einen Turban, machte sich daran, seinen Begleiter ebenfalls zu befreien. Matthew überlegte einen Moment lang, ob er ihn aufhalten sollte, doch dann sah er etwas, dass ihn überaus zufriedenstellte:
Der verwundete Ordenskrieger wollte den Mann aufhalten. Doch dieser griff nach dem Säbel, der immer noch am Boden lag, und schlug dem Verwundeten kurzerhand den Kopf ab.
„Solche Leute könnten wir gebrauchen!“, dachte Matthew und wendete sich wieder dem Kampf zu.
Von seinen Leuten waren nur noch drei am Leben, einer davon schwer verletzt. Mit drei topfitten Ordenskriegern als Gegner sah der Kampf aussichtslos aus.
Doch Sergeant Matthew hatte schon zum zweiten Mal an diesem Tag großes Glück.
In dem Moment, als die Soldaten die feindlichen Krieger nicht mehr in Schach halten konnten, wurden Rotorgeräusche hörbar. Wenige Sekunden später blieb ein Helikopter in der Luft über dem Hügel stehen und setzte ein Dutzend Soldaten der Fabrik ab.
Einen Augenblick lang wussten die Ordenskrieger nicht, was sie tun sollten, und das nutzte Sergeant Matthew aus. Er schoss einem von ihnen in den Rücken, worauf die anderen beiden einsahen, dass sie unterlegen waren, und sich zurückzogen.
Matthew sah, wie sie zu ihren Gefangenen liefen. Der Mann, der sich bereits befreit hatte, wollte ihnen Widerstand leisten, aber die Krieger waren zu schnell. Einer von ihnen warf sich den noch gefesselten Gefangenen über die Schulter, und sie flüchteten. Genau zur richtigen Zeit, denn einen Augenblick später eröffnete die Verstärkung das Feuer.
Der Mann mit der weißen Kleidung schrie etwas, das so klang wie „Yai´ro!“, und versuchte, den Ordensleuten zu folgen, doch er wurde von einem Betäubungsschuss getroffen.
Endlich war wieder Ruhe eingekehrt.
Sergeant Matthew wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Es war noch einmal gut gegangen.
Während einige Soldaten den betäubten Mann aufhoben, ging der Sergeant zum Anführer der Verstärkung, einem jungen Leutnant.
„Sollen wir sie verfolgen, Sergeant?“, fragte dieser sofort.
„Das wird nicht nötig sein“, antwortete Matthew knapp. „Wir sollten zum Hauptquatier zurückkehren, damit wir von dem Vorfall berichten können.“
„Zu Befehl, Sergeant. Und was machen wir mit dem Gefangenen?“
„Wir nehmen ihn mit“, antwortete der Sergeant kühl und drehte sich um, um nach seinen Männern zu sehen.
Das zweite Gemetzel in so kurzer Zeit... das würde Folgen haben. Drastische Folgen.

2. Szene: Gefangen

Kälte drang durch die steinernen Wände und den Boden des stockdunklen Zimmers, das leer war bis auf eine armselige Holzpritsche an der Wand.
Eine Gefängniszelle.
Schmerzhaft versuchte sich Yai´ro an die letzten Tage zu erinnern, die er in der Gefangenschaft der schwarzgewandeten Krieger verbracht hatte, aber es gelang ihm kaum. Seine Erinnerung war neblig und verschwommen. Aber warum bloß?
Das Letzte, das er wusste, war dass die Krieger ihn und Paryn auf der Hügelkuppe gefangengenommen hatten. Dann waren plötzlich Soldaten aufgetaucht, mit Waffen, wie sie Yai´ro noch nie gesehen hatte, und hatten einen Kampf mit den Kriegern begonnen. Es war zu viel auf einmal geschehen, als dass er wirklich etwas mitbekommen hätte können, und von seiner Position am Boden aus war er kaum in der Lage gewesen, etwas zu sehen. Schlie0lich hatte es Paryn irgendwie geschafft, sich zu befreien und einen der Krieger getötet. Von den darauffolgenden Sekunden wusste er nur noch, dass er ein grässliches, enorm lautes Geräusch gehört hatte, in das sich Jubelrufe der Soldaten gemischt hatten. Die restlichen Krieger waren geflohen und hatten ihn mitgenommen.
Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er mit gefesselten Händen und Füßen und einem Knebel im Mund über der Schulter eines Kriegers gehangen war, das einzige, das er sehen hatte können, war der rasend schnell vorbeiziehende Boden gewesen. Er hatte sich über die unglaubliche Schnelligkeit und über die körperliche Leistungsfähigkeit der Krieger gewundert. Wahrscheinlich war das der Grund gewesen, warum die Soldaten sie nicht verfolgt hatten.
Am Abend, als er zum ersten Mal abgesetzt worden war, hatte er anhand der Sonne feststellen können, dass sie nach Westen gelaufen waren. Sie hatten in einer Höhle Unterschlupf gefunden, dort hatte ihm einer der Krieger ein paar Tropfen einer seltsamen Flüssigkeit eingeflößt. Danach...
Ja, was war danach geschehen? Umso länger er überlegt, umso klarer wurde er sich darin, dass er ab dem Moment, in dem er die Flüssigkeit eingenommen hatte, nur noch verschwommene Erinnerungen besaß.
Vielleicht hatte man ihm irgendein Gift oder eine Droge verabreicht. Das wäre eine Erklärung dafür, warum er sich, nachdem er vor wenigen Stunden erwacht war, mehrmals übergeben hatte.
Schon beinahe verzweifelt versuchte er, sich an irgendetwas aus dem nebeligen Zeitraum zu erinnern, und langsam kam ihm etwas in den Sinn...
Irgendwann waren weitere Krieger zu ihnen gestoßen. Sie hatten ihn abwechselnd getragen, und ihm war aufgefallen, dass der Boden felsiger geworden war. Danach verschwamm seine Erinnerung wieder. Aber da war noch mehr...
Die Krieger hatten ihn abgesetzt, um Rast zu machen. Yai´ro, der von Kopfschmerzen geplagt und unerklärlicherweise enorm müde war, musterte die Gegend um ihn herum. Sie befanden sich anscheinend in einem Gebirge, denn rund um den schmalen, steil ansteigenden Pfad, an dessen Rand Yai´ro saß, türmten sich gewaltige Felsen in die Höhe. Direkt vor ihm saßen drei der schwarz gekleideten Krieger, zwei andere waren schon vorausgegangen, wahrscheinlich wollten sie den Weg erkunden.
Yai´ro wandte den Kopf zur Seite, was ihm heftige Schmerzen im Genick bereitete. Doch diese Schmerzen spürte er kaum, denn was er dort sah, war einfach unglaublich. Der schmale Pfad wurde etwas breiter. An seinem Ende tat sich eine gewaltige Schlucht auf. Die Hänge der Berge, die ihren Rand säumten, fielen steil hunderte Meter weit ab, in ein ungewisses Dunkel hinein. Die Schlucht war beinahe rund, ihren Durchmesser schätzte Yai´ro auf eine Meile. Das Sonnenlicht drang nicht sehr weit nach unten, stattdessen war der Abgrund gefüllt mit einer seltsamen Dunkelheit, die nicht einmal Luft zu enthalten schien. Doch das Unglaubliche war nicht die Schlucht selbst, sondern der Berg, der in ihrer Mitte aufragte.
Er musste hunderte, wenn nicht gar tausende Meter hoch sein, und doch war er nicht breiter als zweihundert Meter. Er schien kerzengerade zu stehen, wie eine Säule, und seine Wände fielen senkrecht ab.
Als hätte nicht die Natur ihn geschaffen....
Das, was Yai´ros Aufmerksamkeit auf sich zog, war jedoch das vollkommen flache Hochplateau, in dem der Berg endete. Es befand sich ungefähr in der gleichen Höhe mit dem Rand der Schlucht. Auf ihm war ein Bauwerk errichtet, das das ganze Plateau einnahm mit seinen Kuppel und Türmen, Erkern und Zinnen, Mauern und Toren. Ein riesiger Gebäudekomplex, der sowohl düster und altertümlich wie auch prächtig wirkte. Beinahe wie ein Schloss, aber es hatte auch etwas von einer Festung an sich.
Dort, wo der schmale Pfad endete, begann eine steinerne Brücke die sich über den Abgrund bis zu dem Berg in der Mitte erstreckte und schließlich direkt vor dem gewaltigen Eingangstor des Gebäudes endete. Obwohl die Brücke mehrere hundert Meter lang war, wurde sie nur von zwei schmalen Pfeilern gestützt, die aus der Finsternis herausragten. Yai´ro fröstelte bei dem Gedanken, von der Brücke, falls man sie überhaupt so nennen konnte, in die Tiefe zu stürzen. Die ‚Brücke’ war eigentlich nur ein zweckerfüllender Übergang aus rohem Stein, auf dem gerade einmal drei Männer nebeneinander gehen konnten.
In diesem Moment wurde Yai´ro hart an der Schulter gepackt. Er sah auf und bemerkte den Krieger, der dort stand und ein kleines Fläschchen in der Hand hielt. Der Mann bückte sich zu ihm, öffnete ihm gewaltsam den Mund und flößte ihm einige Tropfen der Flüssigkeit aus dem Fläschchen ein.
Er wollte sich wehren, doch plötzlich überkam ihn eine enorme Müdigkeit. Er konnte nichts mehr tun außer die Augen zu schließen und sich zu Boden sinken zu lassen...
Ab diesem Moment hatte er keine Erinnerungen mehr.
Diese Krieger hatten ihm wirklich Drogen verabreicht!
Ihm wurde heiß vor Wut. Am liebsten hätte er irgendetwas zerstört, oder jemanden geschlagen.
Diese Schweine! Er hatte ihnen nichts getan, aber sie hatten ihn entführet und unter Drogen gesetzt. Aber etwas anständiges zu essen hatten sie ihm nicht gegeben, Das spürte er deutlich, denn sein Magen war leer und seine Kehle ausgetrocknet. Außerdem fühlte er eine Schwäche, von der er wusste, dass sie nur dann eintrat, wenn man mehrere Tage lang nichts gegessen hatte. Was wollten diese seltsamen Leute eigentlich von ihm?
In diesem Moment öffnete sich mit einem lauten Knarren die morsche Holztür der Zelle. In dem hereindringenden Fackelschein sah er einen der schwarzgewandeten Krieger stehen.
Yai´ro wollte etwas sagen, doch der Mann unterbrach ihn:
„Komm mit. Der Abt will dich sprechen!“

Yai´ro wurde einen langen Gang entlang und eine Treppe hinaufgeführt. Nur einige brennende Fackeln, die an den steinernen Wänden hingen, verhinderten eine völlige Finsternis. Mehrere Minuten lang trottete er schweigend durch die halbdunklen Korridore. Der Krieger ging hinter ihm her, hielt ihn am Kragen fest und wies ihm so die Richtung. Umso öfter der Mann ihn am Genick riss, umso mehr kehrte die Wut von vorhin in Yai´ros Körper zurück.
Schließlich wurde er eine weitere, schmale Treppe hinaufgeführt. Umso höher sie hinaufkamen, umso weniger spürte er von der Eiseskälte, die in der Zelle geherrscht hatte. Ein weiteres Mal wurde er von dem Krieger zurückgerissen. Vielleicht kam die Wärme auch von seinem Zorn...
Erst jetzt bemerkte er, warum der Mann ihn angehalten hatte. Sie waren am Ende der schmalen Treppe angelangt. Der Stein, aus dem die Wände gebaut waren, war auf eine undefinierbare Weise heller, oder auch wärmer als zuvor. Direkt vor sich sah er etwas, dass so gar nicht zu dm Eindruck passen wollte, den das finstere Bauwerk bisher auf Yai´ro gemacht hatte: Ein großes, schönes Holztor. Der Rahmen war einfach in den Stein eingelassen, und die beiden Torflügel waren so schön und aus einem so hellen Holz, dass Yai´ro sich fragte, ob hier einer der Minister von Manta wohnte.
„Geh da rein!“, hörte er den Krieger mit leiser, aber ungemein kräftiger Stimme sagen. „Und, wenn ich dir einen Tipp geben darf: Sei vorsichtig. Der Abt versteht keinen Spaß!“
Yai´ro glaubte, in den letzten Worten sogar eine Spur von Mitleid gehört zu haben. Aber das war ihm egal, denn er hatte die Schmerzen, die ihm der Krieger durch den Kragen-Griff zugefügt hatte, nicht vergessen. Zornig auf alle Angehörigen dieser Kriegerschaft stieß er die Tür auf und trat in das Zimmer dahinter.
Der Raum war nicht allzu groß, dafür aber hell und sechseckig. Eingerichtet war er hauptsächlich mit Möbeln aus Holz, die im Licht, das durch eines der Fenster hereinflutete, auf eine geheimnisvolle Weise prächtig wirkten. An den Wänden standen Regale, zu Yai´ros Linken war ein Tisch mit Stühlen aufgestellt. Direkt vor ihm, in der Mitte des Raumes, befand sich ein riesenhafter Schreibtisch, der den gesamten restlichen Platz einzunehmen schien. Die Möbel wirkten zwar altmodisch, aber trotzdem prächtig. Vor allem aber waren sie sauber, was ebenfalls einen Unterschied zu den Teilen des Bauwerks, die Yai´ro bisher gesehen hatte, darstellte.
Plötzlich zuckte er unwillkürlich zusammen. Hinter dem Schreibtisch stand eine Gestalt, die er bisher, aus welchem Grund war ihm unklar, noch nicht bemerkt hatte. Die Person war hoch aufgerichtet und in etwa gleich groß wie Paryn. Sie trug einen langen, schwarzen Kapuzenumhang aus Stoff, der nur am Hals zusammengebunden war und so das ebenfalls schwarze Gewand enthüllte, das der Mann darunter trug – die gleiche Kleidung wie die der Krieger. Aus dem Schatten unter der Kapuze, in dem man nur schemenhaft das Gesicht eines alten Mannes erkennen konnte, drang plötzlich eine dumpfe Stimme:
„Du bist also... Yai´ro!“
Eine unangenehme Stille trat ein.
Yai´ro hätte sein Gegenüber am Liebsten ins Gesicht geschlagen. Doch er hatte sich noch so weit unter Kontrolle, dass er antwortete:
„Und Sie sind der Scherzbold, der mich entführen lassen hat!“
Der Mann bewegte sich nicht, aber Yai´ro spürte deutlich, wie die Spannung im Raum stieg.
„Kleiner, wenn du glaubst, dass du hier die Klappe aufreißen kannst, dann lebst du nicht mehr lange!“, fuhr ihn der Abt an.
„Aber ich habe dich nicht herbringen lassen, um dich zu töten. Im Gegenteil, ich will dir einen Vorschlag machen!“
Er weiß auf einen der Stühle, die rund um den kleinen Tisch standen. „Setz dich doch bitte!“
Yai´ro starrte den Mann zornig an. Er wollte nicht wie ein kleines Kind behandelt werden! Abgesehen davon war ihm dieser Abt noch einige Erklärungen schuldig...
„Ich bin ja sehr gespannt auf Ihren Vorschlag, aber ich habe auch einen. Sie erklären mir jetzt, warum ich gefangen genommen wurde. Danach bringen Sie mich dorthin zurück, wo- “
Noch bevor Yai´ro zuende gesprochen hatte, geschah etwas, das er nie erwartet hätte. Der alte Mann sprang ansatzlos über den Schreibtisch und trat ihm zwei mal kurz hintereinander ins Gesicht. Er wirkte plötzlich überhaupt nicht mehr steif und alt.
Yai´ro wurde von der Wucht der Schläge nach hinten geworfen und knallte in die Eingangstür des Zimmers. Keuchend sank er an ihr herab und blieb liegen.
Der Abt ging auf ihn zu.
„Falls du glaubst, das Alles hier wäre nur ein Spaß, dann liegst du falsch. Und wenn du glaubst, du könntest mich verarschen , dann wirst du öfters Schläge einfangen!“
Yai´ro konnte und wollte nichts erwidern. Er blutete im Gesicht. Mit den Schlägen war seine Wut gewichen, stattdessen fühlte er etwas, das Ehrfurcht nahe kam.
„Yai´ro, ich fordere dich jetzt noch einmal auf: Setz dich!“, fuhr der Abt vollkommen ruhig fort. „Ich werde deine Fragen beantworten, und du wirst dir meinen Vorschlag anhören.“
Er hatte keine andere Wahl, als zu gehorchen. Unter heftigen Schmerzen setzte er sich an den Tisch, der Abt saß ihm genau gegenüber.
„Du willst wissen, warum wir dich gefangen genommen haben, nicht wahr? Dann will ich es dir auch erklären. Aber ich warne dich, es ist eine lange Geschichte...
Du befindest dich im Tempel, dem Hauptquartier des Ordens. Ich bin das Oberhaupt dieser Organisation, meine Leute nennen mich „Abt“. Für uns ist das Kämpfen ohne oder nur mit primitiven Waffen die höchste Kunst, und wir trainieren sie schon seit Jahrhunderten. Wir führen ein sehr enthaltsames Leben, dessen Sinn das Kämpfen ist. Es liegt uns im Blut. Unsere Körper sind gestählt und bleiben das bis ins hohe Alter. Schnelligkeit, Ausdauer, Kraft und ein perfekter Kampfstil, danach streben wir.“
Der Abt machte eine kurze Pause und seufzte.
„Aber leider gibt es Leute, die unseren Lebensstil nicht verstehen und deren einziges Ziel die technische und wissenschaftliche Weiterentwicklung ist. Einige von ihnen sich zu einer Organisation mit dem Namen „Fabrik“ zusammengeschlossen. Seit vielen Jahren liegen wir schon im Wettstreit mit der Fabrik, aber nun scheint sich der Wettbewerb zu einem Krieg zu entwickeln!“
Yai´ro begann, den Vorfalls auf der Hügelkuppe zu verstehen. Er hatte zwar noch mehr Fragen, doch der Abt ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Wir werden nicht aufgeben, und wir haben unsere Gründe dafür. Abgesehen davon, dass die Fabrik den Krieg begonnen hat, sind ihre Methoden grausam. Soldaten werden genetisch so verändert, dass sie zu Kampfmaschinen mutieren, sie implantieren Metalle in ihre Körper und benutzen Waffen, deren bloße Existenz verboten sein sollte. Wir werden den Krieg gewinnen und diesen Grausamkeiten ein Ende setzten!“
Der Abt stand auf. Man konnte ihm seine Aufregung deutlich ansehen.
„Wir wissen, dass die Fabrik zu einer großen Schlacht rüstet. Das ist auch der Grund, warum du hierher gebracht wurdest: Wenn die Soldaten dich zuerst entdeckt hätten, wärst du längst tot. Wir töten keine Außenstehenden, aber wir brauchen Krieger.
Hör meinen Vorschlag: Wenn du in der kommenden Schlacht für uns kämpfst, bist du danach frei!“
Das heißt - falls du sie überlebst, fügte er in Gedanken hinzu.
Yai´ro schluckte. Irgendetwas in der Art hatte ja kommen müssen! Aber was sollte er schon tun, außer einzuwilligen? Er wollte schließlich wieder freikommen. Und vielleicht konnte er so wieder mit Paryn zusammenstoßen! Er grinste den Abt an.
„Ich bin einverstanden!“
Die blutenden Wunden in seinem Gesicht hatte er längst vergessen.
„Und ich bin froh, dass du diese kluge Entscheidung getroffen hast!“, erwiderte dieser und bewegte sich in Richtung Tür. „Bis zur Schlacht hast du noch genügend Zeit zum Trainieren. Dir wird morgen ein Lehrer zugewiesen werden!“
Yai´ro stand auf. Der Abt hielt ihm die Tür auf, und er verließ den Raum.
„Und du“, fügte er an den Krieger, der draußen gewartet hatte, gerichtet hinzu: „Du weißt bitte Yai´ro ein neues Zimmer zu!“
Die Tür schlug zu, und Yai´ro war wieder mit dem Krieger allein auf dem Gang.
Beim Rückweg hielt ihn dieser nicht mehr am Kragen , sondern ging bloß hinter ihm her.
Yai´ro fühlte den Triumph.
Er würde freikommen. Das musste er, denn er hatte noch eine Aufgabe zu erfüllen!

Nachdem er die Tür geschlossen hatte, begann der Abt leise zu lachen.
Schon wieder so ein ahnungsloser Naivling, dem man nur etwas über die Grausamkeit der Feinde und über die Freiheit erzählen musste, um einen neuen Krieger zu gewinnen. Einen Krieger auf Lebenszeit!
Zufrieden öffnete er die Tür und verließ das Zimmer. Es war Zeit für seine täglichen Übungen.
Was er jedoch nicht bemerkte, war eine kleine, schwarze Katze mit silbrig funkelnden Augen, die hinter einem Regal hervorkroch und in einem Moment der Unachtsamkeit aus dem Raum schlich...

3. Szene: Selena

Vorsichtig schlich die Katze durch die dunklen Gänge des Tempels. Ihr schwarzes Fell machte sie praktisch unsichtbar.
Endlich hatte sie das Ende des Korridors erreicht. Ihre silbrigen Augen lugten um die Ecke und schätzten die Entfernung ab, die sie unbemerkt zurücklegen musste. Ihr Ziel, ein kleines Nebentor, wurde von zwei Kriegern bewacht.
Sie musste näher heran! Ohne ein Geräusch zu verursachen, legte sie das letzte Stück Weges zurück.
Noch zwei Meter bis zu den Wachen...
Der kleine Körper duckte sich zum Sprung, doch noch bevor die Katze sich vom Boden abstoßen konnte, fiel Fackelschein auf sie.
„Wie kommt eine Katze hier rein?“, rief eine Wache irgendwo über ihr, und noch im selben Moment sprang sie los.
Scharfe Zähne bohrten sich in den Hals eines Kriegers. Der Biss hatte gut gesessen, denn der Mann fühlte nur einen kurzen, stechenden Schmerz, bevor er zur Seite kippte und sofort starb.
Sie musste auch den Anderen töten, bevor er Alarm schlagen konnte!
Ebenjener zweite Krieger stand inzwischen kampfbereit und bewaffnet mit einer Fackel und einem Schwert in der Mitte des Ganges.
Es würde keine Gelegenheit für physische Angriffe geben.
Die Katze begann sich zu konzentrieren. Schon nach wenigen Augenblicken hatte sie ihre magische Energie gebündelt und manifestierte sie in Form eines Blitzes, der von ihr aus in Richtung des Kriegers zuckte. Im Genick getroffen stürzte der Mann nieder – er würde nicht wieder aufstehen.
Mit dem Ende des Kampfes war wieder vollkommene Stille eingetreten. Sie wurde nur durch ein leises Quietschen unterbrochen, als sich das Nebentor wie von Geisterhand öffnete.
Lautlos spazierte die Katze hinaus in die nächtliche Dunkelheit. Nur der Mond beschien den etwa zwanzig Meter langen Felsvorsprung, der an drei Seiten an einem Abgrund endete. Die vierte Seite wurde von dem Gebäudekomplex begrenzt, der hoch in den Nachthimmel aufragte.
Die Katze blickte nach oben und betrachtete den großen, runden Vollmond. Sie hätte stundenlang so sitzen können, das silberne Mondlicht auf sich einstrahlen und es mit ihren ebenso silbernen Augen erwidern können.
Ich habe keine Zeit für solche Spielchen , rief sie sich in die Gegenwart zurück. Es musste gleich soweit sein, also sollte sie ihre Vorbereitungen treffen.
Plötzlich schien sie an Konsenstanz zu verlieren. Aus der Körper des zusammengekauerten Tieres wurde eine formlose Wolke, die sich in der Luft zu verflüchtigen schien; doch nach einigen Sekunden zog sie sich wieder zusammen und nahm die Gestalt eines sechzehnjährigen Mädchens an. Ihr schulterlanges, schwarzes Haar umspielte ein bleiches Gesicht mit spitzen, aber herrischen Zügen und ebenso spitzen Ohren, aus dem zwei silbrig-blaue Augen stachen.
Sie führte erste Bewegungen aus, um sich an den neuen Körper zu gewöhnen, wobei ihr – ebenso wie das Haar – schwarzer Umhang sachte im Wind flatterte. Das Kleidungsstück war einfach, doch es bedeckte ihren gesamten Körper; nur der Kopf blieb frei.
Das Mädchen machte einige Schritte. Noch war sie recht wackelig auf den Beinen, doch in einigen Minuten würde sie sich in diesem Körper wieder perfekt zurechtfinden. Schließlich war es ja ihre ursprüngliche Gestalt.
Sie fragte sich, wann ihre Meisterin endlich eintreffen würde. Sonst kam diese nämlich nie zu spät zu einer Verabredung, und sie kannte nichts, das eine Magierin ihres Grades aufhalten konnte!
Sie war nahe daran, sich trotzdem Sorgen zu machen, als plötzlich ein grelles, blaues Feuer an der Seite des Felsvorsprungs aufloderte. Die Flammen schlugen lautlos mehrere Meter in die Höhe, in ihrer Mitte zeichnete sich der Umriss einer Gestalt ab.
Funken stoben, als die Magierin aus dem schwächerwerdendem Feuer trat. Sie hielt ihren Stab in der Rechten und trug einen schwarzen Umhang, doch die Kapuze des Kleidungsstücks war zurückgeschlagen. Darunter kam das zeitlose Gesicht einer etwa fünfundzwanzigjährigen Frau zum Vorschein, deren pechschwarzes Haar ihr bis zur Taille fiel.
„Meisterin!“
Das Mädchen stürzte auf die Magierin zu und fiel ihr in die Arme. Diese lächelte und umarmte ihre Gehilfin, doch trotz dieser offenen Geste lag ein Hauch von Unruhe in ihrer sonst so stolzen Stimme.
„Selena!“
Man hätte die beiden für Mutter und Tochtor halten können, zumal sich ihre Haarfarbe und Kleidung glichen. Den einzigen sichtbaren Unterschied bildeten die Gesichter, anhand derer man den Rassenunterschied der beiden Frauen feststellen konnte: Das Mädchen war eine Elbin, die Rassenzugehörigkeit der Magierin hingegen schien nicht feststellbar.
Nachdem diese ihre Gehilfin wieder losgelassen hatte, betrachtete sie das Mädchen genauer. Selena wirkte gefasst, aber etwas verängstigt. Abgesehen davon sah sie schwach aus, als hätte sie sich gerade eben enorm angestrengt. Die Magierin folgerte daraus, dass sie Magie benutzt hatte. Höchstwahrscheinlich hatte sie erst vor kurzem ihre wahre Gestalt angenommen, denn diese Verwandlung kostete trotz der richtigen Bedingungen große Anstrengung. Allerdings musste es noch etwas anderes geben, das das Mädchen anstrengte, das es verängstigte. Etwas, das nichts mit ihrer Magie zu tun hatte.
Die Frau klang eindeutig beunruhigt, als sie fragte:
„Selena, was ist geschehen? Warum hast du mich gerufen?“
Das Elbenmädchen stockte einen Moment, dann begann es hastig und mit großer Anstrengung zu sprechen.
„Noch während uns die Nuishi verfolgt haben, sind wir in ein Kriegsgemetzel geraten. Yai´ro ist von Ordenskriegern gefangengenommen worden und Paryn befindet sich in der Gewalt der Fabrik; ich habe zum Glück entkommen können und bin – wie befohlen – dem Jungen gefolgt. Das alles ist vor sechs Tagen geschehen, und heute hat sich Yai´ro dem Abt gegenüber als Krieger verpflichtet! Ich konnte nichts tun außer zuzusehen, ich bin zu spät gekommen. Der Abt“, sie sprach den Namen mit einem gewissen Schaudern aus, „Der Abt vermutet einen großräumigen Angriff der Fabrik, und dafür braucht er Krieger. Nicht weil er gute Kämpfer sucht, er wird die Leute als Kanonenfutter benutzen, für Ablenkungsmanöver, Selbstmord-Einsätze oder ähnliche Aktionen. Ich weiß zwar nicht wie, aber irgendwie müssen wir verhindern, dass der Junge an dieser Schlacht teilnimmt!“
Die Magierin schluckte. Das waren keine erfreulichen Nachrichten. Trotzdem konnte man daraus das Beste machen, und sie war sich sicher: Wenn sie auch nur ein Ding auf der Welt gut konnte, dann war es das!
„Du musst mit der Situation hier alleine fertig werden. Die Schlacht kommt uns sogar gelegen. Sie ist eine perfekte Fluchtmöglichkeit, denn der Abt ist ein Lügner und will Yai´ro als Krieger auf Lebenszeit!“
Sie sah Selena tief in die Augen.
„Wir haben Glück, dass er noch nicht erkannt hat, wer der Junge wirklich ist. Wenn Saphita das erfahren würde, wären all unsere Pläne -“
„Saphita?“ Selena klang erschrocken. „Hat Saphita von der Sache Wind bekommen?“
„Nein, aber sie vermutet etwas“, erwiderte die Magierin in einem nicht ganz gelungenen, beruhigenden Tonfall. „Saphita stellt keine unmittelbare Gefahr dar. Als Erstes müssen wir Yai´ro und Paryn in Sicherheit bringen!“
Sie machte eine kurzen Pause, in der sie starr den felsigen Boden anblickte. Als sie wieder zu sprechen begann, war ihre Stimme etwas leiser und weniger selbstsicher als zuvor.
„Du weißt, dass ich gegenüber dem Abt machtlos bin. Deshalb musst du die Geschehnisse im Tempel leiten. Sorg dafür, dass Yai´ro gut auf die Schlacht vorbereitet ist und sei an seiner Seite – ich werde mich um Paryn kümmern und darum, dass die beiden während der Schlacht zusammentreffen. Früher oder später müssen sie natürlich nach Rhun kommen, aber erst einmal geht die Sicherheit vor. Vielleicht klingt es absurd, aber ich schlage vor, dass du sie nach Faanland geleitest!“
Selena stockte einen Moment lang der Atem. Ihre Kinnladen klappten nach unten und sie starrte ihre Meisterin an, die wohl verrückt sein musste.
„Aber... Menschen und Rhuner sind Todfeinde!“, brachte sie endlich hervor.
„Das waren sie einmal, aber die Zeit und ein Fluch können vieles verändern. Jedenfalls müsst ihr versuchen, diesen Weg einzuschlagen. Falls die Menschen ihn euch versperren, haben wir immer noch Zeit, über eine Alternative nachzudenken!“
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen, dann fuhr die Magierin fort:
„Ich hoffe, dass jetzt alles geklärt ist. Ich sehe nur noch ein Problem, und zwar -“
Sie kam nie dazu, diesen Satz zu beenden, denn in diesem Moment stürzte ein bewaffneter Krieger mit einem Kampfschrei aus dem Eingang des Tempels.
Die Magierin erschrak zwar, hatte sich aber sofort wieder gefasst. Blitzartig richtete sie ihren Zeigefinger auf das näherkommende Ordensmitglied. Von der Spitze des Fingers zuckte ein blauer Blitz und traf den Mann in die Brust.
Es war kein besonders starker Zauber gewesen, aber er genügte, um den unvorbereiteten Krieger zu töten.
„Ich sollte jetzt besser verschwinden!“, flüsterte die Magierin hastig und trat einen Schritt zurück, von Selena weg. Blaue Flammen loderten um sie hoch, und als sie wieder erloschen, war nichts mehr von der Frau zu sehen.

Selena war wieder allein mit der Nacht und dem Mond. Um sie herum herrschte Stille, dafür schien das Chaos ihrer Gedanken umso lauter.
Wie sollte sie Yai´ro heil durch die Schlacht bringen? Würden ihnen die Menschen den Eintritt nach Faanland gewähren? Was war überhaupt mit Paryn – würde er freikommen?
Um Paryn kümmert sich meine Meisterin. Um ihn muss ich mir keine Sorgen machen! Trotz dieser Antwort konnte sie sich nicht beruhigen. Im Gegenteil, immer mehr Fragen schossen ihr durch den Kopf. Eine davon drängte sich immer mehr in den Vordergrund:
Hatte Saphita wirklich etwas von ihren Plänen erfahren? Dass Saphita gefährlich war, stand außer Frage, ebenso dass sie eines der mächtigsten Wesen Koriens war – nicht nur Koriens, der ganzen Welt!
Selena sah die Leiche des Kriegers an, die zu ihren Füßen lag. Der Mann hatte sicher Alarm geschlagen, bevor er sie angegriffen hatte!
Das bedeutete, dass se ebenfalls schnellstens verschwinden sollte. Wie lange hatte das Gespräch mit ihrer Meisterin eigentlich gedauert? Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Egal.
Sie blickte wieder den Mond an, konzentrierte sich – uns schon im nächsten Moment begann ihr Körper, an Konsenstanz zu verlieren. Er wurde wie vorher zu einer Art Nebel und manifestierte sich wieder in der Gestalt der kleinen, schwarzen Katze mit den silbrigen Augen.
Selena fiel es schwer, auf den Beinen zu stehen – die Verwandlung hatte ihr um einiges mehr Energie abverlangt als die letzte. Obwohl ihr Denken als Katze primitiver war als gewöhnlich, wurde ihr schlecht bei dem Gedanken, dass sie ihre Gestalt in der nächsten Zeit noch öfters würde verändern müssen – ob sie das durchhalten würde, war ihr noch unklar.
Von Angst und Unruhe erfüllt wartete sie noch einige Sekunden, bis ihre Kräfte zumindest teilweise zurückgekehrt waren, und lief dann auf den Eingang des Tempels zu. Ungesehen verschwand sie in der Finsternis des Bauwerks.
Bei den kommenden Verwandlungen würde ihr nicht einmal mehr der Mond Kraft geben.
Sie bog um eine Ecke des Ganges und drang tiefer in das Innere des Gebäudes vor.
Wenn Saphita hier aufkreuzte, hätte sie freie Bahn, und Yai´ro könnte sich nicht einmal gegen sie wehren. Irgendetwas musste getan werden. Sie wusste nur noch nicht, was.

4. Szene: Die Fabrik

Die Landschaft hatte sich kaum verändert, obwohl Paryn schon viele hundert Meilen gereist sein musste.
Steile Hügel ragten in den leicht bewölkten Nachmittagshimmel, die schmalen Täler dazwischen waren durchzogen von Flüssen. Das einzige, das fehlte, war das Grün. Ohne Wälder und mit wenig oder gelbem Gras wirkte das Land verseucht – wahrscheinlich war es das auch.
Paryn überlegte, wie lange die Auseinandersetzung auf der Hügelkuppe schon zurücklag, wobei ihm die Rotorgeräusche des Hubschraubers heftig störten.
Wenn er nur wüsste, wie lange er in Betäubung gelegen hatte! Er war am gestrigen Abend aufgewacht. Über Nacht war der Helikopter gelandet und die Mannschaft war ausgestiegen – Paryn glaubte, dass sie sich in der Nähe eines Außenpostens befunden hatten. Genau konnte er es nicht wissen, denn man hatte ihn gefesselt an Bord der Maschine gelassen.
Er hatte wahrscheinlich nur einige Stunden in Betäubung verbracht. Ansonsten wäre er mit starken Anzeichen von körperlicher Schwäche erwacht, und auch seine Harnblase hätte einen deutlich höheren Druck auf ihn ausgeübt – falls sie diesem Druck nicht schon nachgegeben hätte.
Da keines dieser Anzeichen zutraf, gelangte Paryn zu dem Ergebnis, dass es etwa vier Stunden nach dem Mittag am ersten Tag nach dem Gemetzel sein musste – die Zeit berechnete er anhand des Sonnenstandes.
Paryn hatte, bevor er zu dieser Mission aufgebrochen war, einiges über die Geografie und Politik Koriens studiert. Mit Hilfe dieses Wissens schätzte er, dass der Hubschrauber, welcher mindestens zweihundert Meilen pro Stunde zurücklegte, sein Ziel bald erreichen musste – und er hatte vollkommen Recht.
Die Maschine ließ ein weiteres Tal hinter sich und setzte dazu an, eine riesige Erhebung zu überfliegen – Paryn war sich sicher, dass es die höchste war, die er bisher im Hügelland gesehen hatte.
Surrend und stockend stieg der Helikopter senkrecht in die Höhe, bis er ungefährdet über den „Hügel“ hinwegsetzen konnte.
Paryn, der bisher gelegen hatte, setzte sich auf und erhaschte einen Blick aus dem vorderen, kuppelförmigen Fenster des Hubschraubers.
Er sah hinter der riesigen Erhebung eine Ebene, eine braune, verseuchte Ebene, die sich beinahe bis zum Horizont erstreckte. Letzterer wurde von einem Gebirge verdeckt – anscheinend handelte es sich um jenes, das sich über die gesamte östliche Küste Koriens erstreckte. In der Mitte von Paryns Blickfeld stieg eine schwarze Rauchwolke zwischen zwei Bergen auf. Sie verdeckte einen großen Teil des Himmels und warf ihren Schatten über das umliegende Land, was es noch verseuchter wirken lies. Gleichzeitig konnte man erkennen, dass von diesem Ort eine Große Macht ihre Finger ausstreckte und ihre Krieger leitete.
Die Soldaten, die sich an Bord des Hubschraubers befanden, brachen in Jubel aus, sobald sie die Gebäude, die in eine maximal fünfhundert Meter breiten Spalte zwischen zwei Berge gezwängt waren, sahen. Paryn hörte Rufe wie: „Hoch lebe das Großreich der Fabrik!“ oder „Fortschritt!“ aus dem allgemeinen Trubel heraus.
Der Helikopter benötigte noch etwa eine halbe Stunde, um den Gebäudekomplex (oder sollte man es Kleinstadt nennen?) zu erreichen. Verschieden große Gebäude schmiegten sich in ein Tal zwischen zwei Bergen, hinter ihnen brachte ein gewaltiger, aus Stein und Metal erbauter Staudamm einen Fluss zum Stehen. Das angestaute Wasser wurde anscheinend durch Rohre abgeleitet, denn auf beiden Seiten des Tales flossen mehrere kleine Bäche aus dem Gestein und versickerten irgendwo in der Ebene.
Paryn richtete sich zur Hälfte auf, so dass er aus einem der höher gelegenen Seitenfenster auf das Tal hinabsehen konnte. Zwei Gebäude mit überdimensionalen Schloten, welche die Form von nach innen gewölbten Zylindern besaßen, spieen giftige Rauchwolken aus. Diese vereinigten sich am Himmel, wobei eine einzige, schwarze Wolke entstand. Der Qualm überschattete zwar den Gebäudekomplex, aber er bildete auch einen perfekten Schutz gegen Angriffe aus der Luft.
Paryn sah mehrere weitläufige, flache Gebäude. Sie schienen Werkstätten für Waffen, Flugzeuge und anderes Kriegsgerät zu sein – vor manchen von ihnen befand sich sogar eine Start- oder Landebahn für Flugzeuge.
Der Helikopter kam in der Luft zum Stehen und sank dann senkrecht nach unten, was Paryn eine weitaus bessere Sicht ermöglichte.
Er sah verschieden große Punkte, die sich zwischen den Gebäuden bewegten. Erst etwas später wurde ihm klar, dass es sich um Arbeiter, Soldaten und Fahrzeuge handelte, die alle eifrig ihrer Arbeit nachgingen.
Er richtete sich noch etwas weiter auf und sah schließlich auch das Gebäude, auf das der Hubschrauber zusteuerte. Es schien sich um das Hauptgebäude zu handeln, denn es versperrte beinahe den gesamten Eingang zum Tal; nur rechts und links davon blieben jeweils etwa fünfzig Meter für ankommende Fahrzeuge frei. Das Gebäude hatte einen einheitlichen, grau-blauen Farbton und bestand aus drei Teilen: Ein hoher, mittlerer, von dem zwei etwas niedrigere, zueinander symmetrische Flügel ausgingen.
Der Helikopter landete am flachen Dach des rechten Flügels. Das störende Geräusch des Rotors wurde leiser, bis es schließlich vollkommen erstarb.
Eine zweckerfüllende Klapptür an der Seite des Hubschraubers öffnete sich und fünf Soldaten mit geschulterten Gewehren sprangen heraus. Es folgten weitere zwei, die Paryn in die Mitte genommen hatten und hinter ihnen eine kleine Nachhut. Paryn hatte sich schon gewundert, wo die restlichen Soldaten zurückgeblieben waren – sie waren wahrscheinlich zu ihrer Außenstation zurückgekehrt. Die Gruppe, die sich auf den Weg zur Basis begeben hatte, bestand nur aus zwei Offizieren – ein Sergeant und ein Leutnant – acht einfachen Soldaten und Paryn als Gefangenem.
Letzterer wurde zu einer metallenen Treppe, die zu den tiefer gelegenen Stockwerken des Bauwerks führte, geschleppt. Die Soldaten achteten darauf, dass er sich nicht aus ihrem Griff befreien konnte, als sie ihn die Treppe mehrere Stockwerke weit hinunter und einen langen Gang entlang führten. Den Boden des Ganges bildete ein einfaches Metallgitter, die Wände wirkten stärker, bestanden aber aus demselben Material. Links und rechts zweigte alle paar Meter eine Tür ab.
Eine dieser Türen wurde auf- und Paryn in den dahinterliegenden Raum hineingestoßen. Das Zimmer war klein, etwa drei Meter lang und zwei Meter hoch, die Wände und der Boden bestanden aus einem kalten, weißen Kunststoff.
Die beiden Soldaten machten sich daran, die Tür wieder zu verschließen. Paryn wollte aufstehen und sie daran hindern, er wollte ihnen etwas zurufen – sie fragen, was sie mit ihm vorhatten. Es gelang ihm nicht.
Er hatte in dem Helikopter bloß gelegen oder gesessen, so hatte er seine Schwäche nicht bemerkt. Es war durchaus nicht verwunderlich, dass er schwach war, denn er hatte zwei Tage lang keine Nahrung und kaum Flüssigkeit zu sich genommen!
Die Tür schlug zu und rastete ein. Paryn seufzte laut.
Wie er hier wieder hinauskommen würde, war ihm noch schleierhaft. Er wusste nur, dass er es schaffen musste!

„Was geschieht jetzt eigentlich mit dem Gefangenen?“
Sergeant Matthew sah den jungen Leutnant, der die Frage ausgesprochen hatte, an. Sie waren durch die verwirrenden Gänge und Räume der „Fabrik“ unterwegs zu einer Lagebesprechung mit dem Vorstand.
„Er wird wahrscheinlich verhört. Falls er sich als nutzlos erweist, kann ihn unsere Forschungsabteilung sicher für ihre Versuche gebrauchen.“

5. Szene: Kampflehre

Yai´ro fiel und schlug hart auf. Über ihm zeichnete sich die Gestalt des Insektenwesens ab, seines Gegners in der Arena von Manta. Es sprang mit erhobenen Waffen auf ihn zu – jeden Moment musste es ihn erreichen und erstechen! Plötzlich fiel ein Schatten auf ihn. Rith warf sich vor Yai´ro, warf sich in den sicheren Tod und schrie: „Mach, dass du wegkommst! Ich decke dir den Rücken!“
Er wollte weglaufen, aber da sprach noch jemand anderes. Es war seine Mutter.
„Jedes Wesen hat seine Bestimmung, Yai´ro. Auch du, und du musst ihr unbedingt folgen – auch wenn sie von mit wegführt!“
Diesen Satz hatte sie immer zu ihm gesagt, als er noch ein Kind gewesen war, schoss es ihm durch den Kopf – und schon im nächsten Moment war der Gedanke wieder verschwunden.
Die Stimme seiner Mutter wurde leiser, und eine Hand packte ihn an der Schulter. Natürlich, das war Paryn. Er würde ihm sagen, dass er sich beeilen solle, wenn er noch rechtzeitig fliehen wollte.
Aber es war nicht Paryn. Der Traum verschwand und Yai´ro riss verschlafen die Augen auf. Er sah einen schwarz gekleideten Krieger über sich stehen.
„Schon wach?“, knurrte dieser verächtlich. „Ich soll dich zum Kampftraining bringen!“
Zuerst wusste Yai´ro nicht, was das alles sollte. Er lag in einer Hängematte in einem kleinen, steinernen Raum. An der gegenüberliegenden Seite des Zimmers befand sich ein Tisch mit dazugehörigem Stuhl, und durch eine Lücke an der hinteren Wand fiel Licht herein – es schien später Vormittag zu sein.
Mit einem Mal fiel ihm wieder alles ein, von seiner Gefangenschaft bis zu dem Gespräch mit dem Abt am gestrigen Abend, dass er erst gestern dieses Zimmer bekommen hatte und dass er heute den Kampfunterricht beim Orden beginnen sollte.
Er sprang aus der Hängematte und folgte dem schweigenden Krieger auf den Gang. Dabei fiel ihm auf, dass ihm seine Kleidung inzwischen mehr oder weniger in Fetzen vom Körper hing. Er war es zwar gewohnt, dreckiges Gewand zu tragen und es nur selten zu wechseln, aber acht Tage, zwei Kämpfe und eine Gefangennahme waren für ihn ein ernstzunehmender Grund, die Kleidung zu wechseln.
Er wollte soeben seinen Führer darauf ansprechen, als er abgelenkt wurde, denn der Krieger führte ihn von dem schmalen Seitengang, an den Yai´ros Unterkunft anschloss, in einen der Hauptkorridore des Tempels.
Zum ersten Mal hatte Yai´ro einen Eindruck von der Zahl der Bewohner des Tempels: Es mussten Zehntausende sein.
Arbeiter, Krieger, Aufseher und Offiziere kamen ihm entgegen oder überholten ihn in dem allgemeinen Gedränge; der zehn Meter breite Korridor war vollgestopft mit Ordensangehörigen. Yai´ro stellte verblüfft fest, dass der Großteil von ihnen weiblich war. Aber, Frauen oder nicht Frauen:
So viele Personen auf so geringem Raum – sie mussten einen guten Grund dafür haben, das durchzustehen.
Plötzlich ging der Krieger schneller. Er packte Yai´ro an der Schulter und zog ihn in einen weniger bevölkerten Seitengang. Neben einer grob geschreinerten Holztür blieb er stehen und presste den Jungen so fest gegen die Wand, dass dieser kaum mehr atmen konnte.
Verdammt, was soll das?
Das plötzlich vor Wut verzerrte Gesicht des Mannes kam bis auf ein paar Zentimeter an das Yai´ros heran. Dieser wusste nicht, was er verbrochen hatte und fragte sich ernsthaft, ob dies wohl sein Ende war – ein verlassener Nebengang wäre der perfekte Ort für einen Mord. Er blickte in die halb verrückten Augen des Kriegers und sah dort einen für ihn unerklärlichen Hass. Aber dort war noch etwas, tief unter dem Hass versteckt: Blanke Angst.
„Ich habe dem Abt gesagt, dass er dich nicht aufnehmen soll. Leider hat er nicht auf mich gehört...
Der Mann bespuckte Yai´ro beim sprechen mit einem Sprühregen aus Speicheltröpfchen.
„Er glaubt mir nicht, dass du der Auserwählte dieser beschissenen Rhuner bist und hat natürlich wie bei den anderen Gefangenen seine „O du großer Krieger – willst du bei uns mitmachen?“ - Nummer abgezogen. Ich sage dir eines, Yai´ro, oder wie du sonst heißt: Ich weiß genau, wer du bist und was du vorhast. Ich darf dir nichts tun, aber ich kenne jemanden, der sich sehr für dich interessieren wird!“
Die vor Wut brennenden, braunen Augen des Mannes bohrten sich gnadenlos in die blauen, verängstigten Yai´ros. Dieser bekam umso mehr Angst, als er bemerkte, dass es keinen Ausweg aus dieser Situation gab: Er saß in der Klemme, gegen die Wand gepresst hatte er keinen Fluchtweg und konnte sich gegen den zweifellos stärkeren Krieger kaum wehren. Falls niemand anderer hier vorbeikam, konnte der Mann mit ihm machen, was er wollte.
„Ich gebe dir einen Tipp, Junge: Verhalte dich ruhig und mach keinen Unsinn. Dann bleibst du vielleicht am Leben!“
Für einige Sekunden wurde es still, nur vom entfernten Hauptkorridor drangen noch Geräusche herüber.
Schließlich packte der Krieger Yai´ro am Oberarm, riss die Tür, neben der sie gestanden hatten, auf und stieß den Jungen so heftig hinein, dass er stolperte und beinahe zu Boden fiel. Während er sich wieder aufrappelte, wurde die Tür von außen geschlossen.

„He, Junge! Was stürzt du hier so rein?“
Yai´ro sah auf. Er befand sich in einem relativ großen Raum, an dessen Türseite Regale mit den verschiedensten Waffen aufgestellt waren – anscheinend handelte es sich um eine Trainingshalle. Durch einige Lücken in der gegenüberliegenden Wand fiel Licht herein und beschien das Geschehen in dem Raum:
Ein Haufen von scheinbar angehenden Kriegern in verschiedenen Kleidern führte Kampfübungen aus, eine schwarz gekleidete Kriegerin – angesichts ihrer deutlichen Wölbungen und ihrem langen, braunen Haar musste es sich um eine Frau handeln – leitete den Unterricht.
„Du bist doch Yai´ro, oder?“
Yai´ro nickte bloß. Ihm lag das, was der Krieger gesagt hatte, noch viel zu schwer im Magen, als dass er hätte sprechen können.
„Gut. Yai´ro, du wartest, bis wir mit dem Training fertig sind. Danach kommst du dran!“
Yai´ro ging an der Wand entlang und lies sich in einer stiller Ecke nieder. Während der Kampfunterricht fortgesetzt wurde, verfiel er in düstere Gedanken. Sein Kopf schien dem Bersten nahe, angesichts dem, was in den letzten Tagen geschehen war.
Er hatte in der Arena von Manta gekämpft, wobei sein bester Freund ums Leben gekommen war, hatte seinen bisher unbekannten Onkel getroffen und erfahren, dass er der Auserwählte eines uralten Herrenvolks war. Gleich darauf war er von schwarz gekleideten Kriegern entführt und zu einem Krieger des Ordens ernannt worden. Und, zu guter Letzt, sprach ein anderer Krieger eine Todesdrohung gegen ihn aus.
Das alles wuchs ihm deutlich über den Kopf. Er hatte keine Ahnung, was alle von ihm wollten – eigentlich wusste er nicht einmal, was er selbst wollte.
Sollte er mit Paryn nach Rhun gehen oder versuchen, nach Manta zu seiner Mutter zurückzukehren?
Momentan musste er wohl versuchen, das Beste aus der Situation zu machen und wieder mit Paryn zusammenzutreffen. Für alles andere würde später auch noch Zeit sein. Überhaupt wäre es schwer, jetzt noch nach Manta zurückzukehren. Er wusste ja nicht einmal, wo er selbst war!
Warum war er überhaupt mit Paryn gegangen?
Ich wollte nur eine Weile von Manta weg, bis sich die Leute nicht mehr an den Vorfall in der Arena erinnern. Danach wäre ich wieder zurückgekehrt!, sagte eine Stimme in seinem Inneren. Aber war das wirklich die Wahrheit? Wohl eher nicht.
Eigentlich war er aus einem anderen Grund mitgegangen und wollte sich das nur nicht eingestehen.
Ihn, der nie einen Vater gehabt hatte, hatte die Vorstellung von einem Abenteuer mit seinem Onkel so sehr gereizt, dass er ohne viele Fragen mitgekommen war. Außerdem hatte er gedacht, dass er so seine persönlichen Ziele erreichen konnte: Wenn er den Arena-Kampf schon nicht gewonnen hatte, konnte er auf diese Weise lernen und etwas von der Welt sehen!
Aber was war mit seiner Mutter? Er hatte sie völlig ahnungslos zurückgelassen! Was würde sie bloß von ihm denken?
Ihm fiel wieder der Satz ein, den seine Mutter früher so oft zu ihm gesagt hatte:
„Jedes Wesen hat seine Bestimmung, Yai´ro. Auch du, und du musst ihr unbedingt folgen – auch wenn sie von mit wegführt!“
Also gut, Mama. Ich werde dich beim Wort nehmen...
„Yai´ro! Komm mal her!“
Yai´ro sah auf. Die meisten Kampfschüler hatten den Raum bereits verlassen, die übrigen machten sich ebenfalls bereit dazu. Die Kriegerin stand in der Mitte des Raumes und sah ihn an – anscheinend hatte er einiges verpasst.
Steif vom langen Sitzen erhob er sich und näherte sich der Frau, die wohl eine Kampf-Lehrerin war.
„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte ihn diese. „Siebzehn?“
„Fünfzehn“, antwortete Yai´ro trocken. Ihm war nicht nach langen Gesprächen zumute – aber eines interessierte ihn doch.
„Wie heißen sie?“
Die Kriegerin, die gerade dabei war, Waffen für das Training zu holen, drehte sich zu ihm um und sah ihn etwas verstört an. Doch plötzlich hellte sich ihr Gesicht etwas auf, und sie fragte zurück:
„Du kommst wohl aus Manta, was?“
Yai´ro nickte verwirrt.
„Hör mal, Junge. Es kann schon sein, dass es in Manta Sitte ist, fremde Leute mit ‚Sie’ anzusprechen, aber du solltest dir langsam angewöhnen, stattdessen ‚Ihr’ zu benutzen. Ich heiße übrigens Niktora!“
Yai´ro nickte abermals – er war schon wieder belehrt worden.
Die Kriegerin suchte indessen in den Regalen nach geeigneten Waffen für das Training.
„Ich denke, wir sollten mit einfachen Waffen beginnen“, rief sie Yai´ro zu und zog zwei Holzschwerter aus einer Kiste. „Hier – fang!“
Sie warf Yai´ro eines der Schwerter zu und er fing es geschickt auf. Zuerst starrte er die Waffe in seiner Hand nur verblüfft an, schließlich fragte er:
„Was, wir üben mit Holzwaffen?“
„Wenn du dich nicht schon vor der Schlacht verletzt willst, ja!“, kam die Antwort zurück. „So, wir fangen ganz einfach an: Ich greife an und du parierst – ich muss wissen, wie gut du bist. Bereit?“
Die Kriegerin rannte auf ihn zu und lies einen Hagel von Schlägen auf ihn einprasseln. Yai´ro kam mit dem Parieren kaum nach – inzwischen war er froh, dass sie nur Holzschwerter benutzten.
Rechts...links...oben...links...Finte – Stich! „Mist!“
Er war in den Bauch getroffen worden.
„Das war gar nicht so schlecht!“, lobte ihn die Kriegerin.
„Gar nicht so schlecht?“
Gegen diese Frau war das Insektenwesen aus der Arena in Manta ein Nichts.
„Ich habe nicht einmal zehn Sekunden lang durchgehalten!“
„Ja, aber ich habe schon viele Schüler mit dem ersten Schlag getroffen!“, lachte Niktora. „Ich sehe also, dass du etwas vom Schwertkämpfen verstehst.“
Sie trat einen Schritt zurück und nahm ihre Kampf-Grundstellung ein.
„Versuch du mal, mich anzugreifen und zu treffen. Und hab keine Angst, dass du zu fest zuschlagen könntest oder so, ich kann gut genug kämpfen!“
Yai´ro machte sich ebenfalls bereit. Niktora gab das Startsignal und er stürmte los, die rechte Hand fest um den Griff seiner Waffe geschlossen.
Er führte das Schwert von links unten nach rechts oben. Seine Gegnerin parierte zwar mühelos, taumelte aber einige Schrotte zurück. Yai´ro folgte ihr und versuchte es mit Schlägen, Stößen, Hieben, Finten und Stichen – seine Gegnerin wusste auf alles einen Konter.
Schließlich rief Niktora: „Okay, ich greife jetzt auch an!“, und das setzte sie auch in die Tat um.

Mit einem einfachen Hieb von rechts eröffnete sie ihre Schlagkanonade. Nach einigen Sekunden wurde es Yai´ro zu viel und er musste zurückweichen, doch die Kriegerin folgte ihm auf dem Fuß.
Yai´ro fing ihren Schlag ab und einen Moment lang standen sie sich Auge in Auge gegenüber, die Schwerter vor sich gekreuzt.
Dann begann die Kriegerin, Yai´ros Schwert mit dem ihren nach unten zu drücken – wenn ihr das gelingen würde, hätte sie einige Sekunden lang freie Bahn für ihre Angriffe!
Yai´ro zog sein Schwert rechtzeitig zurück und startete seinerseits einen Angriff. Mit einem einfachen Schlag von links unten nach rechts oben zwang er die Frau zum Zurückweichen, danach schwang er das Schwert nach hinten und um dreihundertsechzig Grad, bis es wieder senkrecht nach oben zeigte. Die Kriegerin schaffte es teilweise, sich vor dem Schlag zu schützen, aber die Wucht des Zusammenstoßes warf ihren Schwertarm zurück. Yai´ro hatte freie Bahn und schlug von oben zu.
Die Kriegerin schaffte es trotz allem, zu parieren.
Enttäuscht zog er sein Schwert zurück.
„Du bist echt nicht schlecht!“, lobte ihn die Kriegerin trotz allem.
„Ich habe Sie... äh, ich habe euch nicht ein einziges Mal getroffen!“
Niktora hielt einen Moment lang in ihrem Tun inne und sah Yai´ro beinahe enttäuscht an.
Sie hatte schon viele Kampfschüler unterrichtet, aber ein so ehrgeiziger Junge war ihr dabei noch selten untergekommen...
„Hör mal, Yai´ro.“
Sie packte ihn am Oberarm, um ihre Autorität klarzumachen.
„Wenn ich sage, dass du ziemlich gut bist, dann ist das auch so. Ich bin Kampflehrerin – und deshalb ist es kein Wunder, wenn du mich nicht besiegen kannst!“
Wütend, aber mehr auf sich selbst als auf die Kriegerin, sah Yai´ro zu Boden. Glücklicherweise löste die Frau die Spannung auf, indem sie sagte:
„Gut dass wir das geklärt haben. Du wirst von jetzt an bis zu der kommenden Schlacht ein Mitglied des Ordens sein, Yai´ro, und du wirst am Einsteigertraining teilnehmen – jeden Vor- und Nachmittag in dieser Trainingshalle. Falls du hungrig bist: Essen gibt es morgens und mittags im großen Speisesaal – am Ende des Hauptkorridors.“
Nach kurzem Nachdenken fügte sie hinzu:
„Ich denke, dass war alles – den Weg zu deinem Zimmer wirst du wohl alleine finden. Hast du noch irgendwelche Fragen?“
„Nein... Ja!“
Schon bei der Tür, drehte sich Yai´ro noch einmal um.
„Warum gibt es hier so viele Frauen?“
Niktora musste lachen.
„Das ist schnell erklärt. Wie du sicher weißt, ist der Kampf der Lebensinhalt eines jeden Ordensangehörigen – sowohl Jungen als auch Mädchen werden von Kind auf dazu ausgebildet. Später werden die Männer zu Kriegern und werden zu Einsätzen außerhalb des Tempels geschickt. Die Frauen hingegen bleiben hier und übernahmen Arbeiten im Tempel oder die Ausbildung der jungen Krieger – aber ihre Hauptaufgabe ist das Gebären von Kindern. Der Orden braucht ja Nachwuchs!“
Sie sah Yai´ro mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an.
„Schon seit Jahrhunderten werden bei uns Krieger gezüchtet. Nur die Besten dürfen sich fortpflanzen – so entsehen perfekte Kampfmaschinen. Der Abt kann stolz sein auf seinen Orden!“
Ihr Gesicht hellte sich wieder auf.
„Ich denke, das war genug für heute. Also, wir sehen uns morgen beim Kampftraining!“
Yai´ro nickte und verließ nachdenklich die Trainingshalle. Auf dem Weg in sein Zimmer dachte er über das eben Gehörte nach.
War es wirklich klug gewesen, sich dem Orden anzuschließen? Es war wohl seine einzige Wahl gewesen – er wollte nicht wissen, was der Abt bei einer anderen Entscheidung mit ihm angestellt hätte.
Sein knurrender Magen lenkte ihn ab. Sehnsüchtig wünschte er sich die Mittagszeit herbei, wo er endlich wieder etwas Anständiges zu essen bekommen würde.
Nach einer längeren Suche fand er endlich den Gang, an den sein Zimmer anschloss. Gedankenverloren öffnete er die Tür, trat ein und wollte sie gerade wieder schließen, als er ein leises „Miao!“ vernahm.
Hinter ihm am Boden saß eine kleine, schwarze Katze mit silbrigen Augen –
„Selena!“

6. Szene: Die Hüter der Welt


„Selena!“
Die Katze saß am Boden in der Mitte von Yai´ros Raum. Sie hatte die Nacht auf der Suche nach dem Jungen und mit der Überlegung verbracht, wie sie mit ihm Kontakt aufnehmen sollte – inzwischen war sie in beiden Punkten zu einem Ergebnis gelangt.
Yai´ro...

Yai´ro, ich muss mit dir sprechen!
Die Stimme hallte in Yai´ros Kopf wieder. Er wusste nicht sicher, ob die Worte wirklich ausgesprochen worden waren oder ob nur er sie hörte – aber eigentlich konnten Katzen ja nicht sprechen!
„Du sprichst in meinem Kopf – wie machst du das?“, fragte er das Tier laut und kam sich dabei ziemlich dumm vor.
Ich bin die Gehilfin einer Magierin und benutze folglich auch selbst Magie. Hättest du gedacht, dass ich eine echte Katze bin? Außerdem... Telepathie ist kein so großes Kunststück, wie die meisten denken!
Telepathie also. Aber das war nur eine Erklärung von vielen, die Yai´ro wollte.
„Warum bist du hier? Und was willst du mir sagen?“
Dazu muss ich erst meine richtige Gestalt annehmen, denn mit Telepathie kann ich leider keine langen Gespräche führen.
Die Katze machte einen Satz nach vorne. Während des Sprunges verformte sich ihr Körper mit einer rasanten Geschwindigkeit. Zuerst wurde er zu einer schwarzen Masse, die sich dann rasch ausbreitete und die Gestalt des Elbenmädchens annahm. Dieses kam direkt vor dem erschreckten Yai´ro zum Stehen – er hatte von der Verwandlung kaum etwas mitbekommen, das Einzige, das er gesehen hatte, war ein Schatten gewesen und dann stand plötzlich das Mädchen vor ihm...
„Du...“ Ihm stockte beinahe der Atem. „Bist du eine Elbin?“
Yai´ro kannte die Elben nur aus Erzählungen in Manta. Dort wurden sie meistens als geheimnisvolles, mystisches Waldvolk bezeichnet, das schon seit Urzeiten in den Wäldern westlich des großen Flusses lebte. Allerdings wurde in Manta nie etwas von Menschen oder Rhunern erzählt, obwohl diese Völker ja laut Paryn noch viel geheimnisvoller sein mussten...
„Richtig geraten – ich bin eine Elbin!“
Selenas Stimme klang zart wie eine laue Frühlingsbrise und dennoch herrisch – sie war es gewohnt, sich behaupten zu müssen.
„Wie du vielleicht weißt, sind wir Elben neben den Menschen und Rhunern das einzige magisch begabte Volk. Wir haben beinahe die selben Fähigkeiten wie ihr, manchmal werden wir sogar das ‚dritte Herrenvolk’ genannt. Und deshalb werde ich auch einmal die Nachfolge meiner Meisterin antreten...“
Sie unterbrach sich.
„Aber was rede ich da, wir haben nur wenig Zeit und Wichtigeres zu besprechen als das!“
„Bist du immer so schweigsam?“, fragte Yai´ro lächelnd.
Sie sah ihn strafend an.
„Spar dir deinen Humor für später, Junge!“
Das war keine Frühlingsbrise mehr, viel eher ein anschwellendes Sommergewitter, aber trotz aller Bemühungen konnte Yai´ro ein Grinsen nicht unterdrücken. Schließlich überspielte er die peinliche Situation mit einer Höflichkeitsfloskel:
„Willst du dich nicht setzen? Dann können wir uns besser unterhalten.“
Selena nahm die Aufforderung wortlos an, setzte sich allerdings auf den Tisch, um einen besseren Überblick zu haben. Yai´ro nahm ihr gegenüber auf dem Stuhl Platz.
„Wie gesagt, Yai´ro, ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen. Du schwebst in Lebensgefahr!“
„Das weiß ich inzwischen auch schon“, warf Yai´ro trocken ein. Innerhalb von fünf Minuten hatte er Selena alles erzählt, was er seit dem Morgen erlebt hatte. Sie nahm es mit Verblüffung und teilweise auch mit Erregung auf.
„Und der Krieger hat wirklich eine offene Todesdrohung gegen dich ausgesprochen?“, fragte sie.
Yai´ro nickte. „Er sagte, er dürfe mir nichts tun, aber er kenne jemanden, der sich für mich interessieren würde!“
„Saphitas Einfluss ist größer, als ich gedacht hätte...“, murmelte Selena gedankenverloren vor sich hin.
„Wessen Einfluss?“
„Oh!“ Sie sah auf – offenbar hatte er sie aus ihren Überlegungen gerissen.
„Es ist wohl am Besten, wenn ich dir alles von Anfang an erzähle, damit du dich hinterher auch auskennst. Eines darfst du aber nie vergessen: Alles, was ich dir jetzt sage, weiß ich von meiner Meisterin – ich bin nur die Überbringerin der Nachricht!“
Sie setzte sich gemütlich hin und begann eine längere Rede.
„Wie du sicher weißt, wurde unsere Welt von einer geheimnisvollen, allumfassenden Macht erschaffen, die wir ‚Urkraft’ nennen. Nach der Erschaffung der Welt, ihrer Pflanzen, Tiere und Völker zog sich die Urkraft zurück, und sie ist bis heute verschollen. Eine Legende besagt, dass sie eines Tages zurückkehren und der Welt eine neue Ordnung verleihen wird, aber das nur nebenbei. Jedenfalls lies die Urkraft bei ihrem Verschwinden drei Wesen zurück: Die Hüter der Welt, auch genannt die drei göttlichen Engel. Sie leben im Lande Celia und bewahren die Welt vor Unheil. Das Oberhaupt der Engel – sie sind übrigens alle weiblich – ist Ao, Engel des Lebens. Dann Saphita -“
Bei diesem Namen horchte Yai´ro auf.
„...Engel des Todes und meine Meisterin, Engel der Läuterung. Gemeinsam bilden sie die größte Macht überhaupt, aber leider sind sie nicht immer einig. Ao lässt alles Gute und Böse geschehen, solange es nicht die Existenz der Welt bedroht, denn so ist der Lauf des Lebens. Aber meine Meisterin und Saphita geraten andauernd aneinander. Saphita ist furchtbar eifersüchtig, musst du wissen, und sie hat viele Verbündete – es ist nicht leicht, sich gegen sie zu behaupten.
Natürlich ist es undenkbar, dass sich zwei Hüterinnen der Welt offen bekriegen, also läuft der ganze Kampf über Intrigen und Wettkämpfe ab. Saphita kann meiner Meisterin nichts antun, aber sie kann dir etwas tun! Und“, fügte sie mit gesenktem Blick hinzu, „falls das, was meine Meisterin plant, auffliegt, werden ihr möglicherweise ihre magischen Kräfte entzogen.“
Sie seufzte schwer.
„Aber damit du das verstehen kannst, muss ich dir noch etwas anderes erzählen, das mit der Geschichte der Rhuner zusammenhängt. Die wenigsten wissen es – nicht einmal Paryn, glaube ich, denn er war damals noch ein kleines Kind.
Viele würden es nicht glauben wollen, aber die Rhuner haben Korien damals nicht grundlos angegriffen. Sie waren von den beiden Herrenvölkern immer schon das Stürmischere, das Größere, das Heldenhaftere – aber auch das vergänglichere. Während die Menschen nach ihrer Erschaffung nur langsam den Aufschwung zu einer Hochkultur schafften, war dies bei den Rhunern nur eine Sache von Jahrzehnten. Sie lernten schnell, die Magie zu nutzen und wurden in ihrer Heimat tief im Süden reich und mächtig – nach einigen Jahrhunderten hatten sie bereits die Stärke der göttlichen Engel und ihres Landes Celia erreicht.
Soweit ich weiß war es Saphita, die darauf in ihrer Eifersucht die Insel Rhun in Schutt und Asche legte. Doch sie hatte die Macht der Rhuner falsch eingeschätzt, denn diese fuhren mit Schiffen nach Korien und führten über Jahre hinweg einen Krieg mit seinen Völkern – aus dieser Zeit stammt außerdem die tödliche Feindschaft zwischen Menschen und Rhunern.
Damals waren sich Saphita und Ao einig, dass man die Rhuner vollkommen auslöschen und an ihrer Stelle uns, also die Elben, als Herrenvolk einsetzen sollte. Um das zu verhindern, wollt meine Meisterin die Rhuner zur Abreise bewegen, aber diese haben nur gelacht. Schließlich hat meine Meisterin den legendären Fluch auf sie gelegt und ihnen ihre Kräfte genommen – so wurden sie vor der Vernichtung bewahrt, denn sie konnten ja keinen Schaden mehr anrichten. Saphita musste sich mit dieser Lösung zufrieden geben, aber sie wartet immer noch auf eine Gelegenheit, sich zu rächen.
Die verfluchten Rhuner sind seit damals, also seit ziemlich genau zweitausend Jahren an die südlichen Strände Koriens gebunden. Sie können das Gebiet nicht verlassen, und niemand würde es betreten. Inzwischen werden diese Küsten sogar schon Rhun genannt, denn das wirkliche Rhun, die Insel im Süden, ist unbewohnt.
Meine Meisterin will natürlich nicht, dass dein Volk ewig verflucht bleibt, Yai´ro, und deshalb sollte es, wenn die Rhuner und die Engel ihren Zorn vergessen haben, eine Person geben, die aus eigener Kraft den Fluch bricht, den meine Meisterin nicht brechen darf. Ao wird die Rhuner nicht aufhalten, solange sie keinen neuen Krieg beginnen.
Die Rhuner warten auf diese Person, ihren Auserwählten, der sie von dem Fluch erlösen und in die alte Heimat zurückführen soll. Und wie du ja schon weißt, hätte dieser Auserwählte dein Vater sein sollen!
Es hätte auch alles geklappt, wenn dein Vater sich nicht seinem Schicksal widersetzt hätte und einige Jahre vor seinem planmäßigen Auftritt nach Manta gegangen wäre. So hat Saphita von der Sache mit dem Auserwählten erfahren und, weil sie nicht wollte, dass die alte Macht der Rhuner wieder aufersteht, deinen Vater getötet.“
Yai´ro schluckte schwer. Das war es also: Sein Vater war ermordet worden.
„Was Saphita aber nicht weiß“, fuhr Selena unbeirrt fort, „ist, dass es dich gibt, und dass du die Kräfte deines Vaters in dir trägst. Vielleicht sollte dir das jemand Anderer sagen Yai´ro – aber du musst es erfahren: Du bist die letzte Hoffnung deines Volkes!“
Mit einem euphorischen Glitzern in den Augen sprach sie weiter.
„Nach dir wird es keinen mehr geben, der die Rhuner retten kann, Yai´ro. Du bist der Letzte – und es wird nicht mehr lange dauern, bis Saphita von deiner Existenz erfährt!“
Yai´ro hatte Selenas Erzählungen die ganze Zeit gespannt gelauscht, und als sie endete, erwachte er wie aus einer Trance.
Er war noch verwirrt von dem, was er soeben gehört hatte.
Jeder Korianer wusste, dass die Welt von der Urkraft erschaffen worden war, und er hatte auch schon Geschichten von den Hütern der Welt gehört – auch wenn er sie nicht ernst genommen hatte. Dagegen war ihm das meiste aus der Geschichte der Rhuner neu. Er tat sich schon schwer, sich mit diesem Volk zu identifizieren, aber sein Auserwählter zu sein war ihm eindeutig eine Nummer zu groß... Es ging ihm einfach alles zu schnell.
Abgesehen davon hatte er das Gefühl, dass die Taten der göttlichen Engel nicht mehr viel mit Göttlichkeit, sondern eher mit Politik zu tun hatten.
„Yai´ro! Hörst du mir überhaupt zu?“
Yai´ro schreckte aus seinen Gedanken hoch. Er befand sich weder im Land Celia noch im alten Rhun. Ganz im Gegenteil: Er befand sich im Tempel, dem Hauptquartier des Ordens, und war in einen Krieg verwickelt, der ihn nichts anging.
„Ich sagte, dass wir während der kommenden Schlacht fliehen müssen, denn der Abt wird dich sicher nicht freiwillig gehen lassen. Wenn wir Glück haben, treffen wir sogar auf Paryn – meine Meisterin hat versprochen, sich darum zu kümmern. Dann müssen wir versuchen, nach Faanland zu kommen. Wenn es uns gelingt, die Unterstützung oder zumindest den Schutz der Menschen zu bekommen, sind wir auch für eine Weile von Saphita sicher. Bis dort hin müssen wir sehr vorsichtig sein, denn ich kann dich nicht vor dem Engel des Todes schützen!“
Yai´ro nickte verständnisvoll.
„Alles klar“, meinte er, obwohl ihm noch Tausende Fragen im Kopf herumschwirrten und auf Antworten warteten. „Aber eine Frage habe ich noch: Du hast gesagt, wenn das, was deine Meistein plant, auffliegt, kann ihr ihre Kraft entzogen werden. Warum?“
„Das...“, begann Selena, doch im selben Moment klopfte es an der Tür.
Mit einem Satz sprang sie auf und rollte sich als Katze unter den Tisch, wo sie keuchend liegen blieb.
Yai´ro ging zu Tür und öffnete diese. Draußen stand ein jungen Krieger, etwa in seinem Alter. Braune Augen lugten unter dem ebenso braunen Haar hervor, welches bis auf die Schultern, die wie der Rest des muskulösen Körpers mit schwarzem Leinen bekleidet waren, fiel.
„Hallo! Bist du Yai´ro? Ich heiße Sertjego. Ich soll dir den Speisesaal zeigen...“
Der Krieger unterbrach sich, als er bemerkte, dass Yai´ro ihm kaum zuhörte. Dieser füllte die peinliche Stille mit einem Lächeln und folgte dem jungen Mann hinaus auf den Gang.
Wir sprechen später weiter, hörte er Selenas Stimme in seinem Kopf. Aber ich werde eine Weile lang eine Katze bleiben, die Verwandlung kostet mich zu viel Kraft...

In den darauffolgenden Tagen gewöhnte sich Yai´ro immer mehr an das System des Ordens. Die typische schwarze Kleidung tragend, kam er auch rasch mit dem Tagesablauf im Tempel zurecht.
Er stand früh auf und verbrachte den Vormittag beim Kampftraining, danach hatte er zwei Stunden Pause, in denen er mit den anderen Kriegern zu Mittag aß und sich entspannte. Anschließend trainierte er wieder den ganzen Nachmittag und fiel am Abend erschöpft ins Bett – denn Abendessen gab es keines. Nachts führte er oft stundenlange Gespräche mit Selena, was zur Folge hatte, dass die beiden, obwohl Selena immer noch die Gestalt einer Katze hatte, gute Freunde wurden.
Im Kampftraining meinte Niktora, dass Yai´ro deutliche Fortschritte machte. Natürlich konnte sich in einer so relativ kurzen Zeit seine körperliche Verfassung kaum ändern – das hätte er auch nicht nötig gehabt – was sich veränderte, war sein Kampfstil.
Er führte das Schwert vollkommen anders als früher. Anstatt Bögen und Kreisen vollführte er kurze, kraftvolle Streiche, wodurch er beinahe doppelt so viele Schläge anbrachte wie zuvor. Außerdem lernte er den Unterschied zwischen Fechten und Schwertkampf kennen: Fechttechniken waren bei einem Zweikampf mit Schwertern sinnvoll, den Schwertkampf dagegen benutzte man gegen andere Waffengattungen oder in großen Schlachten.
Am frühen Abend nach dem Training unternahm Yai´ro oft mit Sertjego und einigen anderen Jungen weite Streifzüge durch den Tempel, wobei sie ihre Umgebung gut kennen lernten – ob das erlaubt war, wussten sie nicht genau, aber sie fragten auch nicht nach und ließen sich nie erwischen. Yai´ro erfuhr, dass die andern Jungen auch nicht beim Orden geboren, sondern zu Kriegern verpflichtet worden waren. Das war eigentlich auch logisch, denn sie hatten sich alle beim Einsteigertraining kennen gelernt, und dort hatte ein richtiger Ordensangehöriger in ihrem Alter wohl nichts mehr verloren.
Die meisten der Jungen hatten in den Hügellanden gelebt, bevor der Orden sie aufgegriffen hatte, andere in Manta oder am großen Fluss. Aber egal, von wo sie kamen, eines hatten sie alle gemeinsam: Ihnen war allen versprochen worden, dass sie nach einer gewissen Zeit wieder gehen durften, und einige waren nun schon seit über fünf Jahren beim Orden.
Bei ihren Streifzügen entdeckten die Jungen mehr als nur den Hauptkorridor mit seinen Seitengängen, wo auch ihre Zimmer lagen – übrigens hatten alle von ihnen nach einer gewissen Zeit ihre Einzelzimmer verlassen und in Gemeinschaftsräume mit mindesten fünf anderen Jungen ziehen müssen.
Sie fanden die Küche, eine riesige Halle angefüllt mit Speisen und herumwimmelnden Bediensteten. Sie stahlen bei mehreren Gelegenheiten sogar Essen von dort, wobei es natürlich weniger der Hunger als die Spannung war, die sie antrieb. Später drangen sie auch in andere Stockwerke des Tempels vor, wo sie unter anderem geheime Nebenausgänge aus dem Gebäude entdeckten. Darauf begannen sie, gemeinsam Fluchtpläne zu schmieden. Doch als Yai´ro Selena davon erzählte, meinte diese bloß, dass es Unsinn sei und der Plan ihrer Meisterin ohnehin perfekt wäre. Schließlich entschieden sich die Jungen, die Sache abzublasen.
Yai´ro unterhielt sich überhaupt sehr oft mit Selena. Manchmal kam er deshalb kaum zum Schlafen, was auch im Kampfunterricht negativ auffiel, glücklicherweise aber kaum größere Auswirkungen hatte.
Sie sprachen über viele Dinge, über banale Alltäglichkeiten wie das Leben beim Orden, andererseits auch über ihre Mission, nach Rhun zu gelangen und die voraussichtliche Reiseroute. Meistens aber erzählten sie sich einander von ihrem bisherigen Leben und den Ereignissen, die darin eine Rolle gespielt hatten.
„Ich bin jetzt hundertzwölf Jahre alt.“, meinte Selena einmal, als Yai´ro sie danach fragte. „Das ist für mich, als Gehilfin des Engels der Läuterung, relativ wenig. Meine Meisterin musste mir viel beibringen, weil ich in dieser kurzen Zeit nicht genügend Erfahrung sammeln konnte. Jedenfalls sehe ich immer noch wie ein Mädchen aus, weil ich mit sechzehn Jahren das ewige Leben erlangt habe!“
Yai´ro sagte der Begriff ‚ewiges Leben’ noch nichts, deshalb fragte er weiter, und Selena erklärte ihm, dass nur Angehörige der Herrenrassen oder Elben das ewige Leben erlangen konnten.
„Nur die wenigsten erreichen es, und zwar die Starken, Mächtigen und magisch Begabten. Es bedeutet einfach nur, dass man in dem Moment, in dem man den Höhepunkt seines Lebens erreicht hat, nicht mehr altert und demnach auch nicht stirbt. Natürlich kann man immer noch durch Krankheiten, Unfälle oder Waffen sterben, aber die körperliche und magische Kraft wird bis zum Tod aufrecht erhalten. Ich zum Beispiel wurde in dem Moment unsterblich, als ich zum ersten Mal meine Meisterin traf. Die göttlichen Engel sind natürlich schon seit ihrer Erschaffung unsterblich. Ein Beispiel, das dir wohl mehr sagen wird, ist Paryn. Er hat das ewige Leben wohl während der rhunischen Kriege erlangt...“
In einer anderen Nacht erzählte Selena von der Bedeutung der Herrenrassen. Sie erklärte Yai´ro, dass die drei Herrenvölker, denn ihrer Meinung nach musste man die Elben auch zu ihnen zähen, als eine Art Muster für die anderen Rassen geschaffen wurden. Nach dem Vorbild der Menschen, Rhuner und Elben kreiert, hatten alle Völker in etwa die selbe Gestalt und hingen nahezu von den gleichen Lebensvoraussetzungen ab, außerdem war jede Rasse in Männer und Frauen unterteilt.
Auf dieses Gespräch hinauf beobachtete Yai´ro die Ordensangehörigen genauer und fragte sich, welcher Rasse sie wohl angehörten. Allerdings waren die Ordenskrieger, wie er schon von mehreren Seiten gehört hatte, über Jahrhunderte hinweg aus verschiedenen Rassen gezüchtet worden. Demnach würde sich kaum noch eine Volkszugehörigkeit feststellen lassen.

Alles in allem gefiel Yai´ro das Leben beim Orden sehr gut. Er hatte in Sertjego und einigen anderen Jungen neue Freunde gefunden, und auch Selena stand ihm immer mit Rat und Tat zur Seite. Außerdem durfte er den ganzen Tag lang seiner großen Leidenschaft, dem Schwertkämpfen, nachgehen; und zur Krönung des Ganzen nahm sich eine nette und seiner Meinung nach geniale Kampflehrerin seiner an.
Viele andere Jungen hätten unter diesen Umständen ihr früheres Leben vergessen und wären für immer beim Orden geblieben, aber nicht so Yai´ro.
Er hätte nicht einmal Selena oder die Erinnerung an seinen Onkel Paryn benötigt, um die Rhuner nicht zu vergessen, denn er hatte sich selbst ein Ziel gesetzt:
Er wollte wieder auf Paryn treffen und mit ihm und Selena gemeinsam den Weg nach Rhun bestreiten. Ob er dann den Auserwählten spielen würde, wusste er noch nicht. Aber zumindest wollte er sein Volk kennen lernen!
Das war alles, was er zur Zeit erreichen wollte, es war sein Ziel – und bisher hatte er noch jedes ernstgemeinte Ziel erreicht, das er sich gesetzt hatte.

7. Szene: Flucht aus der Fabrik


Paryn saß in einem düsteren Raum im Inneren der Fabrik. Seine Hände waren an einen metallenen Stuhl gefesselt, und in sein Gesicht schien eine grelle Lampe. Das Licht blendete ihn, so dass er die Soldaten der Fabrik, die ihn bewachten, kaum sehen konnte.
„Wie ist ihr Name?“, fragte eine schneidend kalte Stimme aus dem Dunkeln.
„Ich heiße Paryn.“
„Was wissen sie über den Orden?“
„Gar nichts!“, antwortete er wahrheitsgemäß.
„Lügen sie nicht!“, fuhr die Stimme auf. „Sie sind ein Spion des Ordens!“
„Bin ich nicht!“, brüllte Paryn zurück. Er hatte ja gewusst, das die Fabrik und der Orden Feinde waren, aber mit Verfolgungswahn hatte er nicht gerechnet. Trotzdem hätte er nicht schreien sollen, denn plötzlich spürte er einen kalten Gewehrlauf an der Schläfe.
„Wie sie meinen, Paryn.“
Die Stimme klang wieder so wie zuvor, wie ein kalter Windhauch, der aus dem Nichts kam und ins Nichts ging.
„Wir werden sie jetzt unserer Forschungsabteilung überantworten. Sie haben noch genügend Zeit, um die Sache zu überdenken, bevor sie für wissenschaftliche Experimente verwendet werden...“
Einige Sekunden lang herrschte Stille, dann wurde die Lampe abgeschaltet und Paryn, der immer noch weiße Lichtpunkte sah, aus dem Raum geschafft.
„Bringt ihn in seine Zelle zurück!“, tönte ein Befehl aus der Dunkelheit. „Er hat noch ein paar Stunden Zeit, danach schafft ihr ihn zur Forschungsabteilung!“

Paryn lag erschöpft auf dem kalten Boden seiner Zelle. Das Verhör hatte ihn ganz schön mitgenommen.
Keuchend versuchte er aufzustehen, nur um sofort wieder niederzusinken. Hier lag er, und hatte keine Ahnung, was er den Soldaten erzählen sollte. Trotzdem sagte ihm eine leise Stimme in seinem Hinterkopf, dass er Yai´ro leiten musste – sonst würden die Rhuner wohl nie erlöst werden. Nur, wie sollte er das zustande bringen?
Er hatte, seit er sich in der Gefangenschaft der Fabrik befand, kaum Nahrung zu sich genommen. Die einzige Leistung, die sein Körper noch erbrachte, war, am Leben zu bleiben – und dieses Leben würde in wenigen Stunden bei wissenschaftlichen Experimenten ausgelöscht werden.
Das konnte nicht richtig sein!
Er wusste nicht, wie viele Tage oder Wochen er schon in dieser Zelle verbracht hatte, wusste nicht, wie oft er schon verhört und gefoltert worden war, oder ob Teile seines Körpers wegen mangelnder Energiezufuhr abgestorben waren. Er konnte sich kaum bewegen, und doch hatte er das alles durchgehalten!
Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, sich von den körperlichen und geistigen Qualen zu erlösen, aber er war stark geblieben. Stark durch den Gedanken an sein Volk und an seinen Neffen.
Erfüllt mit neuer Überzeugung und Lebenswillen schaffte er es, sich zu erheben. Die Fabrik würde ihn trotz allem nicht unterkriegen. Wenn es sein musste, würde er mit einem Lächeln in den Tod gehen!
Hinkend gelangte er bis zur Tür, an der er sich abstützen musste, denn die Schwäche behielt trotz allem die Oberhand. Was sollte er jetzt unternehmen? Er hatte es geschafft, einige Schritte zu gehen, aber das war auch schon alles. Er konnte diese Tür nicht öffnen! Ein weiteres Mal fiel ihm auf, wie ihm seine magischen Kräfte immer noch fehlten.
„Engel der Läuterung!“, dachte er. „Du hast uns die Gelegenheit gegeben, den Fluch zu brechen. Willst du wirklich, dass wir hier scheitern? Hier, in der Fabrik?“
Er rang nach Atem. Sogar das Sprechen kostete ihn Kraft.
„Ich flehe, dich an, Engel der Läuterung. Hilf uns!“
Mit einem Ruck ging die Tür auf und Paryn, der keinen Halt mehr hatte, fiel rücklings auf den Gang. Über sich erkannte er nur schemenhaft eine Gestalt, die ihn aus dem von Neonlicht durchzogenen Halbdunkel musterte.
„Seid ihr... Paryn?“
Die Stimme klang schnarrend, ähnlich wie das Fauchen eines Reptils und so tonlos wie das Schleifen zweier Steine aufeinander.
„Ja!“, brachte Paryn mit letzter Kraft hervor.
Das Wesen zögerte einen Moment lang, dann kniete es sich nieder und half dem Rhuner dabei, sich aufzusetzen. Es lehnte ihn gegen eine Wand und gab ihm aus einer kleinen, kristallenen Flasche zu trinken. Paryn trank gierig. In großen Schlucken stürzte er die grünliche Flüssigkeit hinab und spürte sofort, wie Energie seinen Körper durchströmte.
Nach einigen Sekunden des Wartens fand er endlich die Kraft, sich auf seinen Retter zu konzentrieren. Zwar sah er immer noch alles verschwommen, aber er konnte die Rasse des Wesens auch nach dem Geruch bestimmen: Es handelte sich um einen Levian, einen Wüstenbewohner.
Sobald die Flüssigkeit in seinen Blutkreislauf gelangt war, wirkte sie schnell. Desto klarer er denken konnte, desto tiefer bohrte sich eine Frage in sein Gehirn:
Was suchte ein Levian in der Fabrik?
Ihm verlangte das Sprechen immer noch große Mühe ab, trotzdem stellte er eine entsprechende Frage.
„Ich bin ein Gesandter des Engels der Läuterung!“, antwortete die Schnarrende Stimme, und Paryn atmete erleichtert auf. Es gab also doch noch … Wunder.
„Meine Herrin hat mir den Auftrag gegeben, euch zu befreien“, fuhr der Levian fort. „Aber ich kann euch nicht bei der Flucht helfen! Das Mittel, das ihr getrunken habt, wird euch für einige Stunden Kraft geben. Zu Fuß zu fliehen wäre also nicht ratsam... Aber die Fabrik zieht zu einer Schlacht aus, und in diesem Trubel würde niemand bemerken, wenn ein Fahrzeug fehlt!“
Paryn konnte von Sekunde zu Sekunde besser sehen. Der Levian trug, wie er allmählich erkennen konnte, die Kleidung eines hohen Offiziers der Fabrik. In den Händen hielt er ebenfalls eine Offiziersuniform, zu einem kleinen Bündel zusammengeschnürt.
Den Sinn dieser Kleider verstand er erst später, als seine Kraft wieder beinahe komplett zurückgekehrt war und sich der Gesandte mit den Worten „Viel Glück!“ verabschiedete.
Das Wesen trat zurück, und rund um es loderten blaue Flammen auf. Paryn wunderte sich nicht darüber, dass ein Wüstenbewohner Magie anwendete, denn er wusste, dass die göttlichen Engel ihre magische Kraft mit anderen Wesen teilen konnten.
Der Levian verschwand in einem blauen Funkenregen, und die klein verpackte Uniform fiel allein zu Boden. Sie war ganz offensichtlich als Hilfsmittel für ihn gedacht.
Es dauerte kaum eine Minute, bis er die Kleidung gewechselt und sein rotes Haar unter der Offizierskappe versteckt hatte. Seine eigene Kleidung nahm er ebenfalls mit sich, denn er wollte nicht ewig in der unbequemen Uniform stecken.
Auf diese Weise perfekt getarnt, machte er sich auf die Suche nach einem geeigneten Fahrzeug für die Flucht. Im gesamten Gefängnistrakt war keine einzige Wache stationiert; folglich fiel es ihm nicht schwer, in einen der vielen Aufbewahrungsräume für Gefangenen-Eigentum einzubrechen. In der kleinen Kammer, die zwischen zwei Zellen gezwängt nicht viel Platz bot, entdeckte er unter Bergen von Müll das, wonach er gesucht hatte: Waffen.
Schwerter, Schilde, Säbel, Lanzen, Piken, Keulen, Messer und Bögen, aber auch Gewehre und andere Waffen der Fabrik stapelten sich in dem engen Raum. Nach kurzem Überlegen bewaffnete sich Paryn mit einem kurzen Säbel und füllte das leere Halfter an seinem Gürtel mit einer Pistole. Er wusste zwar nicht viel über die Waffen der Fabrik, aber die Benutzung hatte er alleine vom Zusehen verstanden.
Außerdem versteckte er einige leichte Wurfäxte unter seinem mit Abzeichen bestickten Offiziersmantel.
Gut ausgerüstet und mit einem Gefühl der Sicherheit setzte er seine Suche so bald wie möglich fort. Er wollte nicht zu viel Zeit verlieren, denn er wusste nicht, wie lange der Trank des Levians noch wirkte.
Eine Weile lang irrte er in den Gängen der Fabrik herum, bis er endlich den Übergang zum mittleren Teil des Hauptgebäudes und dort den Ausgang ins Freie entdeckte. Ein Fahrzeug würde er am ehesten bei einer der Werkstätten finden, das wusste er noch von seiner Ankunft. Also versuchte er, möglichst unbemerkt auf das freie Gelände zu gelangen, was allerdings als sehr schwierig herausstellte: denn umso näher er seinem Ziel kam, umso mehr Soldaten begegnete er. Schließlich musste er resigniert feststellen, dass im Freien eine Vollversammlung der Soldaten stattfand. Anscheinend war die Fabrik wirklich dabei, in den Krieg zu ziehen.
Paryn trat aus einem Seitentor des Hauptgebäudes hinaus auf den mit Soldaten gefüllten Platz, der sich vom Eingang des Tals bis zu den Werkstätten und Rauch speienden Schloten erstreckte. Dort, am anderen Ende des Tals, war ein Podest aufgebaut worden, von dem aus er , der Vorstand der Fabrik, zu seinen Soldaten sprach.
Paryn konnte ihn über das Meer von Männern sehen: Ein junger, hochgewachsener Mann, dessen von Kraft strotzende Körper in einer Uniform beengt und eingesperrt wirkte. Sein blondes, wirres Haar wurde von einer Generalskappe bedeckt; nur wenige Zentimeter darunter bildeten zwei hellblaue Augen den Mittelpunkt des entschlossenen Gesichtes.
Der große Rat der Fabrik sammelte sich um den jungen Mann, der seinen Kriegern Mut zusprach und ihnen versicherte, dass der Orden leicht zu schlagen sei. In dem Klang seiner Stimme lag mehr als nur Entschlossenheit, es war Begeisterung – vielleicht aber auch Verzweiflung.
Es war egal, was dieser Mann seinen Soldaten einredete, oder welche grausamen Kämpfe er sie bestreiten lies. Denn er lebte mit ihnen!
Viel Zeit war vergangen, seit Paryn das letzte mal einen solchen Herrscher gesehen hatte, viel zu viel Zeit... Er erinnerte sich nur noch schwach an den Mann, den er mit diesem Gedanken verband: Der alte Anführer der Rhuner.
Trotz des Krieges hatten die Rhuner unter diesem Führer eine Gemeinsamkeit erlabt, wie sie später nie wieder existiert hatte. Es hatte schon viele Versuche gegeben, das Volk wieder zusammenzuführen, doch bisher waren alle gescheitert. Auch Paryn selbst hatte es nur geschafft, die überlebenden Rhuner zu sammeln, nicht aber, sie zu vereinen . Würde Yai´ro das gelingen?
Yai´ro... die Rhuner...
Paryn erwachte wie aus einer Trance. Der Vorstand hatte es wohl wirklich geschafft, ihn in seinen Bann zu ziehen. Und dann die Sache mit den Rhunern...
Um auf keinen Fall wieder in Gedanken zu versinken, sah er sich unauffällig um.
Der Vorstand sprach immer noch, und die Soldaten lauschten begierig. Jedes der Worte, die der junge Mann mit seiner von Zorn, Liebe und Entschlossenheit durchzogenen Stimme aussprach, wirkte für sie greifbar. Er war ihr Ideal, ihr Führer – und sie würden ihm bis ans Ende der Welt folgen.

Um den Vorstand herum saß im Halbkreis der große Rat der Fabrik, bestehend aus vier Mitgliedern:
Von links vorne beobachtete eine dürre Sligerin mit langem Hals und kleinem Kopf das Geschehen; etwas weiter hinten räkelte sich ein massiges Amphibienwesen vom Volk der Hanaii; von rechts hinten blickte ein kleiner, knochiger und anscheinend etwas in die Jahre gekommener Kunan in die Menge; und rechts vorne saß – zu Paryns großer Verwunderung – der Levian, der ihn erst vor einer knappen Stunde aus der Zelle befreit hatte.
„Die göttlichen Engel haben ihre Anhänger wohl wirklich überall!“, dachte er und unterdrückte ein Grinsen.
Es kostete ihn abermals viel Mühe, seinen Blick von dem Podium loszureißen. Nachdem es ihm endlich gelungen war, machte er sich auf den schwierigen Weg zur nächsten Werkstätte. Er musste sich durch die Menge drängeln, ohne dabei aufzufallen. Außerdem bemühte er sich, dem Vorstand nicht zu nahe zu kommen, was ebenfalls kein leichtes Unterfangen war.
Seine mit schwarzen Stiefeln bekleideten Füße glitten lautlos über die zertrampelte Erde, flüsternd verschaffte er sich seinen Weg. Er hätte es wohl kaum geschafft, wenn er nicht die Offiziersuniform getragen hätte, denn die Soldaten hatten gewaltigen Respekt vor ihren Vorgesetzten und machten so auch für Paryn problemlos den Weg frei.
Nach einer halben Ewigkeit wurde die Menge lichter und die erste Werkstatt mit einigen Fahrzeugen kam in Sicht. Paryn stellte verwundert fest, dass der Vorstand immer noch sprach. Aber solange deshalb niemand auf ihn achtete, sollte es ihm recht sein.
Er steuerte auf ein mittelgroßes, überdachtes Kampffahrzeug zu, das gerade von einigen Technikern überprüft wurde. Die meisten der Arbeiter kletterten in oder auf dem Wagen herum. Die beiden Sitze, die Lenkautomatik, das Raketenabschussrohr am hinteren Teil des Wagens, das mit Tarnfarben bemalte Blech; alles wurde untersucht und von dem einzigen Techniker, der etwas abseits stand, in eine Liste eingetragen.
Auf den zuletzt genannten Mann ging Paryn gemessenen Schrittes zu. Er beschloss, seine Uniform noch einmal auszunutzen.
„Sind Sie der Leiter des Mechanik-Teams?“
„Ja, Sir! Wir sind gerade dabei, die Überprüfung abzuschließen!“
„Gute Arbeit“, lobte Paryn und musste sich ein Lächeln verkneifen. „Können Sie mir die Benutzung dieses Fahrzeugs erklären?“
Der Techniker sah Paryn verwundert an. Jedes Mitglied der Fabrik musste mit diesem Fahrzeugtyp umgehen können! Andererseits war es doch ein Offizier, dem er gegenüberstand. Sich zu wiedersetzen war gewiss nicht ratsam...
Paryn bemerkte die Unsicherheit des Technikers. Um nicht aufzufallen, zielte er auf den Ehrgeiz des Mannes:
„Sie müssen wissen, dass ich eine Inspektion der Mechanik-Teams durchführe. Die Fabrik will alle unkompetenten Arbeitskräfte entsorgen...“
„Oh!“, stieß der Mann aus. Es dauerte kaum eine Minute, bis er Paryn die Funktionen von Lenkrad, Pedalen und Armaturenbrett erklärt hatte. Der Rhuner hatte zwar noch nie zuvor derartige Konstruktionen gesehen, geschweige denn gelenkt, schaffte es aber trotzdem, den Ausführungen des Mechanikers zu folgen.
„Dieser Energie-Regler ist zum Starten des Fahrzeugs vorhanden. Mit dem Lenkrad bestimmen Sie die Richtung, in die Sie sich fortbewegen; die Geschwindigkeit können sie mit Hilfe der Pedale kontrollieren: Das linke steht für Fahrt, mit dem rechten wird gebremst. Das war eigentlich schon alles... nein, ich habe das Raketenrohr vergessen. Es lässt sich ganz einfach über die Hebel in der Mitte steuern. Mit diesen beiden kann es horizontal und vertikal ausgerichtet werden, das hier ist die automatische Zielerfassung. Mit diesem Griff zur Rechten wird die Rakete scharf gemacht und abgeschossen. Die nächste wird automatisch in den Lauf gelegt; insgesamt stehen Ihnen fünf Sprengköpfe zur Verfügung. Haben Sie noch Fragen?“
„Nein...“, antwortete Paryn, der die Flut an Informationen noch verarbeiten musste. „Das war wirklich gute Arbeit! Sie können jetzt gehen, ich werde das Fahrzeug selbst noch einmal überprüfen.“
Ohne weitere Fragen zu stellen, kletterte der Techniker aus dem geschützten Cockpit des Fahrzeugs. Während Paryn sich mit einiger Mühe auf einem der Sitze niederließ, rief er seine Leute zusammen und begann mit der Inspektion der nächsten Maschine.
„Solcher Gehorsam gefällt mir!“, knurrte Paryn zufrieden, bevor er seine Aufmerksamkeit komplett dem Fahrzeug zuwandte. Er untersuchte die Kontrollen, die Pedale und das Lenkrad. Mit Hilfe dessen, was er sich von den Worten des Technikers gemerkt hatte, gelang es ihm sich mehr oder weniger zu orientieren – sein großes Glück war, dass er unbemerkt ein elektronisches Fahrzeug mit automatischer Gangschaltung ergattert hatte.
Die Rede des Vorstands beschäftigte die Soldaten viel zu sehr, als dass sie Paryn bemerkt hätten. Dieser aktivierte vorsichtig die Energieversorgung seines Fahrzeugs, um dann langsam an der Menge vorbei zum Ausgang des Tals zu rollen. Jede seiner Bewegungen war begleitet von dem Gedanken, ja keine Aufmerksamkeit zu erregen; und wahrhaftig – er schaffte es.
Völlig unbemerkt ließ er das Hauptgebäude hinter sich und raste über die offene Ebene. Er ließ alle Vorsicht fallen; sein einziges Ziel war es, die ersten Hügel zu erreichen, bevor man seine Abwesenheit bemerkte. Das war nicht weiter schwer, denn in der Fabrik achtete momentan niemand auf die Gefangenen. Allein der Levian, das vierte Mitglied das großen Rates, lächelte, als er das Kampffahrzeug zwischen den ersten Hügeln verschwinden sah.

Paryn fuhr weiter, bis die Sonne hoch am Himmel stand. Schließlich machte er Halt und versteckte das Fahrzeug im hohen Gestrüpp am Fuß eines Hügels.
Von hier aus würde er nach der Armee der Fabrik Ausschau halten, um ihr unbemerkt zu folgen. Wie er danach Yai´ro finden sollte, war ihm leider noch unklar – aber darüber machte er sich keine Sorgen.
An diesem Tag waren schon einige Wunder geschehen. Was sprach dagegen, dass er weitere zu erwarten hatte?

8. Szene: Saphita

„Du hast es wirklich getan, nicht wahr?“
„Von was sprichst du, Saphita?“
„Stell dich nicht unwissend, Engel der Läuterung. Du hast unsere grundlegenden Regeln gebrochen!“
„Dies ist eine schwerwiegende Anschuldigung! Bist du sicher, dass du sie auch beweisen kannst?“
„O ja, ich bin mir sicher, Ich könnte Ao davon erzählen... Du weißt doch, was dann passieren würde, oder?“
„Ao wird nichts davon erfahren.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher! Du bist geschlagen, Engel der Läuterung. Sieh es endlich ein!“
„Aber Saphita, hältst du mich etwa für dumm? Zugegeben, ich habe eine Sünde begangen. Aber ich könnt beweisen, dass du genau das selbe getan hast!“
„Wie meinst du das?“
„Komm schon, Engel des Todes! Wir sind beide sündig. Es wäre doch dumm, wenn wir uns gegenseitig verraten würden, oder?“
„Dafür wirst du büßen, Engel der Läuterung! Ich werde deinen Schützling vernichten!“

In einem abgelegenen Nebengang des Tempels loderten gelbe Flammen auf. Sie züngelten eine Weile lang ungehalten in die Höhe, bis das Feuer schwächer und stattdessen eine Gestalt sichtbar wurde. Funken stoben auf, als die Person einen Schritt nach vorne machte und aus dem Feuer trat. Sie war relativ klein, und durch ihren dunkelgrauen Kapuzenumhang konnte man schemenhaft die Gestalt eines Kindes erkennen.
Suchend wandte sie die Kapuze, unter der eine scheinbar undurchdringliche Schwärze herrschte, nach links und rechts. Schließlich schien sie gefunden zu haben, was sie suchte.
Aus dem Schatten einer Wand löste sich die schwarz gekleidete Gestalt eines Ordenskriegers. Der Mann kniete vor dem verhüllten Mädchen nieder und küsste voll Ehrerbietung seine Füße.
„Saphita, meine Herrin! Ihr seid die Größte, Schönste und Mächtigste...“
„Lass die Formalitäten!“
Die eiskalte Stimme sprach nur im Kopf des Kriegers, denn Saphita wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Deshalb trug sie auch den Umhang über ihrer Kampfkleidung: Der Mord an dem Jungen sollte nicht auffallen.
„Berichte mir lieber, ob du diesen ‚Auserwählten’ gefunden hast!“
„Oh ja, das habe ich!“, beteuerte der Mann sofort. „Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen! Wenn ihr ihn wollt, zeige ich euch, wo ihr ihn treffen könnt...“
Saphita folgte dem Krieger - sie war bereit, den Auserwählten auszulöschen. Zwar hätte sie auch ihren Verbündeten, den Abt, bitten können, ihr Yai´ro zu überlassen. Aber das hätte politische Debatten nach sich gezogen und außerdem zu viel Aufmerksamkeit erregt. Nein, sie, der Engel des Todes, führte nicht gerne Gespräche. Viel lieber handelte sie!

Die Tage wurden zu Wochen und die Wochen schließlich zu einem Monat. Yai´ro lebte immer noch im Tempel, nahm am Kampfunterricht teil, schloss neue Freundschaften und vertiefte seine Freundschaft mit Selena. Trotz all dem sehnte er die kommende Schlacht herbei, wie es einen Durstenden nach Wasser verlangt – und eines Tages war es schließlich so weit.
„Morgen werdet ihr zu eurem ersten Kampf ausziehen!“, gab Niktora eines Nachmittags bekannt.
Sofort brach unter den etwa zweihundert Kampfschülern, die in der Trainingshalle verteilt Übungen ausführten, Unruhe aus.
„Hört mir zu, wenn ihr morgen wissen wollt, was ihr zu tun habt!“, verschaffte sich Niktora wieder Gehör. „Ihr werdet noch vor Sonnenaufgang gemeinsam mit allen anderen Kriegern ausziehen, um den Truppen der Fabrik einen Hinterhalt zu legen...“
„Von wegen!“, entfuhr es Yai´ro. Er hatte von Selena schon einiges über die Absichten des Abts erfahren und wusste, dass sie den Hinterhalt nicht legen, sondern der Köder sein würden!
„Wie wir erfahren haben“, fuhr Niktora fort, die es sich nicht anmerken ließ, dass sie die jungen Krieger anlog, „Wie wir erfahren haben, plant die Fabrik einen großräumigen Angriff. Dabei ist es eure Aufgabe, die Vorhut zu vernichten und somit den ersten Sieg zu erringen!“
Zustimmendes Gemurmel erhob sich im Saal. Die Kampfschüler glaubten dem Orden absolut alles. Nicht einmal Sertjego oder die anderen Freunde Yai´ros, die schon so oft vom Orden belogen worden waren, zweifelten an Niktoras Worten.
„Natürlich werdet ihr im Kampf gegen die Fabrik nicht alleine sein. Der ganze Orden wird ausziehen, sowohl ihr Rekruten, als auch alle anderen Krieger! Diesmal werden wir der Fabrik den entscheidenden Schlag versetzen. Ich sage euch, der Endsieg ist nah!“
Viele der jungen Krieger nickten einander zu oder ließen sogar zustimmende Rufe hören.
„Mit ihren plumpen Waffen haben die Soldaten der Fabrik keine Chance. Wir sind schneller und stärker als sie, und wir sind ihnen zahlenmäßig überlegen. Nachts kann uns mehr aufhalten, wenn ihr morgen alles gebt. Voller Einsatz, Gemeinsamkeit und Gehorsam den Offizieren gegenüber; das ist es, was uns zum Sieg führen wird. Und glaubt mir, es wird ein leichter Sieg!“
„Ja!“, brüllte einer der Krieger, und sofort stiegen andere in seinen Ruf ein.
„Tod dem Fortschritt!“ „Wir für den Orden!“ „Sieg!“ – Yai´ro duckte sich zusammen, um als einziger nicht jubelnder Kampfschüler bloß nicht aufzufallen.
Nach einigen Minuten ungezähmter Begeisterung verschaffte sich Niktora wieder Gehör.
„Ja, wir werden diese Schlacht zweifellos gewinnen, denn ihr seid die besten Kampfschüler, die ich je unterrichtet habe!“
Wieder kam Jubel auf, doch Niktora würgte ihn diesmal rasch ab.
„Wir werden das Training heute früher beenden, denn kämpfen könnt ihr gut genug Aber Schlafmangel hat schon so manche Schlacht verloren!“
Zur Antwort ertönte lockeres Gelächter, in das auch Niktora einstimmte und somit die gespannte Atmosphäre auflöste.
„Ihr könnt jetzt gehen!“, meinte sie schließlich. „Und bereitet euch gut auf morgen vor!“
Fasziniertes Gemurmel hob an. Die Kampfschüler, allesamt männlich und zwischen vierzehn und fünfundzwanzig Jahren alt, verließen den Saal in einem großen Schwarm, an dessen ende sich Yai´ro mit seinen Freunden befand.
Während sich die anderen Jungen über die kommende Schlacht unterhielten, ging Yai´ro bloß neben ihnen her und dachte nach.
Nein, seine Freunde würden ihn bestimmt nicht verstehen. Er war erst seit einem Monat beim Orden, sie hingegen schon seit Jahren – sie würden ihn wohl einfach nur auslachen und nicht ernstnehmen. Natürlich hätte er ihnen beweisen können, dass er Recht hatte. Aber dazu hätte er ihnen von Selena und seiner Mission erzählen müssen, und das kam für ihn nicht in Frage. Seine Freunde konnten ihm momentan nicht weiterhelfen, aber wer sonst?
Verzweifelt überlegte er, und schließlich kam ihm die rettende Idee.
„Geht ihr schon mal voraus, ich muss noch etwas mit Niktora besprechen!“, rief er den anderen Jungen zu und lief zur Kampfhalle zurück.
„Niktora? Was willst du denn von der?“
„He, wir kommen auch mit!“
„Nein, tun wir nicht. Komm dann zum Essen nach, Yai´ro!“
Yai´ro war glücklicherweise erst eine Gangbiegung von der Kampfhalle entfernt gewesen, deshalb dauerte der Rückweg nicht lange. Doch als er schon die Holztür der Halle vor sich sah, hörte er plötzlich eine Stimme.
He, Kleiner!
„Niktora, seid ihr das?“
Aber es klang nicht wie Niktora. Ganz im Gegenteil, die Worte hörten sich an, als wären sie telepatisch übermittelt worden! Allerdings war es ganz eindeutig nicht Selenas Stimme, die er gehört hatte. Aber wer benutzte denn sonst noch Telepathie?
Saphita , schoss es ihm durch den Kopf. Obwohl er sofort versuchte, den Gedanken wieder zu verdrängen, begann er am ganzen Leib zu zittern. Beunruhigt begann er, nach der Quelle der Stimme zu suchen; denn selbst wenn Telepathie benutzt wurde, musste es einen Sender geben.
Im Schatten eines Nebenganges schien sich etwas zu regen. Oder bildete er sich das nur ein? In seiner Angst traute er sich selbst alles zu. Dabei war er sich so sicher gewesen, eine Bewegung gesehen zu haben…
Er sah noch einmal genau hin, und ohne jede Vorwarnung löste sich eine Gestalt aus dem Schatten. Yai´ro brauchte einen Moment, um die ihm völlig unbekannten Proportionen des Wesens einzuordnen: Es handelte sich um ein junges Mädchen, beinahe noch ein Kind. Nichtsdestotrotz strahlte es eine Aura aus, die man beinahe mit Händen greifen konnte - sogar bei der relativ hochrangigen Magierin Selena hatte Yai´ro bisher nichts Vergleichbares gespürt.
Auch das Äußere des Mädchens, vom Körperbau vielleicht abgesehen, wirkte keineswegs kindlich. Ein enger, grauer Kampfanzug spannte sich über ihren noch kaum weiblich proportionierten Körper; hellblondes, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar kräuselte sich um ihr blasses Gesicht. Mitten aus diesem stachen zwei eiskalte, smaragdgrüne Augen, die sowohl Hass als auch eine gewisse Beherrschung ausdrückten.
Ohne auch nur zu zwinkern, hob Saphita ihren rechten Arm, richtete den Zeigefinger auf ihr Opfer und schritt langsam auf es zu.
Völlig überrumpelt konnte Yai´ro nichts weiter tun, als zuzusehen, wie ihm das Mädchen mit mordlustigem Blick immer näher kam.
Es ging alles viel zu schnell! Er hatte keine Zeit, sich zu verteidigen! Er wollte nicht – „Nein!“
Plötzlich schoss ein brauchbarer Gedanke durch sein völlig überlastetes Gehirn: Niktora hielt sich doch immer noch in der Trainingshalle auf, oder?
„Hilfe!“, begann er zu brüllen. „Hilfe! Niktora, hier sind Saboteure!“
Es war ihm ziemlich egal, was genau er rief. Hauptsache, es kam ihm jemand zur Hilfe. Das erreichte er schließlich auch, aber auf eine andere Weise, als er es sich vorgestellt hatte.
Saphita blieb bei Yai´ros Schrei stehen und beschloss, den Jungen trotz allem sofort zu töten – sie konnte es sich nicht leisten, bei einem einfachen Mord ertappt zu werden.
Allerdings hörte auch Niktora den Ruf, und falls sich wirklich Saboteure im Tempel aufhielten, musste sie schnell handeln.
Ein Schwert in der Hand, stürzte sie aus der Halle auf den Gang und sprintete die wenigen Meter bis zu den beiden Gestalten, die dort in völlig verschiedenen Posen standen.
Saphita sah sich in die enge gedrängt: Tötete sie den Jungen, hatte sie nicht mehr genügend Zeit um sich gegen die Frau zu verteidigen – und sie wollte ja, dass die Sache möglichte glatt ablief. Im Bruchteil einer Sekunde ratterte ihr für solche Situationen geübtes Gehirn alle möglichen Aktionen durch; dann bleckte sie die Zähne und richtete ihren Zeigefinger auf die näherkommende Frau.
Niktora konnte nicht mehr abbremsen. Mit tödlicher Geschwindigkeit raste sie auf das blonde Mädchen zu, und...
Yai´ro hätte die Hände vor die Augen geschlagen, aber er war starr vor Schreck. Als Saphita die Frau berührte, blitzte jäh grelles Licht auf. Yai´ro hörte Niktora schreien, doch erst als das Licht langsam schwächer wurde, sah er, wie sie kraftlos vor Saphita in der Luft hing. Negative Energie in Form von Blitzen zuckte einige Sekunden lang um ihren Körper, dann er schlaff zu Boden. Saphita stieß die leblose Hülle einige Male mit dem Fuß an, und als diese sich nicht rührte, lachte sie laut und herzlos. Immer noch lachend wandte sie sich schließlich wieder ihrem eigentlichen Opfer, dem Jungen, zu.

Um Yai´ro herum drehte sich alles. Er hatte schon einiges an Grausamkeit und Missständen gesehen, aber aus nur wenigen Metern Entfernung einen kaltblütigen Mord mit anzusehen, war doch etwas zu viel für ihn.
Er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Am liebsten hätte er losgeheult wie ein kleines Kind, aber das konnte ihm das Leben kosten!
Irgend ein Schutzmechanismus in seinem Gehirn verwandelte die Verwirrung und die Trauer in Wut. Yai´ro konnte zwar nicht wieder vollkommen klar denken, aber er verstand, was eben geschehen war – und das genügte, um ihn ausrasten zu lassen.
„Nein!“, kreischte er und rannte mit Tränen in den Augen auf Saphita zu. Diese hob seelenruhig ihren Finger und deutete damit auf Yai´ros Brust, was ihn allerdings herzlich wenig kümmerte. Alles, was er noch verspürte, war Wut. Es existierte nichts mehr um ihn herum, nur noch er und das Mädchen, das soeben einen Mord begangen hatte.
Wie es zuvor bei Saphita und Niktora geschehen war, berührten sich die beiden Körper – und in diesem Moment geschah es.
Kein Licht blitze auf, und Yai´ro fühlte auch keinen Schmerz. Stattdessen begann eine grell rote, magische Aura von ihm auszustrahlen…
„Was soll das?“, kreischte Saphita, und zum ersten Mal wirkte sie aus der Ruhe gebracht.
Yai´ro, der ihren Schrei nicht gehört hatte, holte zum Schlag aus. Mädchen oder nicht Mädchen, dieses Wesen hatte gerade einen Mord begangen! Mit seiner von magischer Aura umgebenen Faust traf er sein gegenüber ins Gesicht; und die große Saphita, Engel des Todes, stürzte schreiend vor ihm zu Boden.

„Was war hier los?“
„Wer war dieses blonde Mädchen?“
„Niktora – sie ist tot!“
„Ist dieser Junge nicht einer von den Rekruten?“
„Wir sollten ihn wegschaffen. Er hat hiermit nichts zu tun!“
„Aber Niktora...“

„Yai´ro! Wach auf!“
Er fühlte sich unheimlich schwach... als hätte er all seine Kraft mit einem Mal verbraucht...
„Wach schon auf!“
Verwirrt öffnete Yai´ro die Augen. Er lag in der Hängematte in seinem Zimmer. Über ihm kniete Selena, die wieder ihre wahre Gestalt angenommen hatte.
„Selena…“
Plötzlich fuhr er hoch, so dass die Elbin von der Hängematte springen musste.
„Niktora – sie ist tot! Und dieses Mädchen! Was ist geschehen?“
Selena sah zu Boden. Ihre Haltung drückte Niedergeschlagenheit und Verzweiflung aus. „Es… es scheint so, als hätte Saphita uns entdeckt!“
„Saphita!“, keuchte Yai´ro. Er begann, seine körperliche Schwäche wieder zu fühlen. Sie war nur kurz durch den Schock verdrängt worden.
„Und… was ist geschehen, nachdem sie Niktora getötet hat?“
„Das weiß ich selbst nicht“, beteuerte Selena. „Ich weiß nur, dass du bewusstlos warst, als dich die Krieger hierher gebracht haben.“
Sie sah ihm teilnahmsvoll in die Augen, er aber wich zurück.
„Yai´ro, du hast in der letzten Zeit viel mehr durchgemacht, als es jemals hätte geschehen dürfen. Es ist vollkommen normal, wenn du Schwäche verspürst…“
„Nein!“, unterbrach er sie. „Ich hätte Niktora retten können!“
„Du hättest sie nicht retten können. Saphita ist eine der göttlichen Engel, und die sind eine Nummer zu groß für dich!“
Er konnte nichts erwidern, weil er zu schwach war, um weiterzusprechen, sogar zu schwach, um Zorn zu verspüren.
Das Einzige, was er noch tun konnte, war einen Schritt nach vorne zu treten und Selena in die Arme zu schließen.
In ihrer Verzweiflung tat sie es ihm gleich; und in der gegenseitigen Umarmung fühlten sie sich beide zum ersten mal seit langer Zeit wohlig und geborgen.
Ohne noch ein Wort zu sprechen, ließen die sich auf die Hängematte fallen, wo sie nebeneinander sofort in tiefen Schlaf fielen.
„Und auf diesen Jungen war ich einmal eifersüchtig!“, dachte Selena noch, bevor sich der schwarze Schleier des Schlafes auch über sie senkte.

Zufrieden lehnte sich die Magierin in ihrem Stuhl zurück.
In Yai´ro war die Kraft seiner Ahnen erwacht…

9. Szene: Die Schlacht

Die Sonne sendete ihre ersten, zarten Strahlen über den östlichen Horizont und verdrängte langsam den schwarzen Schleier der Nacht. Die spärliche Flora und Fauna der Gebirgslandschaft um den Tempel war erst am Erwachen, während schier unendliche Kolonnen von Ordenskriegern durch sie marschierten. Der gesamte Tempel war schon lange vor Sonnenaufgang ausgezogen, um der Armee der Fabrik eine Falle zu stellen.
Yai´ro und hunderte andere Rekruten suchten sich mehr oder weniger verschlafen ihren Weg durch das Geröll, um sie herum hingegen liefen die richtigen Ordenskrieger ausgeruht und hochmotiviert der kommenden Schlacht entgegen.
Die Sonne stand schon einige Finger breit über dem Horizont, als sie den Ort des Hinterhalts erreichten. Die Krieger nahmen hinter Felsen und Geröll Stellung, die nichtsahnenden Rekruten jedoch machten sich zum Kampf bereit. Schleichend näherten sie sich dem Engpass, welchen die Soldaten zwangsläufig passieren mussten. Links und rechts von dem etwa zweihundert Meter breiten, steilen Weg, der den einzigen begehbaren Zugang zu den Länderein des Tempels bildete, ragten riesige Felsen und Gesteinsblöcke auf. Die Spione des Ordens hatten gemeldet, dass die Fabriktruppen noch an diesem Vormittag das Gebirge erreichen würden. Falls das zutraf, und niemand zweifelte daran, dann mussten sie durch den besagten Engpass kommen. In diesem Moment würden die Rekruten angreifen und mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern. Sobald die Überlebenden flüchteten, würden ihnen die siegestrunkenen Soldaten folgen und damit den Ordenskriegern direkt in die Falle laufen.

„Sir, das sieht eindeutig nach einer Falle aus!“
Sergeant Matthew stand, Seite an Seite mit dem Vorstand, an der Spitze der Fabriktruppen. In der Hand hielt er ein modernes Fernglas, durch welches er besorgt den Aufgang zum Gebirge beobachtete.
„Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Wir sollten einige Sprengköpfe auf diese Stelle abfeuern, um klarzustellen, ob sich dort Ordenskrieger verstecken.“
Der Vorstand schüttelte langsam den Kopf. Seine Augen schienen in weite Ferne zu blicken, als könnte er etwas sehen, das für andere unsichtbar war.
Dort, hinter dem Wall aus Erde und Gestein, beherrschte der Tempel das Land. Eine Welle von Hass überflutete ihn und riss ihn aus seinen Träumen. Denn über den Tempel herrschte sein Vater...
„Nein!“
Er drehte sich ruckartig zu Matthew um.
„Wir werden keine Raketen abfeuern. Gerade dadurch würden wir uns verraten!“
An die Soldaten gerichtet fügte er hinzu:
„Auf, Männer! Heute noch werden wir den Orden vernichten!“

„Denkst du, wir werden siegen?“
Yai´ro drehte sich zu Sertjego, der die Frage ausgesprochen hatte, um. Er hatte es endlich geschafft, seine Müdigkeit abzuschütteln. Gemeinsam mit allen anderen Rekruten lag er im spärlichen Gras nahe dem Aufgang zum Gebirge auf der Lauer. Seine schwarze Ordenskleidung verdeckte seinen gesamten Körper bis auf den Kopf und sein langes rotes Haar, das eines Kontrast zur Farbe der Kleidung bildete. So war er in den langen Schatten, welche die aufgehende Sonne gen Westen warf, perfekt vor Blicken geschützt.
In seinem Kopf arbeitete es heftig. Was sollte er Sertjego antworten? Zwar wusste er in etwa, wie der Plan des Ordens aussah, aber er wollte seine Freunde nicht im entscheidenden Moment entmutigen. Andererseits, konnte er es verantworten, dass sie ahnungslos in ihr verderben liefen?
„Ich denke schon!“, antwortete er schließlich mit schlimmen Gewissensbissen.
Um sich nicht weiter über dieses Thema unterhalten zu müssen, kroch er vorsichtig ein Stück weiter näher zu dem Engpass. Hinter einem Felsbrocken versteckt erhob er sich und betrachtete mit gemischten Gefühlen die weitläufige, grüne Ebene, die sich vom Fuß des Gebirges gen Osten bis zu den ersten Hügeln erstreckte. Nur wenige Fingerbreit über den letzteren schwebte die rötlich-gelb strahlende Morgensonne, damit beschäftigt, auch die letzten Tautröpfchen auf den Pflanzen verdampfen zu lassen.
Außerdem wirbelte sie am Horizont eine gewaltige Staubwolke auf, die sich zu bewegen schien... Die Sonne wirbelte Staub auf? Unmöglich! Das musste...
„Die Truppen der Fabrik! Sie werden bald hier sein!“

Paryn drehte den Energieregler seines Fahrzeugs auf ‚null’ und kletterte vorsichtig aus dem Cockpit.
In den letzten Tagen hatte er kaum Schlaf gefunden, denn er durfte die Truppen der Fabrik nicht aus den Augen verlieren, von ihnen aber auch nicht entdeckt werden. In den wenigen Stunden, in denen er doch zur Ruhe kam, wurde er von schrecklichen Alpträumen geplagt. In ihnen sah er den längst vergangenen Krieg und das Elend der Rhuner; er sah, wie Yai´ro blutend zu Boden fiel und er es nicht verhindern konnte. Dann wieder sah er seinen Bruder, der vor ihm stand und sagte: „Ich bin kein Auserwählter, Paryn. Ich kann Krieg führen und Leben auslöschen, aber ich kann kein Volk erlösen!“
Die viel zu kurze Zeit, die Paryn zwischen Schlaf und Verfolgung blieb, nutzte er, um Nahrung zu sammeln. Immerhin musste er einen Monat nachholen, in dem er völlig unterernährt gewesen war!
Die relativ gesunde Hügellandschaft, die sich zwischen der Fabrik im Osten und dem Tempel im Westen erstreckte, bot ein reichhaltiges Angebot an Nahrung: Neben Beeren, Früchten und dem Ertrag verwilderter Felder hatte er sich auch Fleisch einiger unvorsichtiger Tiere schmecken lassen.
Schließlich, nach einer achttägigen Reise, hatte er das westliche Ende der Hügellande erreicht. Er stand neben seinem Fahrzeug auf der Kuppe eines der letzten Hügel und beobachtete die Armee der Fabrik, wie sie auf das Tempelgebirge zuströmte.
Eine schier unermessliche Zahl von Fahrzeugen, Fußsoldaten, Hubschraubern und anderen Kriegsgeräten verließ das Hügelland und bedeckte die gesamte ebene bis zu dem Gebirge, wo sie wahrscheinlich von einer ebensolchen Zahl an Ordenskriegern erwartet wurde.
Im Moment konnte er nichts tun, als zu warten. Von hier oben konnte er das Geschehen gut überblicken und im entscheidenden Moment eingreifen, um Yai´ro zu retten.
Seltsamerweise machte er sich überhaupt keine Sorgen um den Ausgang der Schlacht. Denn tief in seinem Inneren wusste er, dass Yai´ro überleben würde.

Der Abt überblickte die Lage von seiner erhabenen Position aus. Aufrecht stand er auf einem der höchsten Felsen nahe der Engstelle, gab wie ein König seine Befehle und schenkte den Kriegern Mut. Wer ihn dort stehen sah, mit im Wind flatterndem Mantel, dem wurde warm ums Herz und er verlor jede Angst. Der Abt wirkte auf seine Krieger wie ein Fels in der Brandung auf Ertrinkende – sie konnten sich um ihn scharen und er gab ihnen Entschlossenheit und Kraft.
Mit all der Würde, die ihm dies verlieh, hob er seinen Arm und deutete auf die Armee der Fabrik, die sich über die gesamte, riesige Ebene ausdehnte. Von den Hügeln am östlichen Horizont bis zu dem Engpass im Gebirge wimmelte alles von Soldaten, Fahrzeugen und Kriegsmaschinen.
„Sie kommen. Geht alle auf eure Positionen!“
Er drehte sich herum, so dass er seine Krieger sehen konnte.
„Lasst die Schlacht beginnen!“

Angespannt kehrte Yai´ro zu den anderen Rekruten zurück, die nahe der Engstelle auf den Befehl zum Angriff warteten. Sein einschneidiges Schwert hatte er schon längst aus der ledernen Scheide gezogen, die an einer Schnur an seinem Rücken hing.
Während der Abt hoch über den Rekruten zu seinen Kriegern sprach, nutzte Yai´ro diese letzten ruhigen Minuten vor der Schlacht, um seine Lage zu überdenken.
Er musste es irgendwie schaffen, solange zu überleben, bis Paryn kam! Paryn würde kommen, das wusste er sicher. Selena hatte sich bereits bevor die Krieger aufgebrochen waren auf den Weg gemacht, um ihn zu suchen. Seine einzige Sorge war also, wie er die Schlacht überleben sollte!
Er durfte nicht gemeinsam mit den Rekruten gegen die Armee der Fabrik kämpfen, soviel war ihm klar. Aber die Offiziere würden niemals zulassen, dass er als einziger nicht kämpfte. Was also sollte er tun?
In diesem Moment ertönte der Ruf des Abts:
„Lasst die Schlacht beginnen!“
Yai´ro machte sich kampfbereit. Durch eine Lücke im Geröll konnte er erkennen, wie die ersten Soldaten in den Engpass eindrangen und sich vorsichtig umsahen. Sie wirkten nicht verängstigt, ganz im Gegenteil: Sie schienen etwas zu suchen!
Jeder Muskel in Yai´ros Körper war angespannt, als ein Offizier des Ordens durch das inzwischen trockene Gras zu den Rekruten schlich. Der Orden war dabei, seinen Schlachtplan zu verwirklichen, und anscheinend würde er damit auch erfolgreich sein.
„Ihr werdet auf mein Zeichen hin angreifen!“, flüsterte der Offizier den jungen Kriegern zu. „Seid stolz, denn ihr bildet die Vorhut des Ordens!“
„Darauf können wir ja wirklich stolz sein!“, dachte Yai´ro mit einem deutlichen Hauch von Ironie.
„Die Soldaten sind bereits in der Engstelle“, sprach der Offizier unbeirrt weiter. „Heute werden wir sie vernichten!“
Er erhob sich vorsichtig und lehnte sich an einen Felsen, durch den er vor Blicken geschützt war.
„Wie gesagt, auf mein Zeichen!“
Yai´ro tat es den anderen Kriegern gleich und nahm eine halb aufgerichtete Haltung ein, aus der er sofort loslaufen konnte.
„Drei…“
Jeder Muskel seines Körpers war zum Zerreißen gespannt. Einige einsame Schweißtropfen sammelten sich in seinen Achselhöhlen und auf seiner Stirn, wo sie ein äußerst unangenehmes Gefühl erzeugten.
„...zwei...“
Yai´ros Muskelspannung wurde beinahe zum Krampf. Einen Moment lang verschwammen die Gebirgslandschaft, die von Angst, Aufregung und Wut erfüllten Krieger und die rasch näherkommenden Soldaten vor seinen Augen und er sah stattdessen nur noch schwarzen Nebel.
„...eins...“
Genauso wie es verschwunden war, kehrte sein Sehvermögen wieder zurück, dafür brach ihm am ganzen Körper der Schweiß aus. Auf die Soldaten der Fabrik zuzulaufen und gegen sie zu kämpfen, war das Letzte, was er momentan wollte – gleichzeitig aber war es auch das, was er in wenigen Augenblicken tun musste. Er fühlte etwas, das Todesangst nahe kam, daneben aber auch Wut und Entschlossenheit. Von Lähmung oder Verwirrung weit entfernt, wollte er diese Schlacht durchstehen. Es war immerhin der einzige Weg, der Erfüllung seiner Mission näher zu kommen!
„…Angriff!“
Mehrere hundert junge Krieger rannten los, auf den Engpass zu. Für sie gab es kein Halten mehr; ob sie von dem Betrug wussten oder nicht – die Gemeinsamkeit und die Geschwindigkeit vertrieben alle Angst.
Das Echo ihrer wütenden Kampfschreie hallte von den steinernen Wänden der Engstelle zurück, so dass die erschrockenen Soldaten nicht wussten, von welcher Seite sie angegriffen wurden. Die jungen Krieger sprangen wie eine Horde wildgewordener Raubtiere von den steilen Seitenwänden des Engpasses mitten unter die Soldaten. Sie wendeten das an, was sie gelernt hatten; und da der Überraschungseffekt auf ihrer Seite war, richteten sie schon in den ersten Sekunden ein blutiges Gemetzel an.
Dann jedoch gab ein geistesgegenwärtiger Offizier der Fabrik den Befehl, auf die Krieger zu feuern, die sich noch nicht unter die Soldaten gemischt hatten, und damit war das Schicksal der jungen Rekruten besiegelt.
Gemeinsam mit einer Horde von anderen Kriegern schlitterte Yai´ro einen Hang hinab, auf seine Feinde zu. Er sah das völlig strategielose Gemetzel vor sich, in dem die jungen Ordenskrieger momentan noch die Oberhand hatten; er sah aber auch, wie die Soldaten ihre Gewehre anlegten und begannen, auf die näherkommenden Krieger zu feuern.
Verzweifelt suchten seine Füße auf dem losen Geröll Halt. Er umklammerte sein Schwert umso fester, damit es nicht aus seiner schweißnassen, rechten Hand rutschen konnte.
Als die ersten Schüsse fielen, duckte er sich einfach zusammen und schlitterte weiter zum Boden der Engstelle. Neben ihm wurden andere Krieger getroffen und schrieen in Todesqualen auf; auch Sertjego, der nicht schnell genug reagiert konnte, fiel mit einer Kugel in der Brust zu Boden. Einen Moment lang wollte Yai´ro ihm zu Hilfe eilen, doch die Gesamtsituation erlaubte es nicht:
Die meisten ankommenden Krieger waren von dem Kugelhagel niedergestreckt worden oder lagen sterbend im Geröll am Rande des Engpasses. Im Zentrum des Geschehens sah es nicht viel besser aus: Etwa hundert Krieger hielten sich noch gegen zehnmal so viele Soldaten, die restlichen versuchten zu fliehen oder sich zu verstecken. Sie wurden jedoch alle von der ständig wachsenden Armee der Fabrik, die sich an der südlichen Wand des Engpasses sammelte, gefunden und kaltblütig erschossen.
Aber das war ja die Lösung! Yai´ro wand sich von seinem blutenden Freund ab und stürzte sich mitten ins Getümmel. Eine Kugel sirrte knapp an seinem Kopf vorbei, worauf sofort das Schwert eines Kriegers den Schützen niederstreckte. Yai´ro rannte so schnell wie möglich durch das blutige Getümmel. Er hackte einem Soldaten, der sein Gewehr auf ihn richtete, den Arm ab; und wie es ihm vorkam schon im nächsten Moment sprang über einige Leichen, deren immer noch strömendes Blut sie unkenntlich machte, aus der kämpfenden Horde.
Während immer mehr Soldaten in die Engstelle eindrangen und die Rekruten systematisch niedermetzelten, sprintete er auf die nördlich gelegene Felswand zu, bei der sich momentan keine Feinde aufhielten. Ohne noch einmal zurückzusehen, legte er die restlichen hundert Meter zurück, wobei er trotz Erschöpfung, die er allmählich verspürte, kein bisschen langsamer wurde. Indessen waren beide Parteien viel zu sehr mit dem Kampf beschäftigt, als dass sie die Flucht eines einzelnen Kriegers bemerkt hätten.
Sein Ziel erreichend, hechtete Yai´ro hinter einen Felsbrocken und überprüfte, ob man ihn hier auch nicht finden würde. Er hatte gleich doppeltes Glück, denn einerseits war sein Versteck relativ sicher, andererseits begannen die Rekruten genau in dem Moment zu fliehen, in dem Yai´ro den Felsen erreichte. Unter den Fabriktruppen wurden Triumphschreie laut, und sie verfolgten die wenigen Rekruten. Für sie war es die beste Gelegenheit, den Engpass zu erobern und somit schon den halben Sieg zu erringen. Denn wenn sie erst einmal im Gebirge waren, gab es kein lästiges Hindernis mehr zwischen ihnen und dem Tempel.
Yai´ro duckte sich hinter den Felsen und ließ die Soldaten vorbeistürmen. Hauptsache, er konnte die Schlacht überleben und der glückliche, wenn auch noch weit entfernte Schimmer von einem Zusammensein mit Paryn und Selena rückte ein Stückchen näher. Denn auch wenn sein Handeln feige war, war es doch notwendig.

Nach und nach drang die gesamte Armee der Fabrik in den Engpass ein. Draußen auf der Ebene blieben nur einige Fahrzeuge und schwere Kriegsgeräte zurück, deren Transport durch das Gebirge nicht möglich war.
Es ging den Soldaten nicht darum, die jungen Krieger zu verfolgen; sie wollten den Engpass einnehmen. Denn auf dem offenen Gelände, welches dem Pass folgte, waren ihnen die Ordenskrieger eindeutig unterlegen und der Tempel, das organisatorische sowie symbolische Zentrum des Ordens, wäre zum Greifen nah.
Ein fieses Lächeln verzog die von einer schwarzen Kapuze überschatteten Mundwinkel des Abtes. Sein Sohn hatte diesen Angriff gut geplant – kein Wunder, das Talent dazu lag in der Familie. Aber leider war der Junge etwas zu voreilig gewesen...
Die Armee der Fabrik füllte den Engpass völlig aus, als der Abt seinerseits das Zeichen zum Angriff gab. Die Soldaten waren eingesperrt, und sie konnten ihre Schusswaffen ebenso wie ihre größeren Abschussrampen nicht benutzen, wenn sich die Krieger unter sie mischten.
Die Fabrik war geschlagen, und bald würde auch der Abt die Streitigkeiten mit seinem Sohn endgültig regeln können…

Von seinem Versteck aus beobachtete Yai´ro, wie die Truppen der Fabrik den Engpass besetzten und damit begannen, weiter in das Gebirge einzudringen.
Das konnte doch nicht das Ende der Schlacht sein! Der Orden konnte doch nicht zulassen, dass die Fabrik den Tempel einnahm, oder?
Natürlich nicht.
Ein Schrei ertönte, und von allen Seiten sprangen bewaffnete Ordenskrieger von den Felswänden in den Engpass. Es mussten Zehntausende von ihnen sein, die sich unter die Soldaten mischten, die Zugänge absperrten und schon in den ersten Sekunden einen großen Teil der Fabriktruppen vernichteten. Diese waren so überrascht, dass sie sich kaum zur Wehr setzen konnten. Die im Nahkampf eindeutig überlegenen Ordenskrieger brachen so schnell durch die gegnerischen Reihen, dass kaum eine Schusswaffe sie treffen konnte; sie richteten ein blutiges Gemetzel an und verschwanden darauf sofort, um an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen und ihr schreckliches Werk fortzusetzen.
Yai´ro schien es, als hätte die Fabrik die Schlacht schon verloren. Allerdings wusste er nicht, wie sehr die beiden Organisationen einander durchschauten und dass sie sich, trotz ihres so verschiedenartigen Aufbaus, völlig ebenbürtig waren.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Soldaten die Lage wieder im Griff hatten. Sie eröffneten an einigen Stellen Sperrfeuer, zielten auf die gerade kämpfenden Krieger und sammelten sich in Gruppen um Fahrzeuge oder Kriegsgeräte, damit sie sich besser verteidigen konnten.
Trotz all dem saßen sie in der Falle, und die Ordenskrieger hatten im Nahkampf einen eindeutigen Vorteil durch ihre Waffen und ihre Wendigkeit. Nach einigen Minuten erbitterter Kämpfe mit großen Verlusten auf beiden Seiten begannen die Fabriktruppen deshalb, das Feuer auf die Ausgänge zu konzentrieren und sich aus dem Engpass zurückzuziehen.
Die Ordenskrieger folgten ihnen auf dem Fuß, um ja nicht durch die Schusswaffen gefährdet zu werden. Viele von ihnen benutzten den Rückzug der Soldaten aber auch als Verschnaufpause, um die Engstelle zu sichern oder um die eigenen Wunden zu begutachten. Im Moment stand die Lage nicht gut für sie, das wussten sie alle. Auf der offenen Ebene waren sie den Soldaten unterlegen, und falls sie in der Engstelle blieben, würden sie ein leichtes Ziel für die Feuerwaffen abgeben. Folglich kümmerten sie sich so schnell wie möglich um ihre Verwundeten, um sich wieder in den Kampf zu stürzen und vor allem die gefährlichen Kriegsmaschinen zu zerstören.
Yai´ro presste sich eng an seinen Felsen, um von den umherstreifenden Kriegern nicht entdeckt zu werden.
Es nutzte nichts.
Die Ordenskrieger suchten das gesamte Gelände nach Verwundeten, Feinden oder gar Fallen ab, und so dauerte es nicht lange, bis auch Yai´ro in seinem Versteck entdeckt wurde.
Ohne Vorwarnung stand plötzlich ein hochgewachsener Ordenskrieger vor ihm. Der gesamte Körper des Mannes war von schwarzer Kleidung bedeckt, nur die wütenden Augen stachen aus einer Stoffalte hervor. Ebenso wütend klang die Stimme des Mannes, und Yai´ro fiel es nicht schwer, ihn zu verstehen: Auf dem Schlachtfeld ließen hunderte Krieger ihr Leben, um den Tempel zu verteidigen, und hier versteckte sich einer von ihnen vor dem Feind?
„He, Junge! Was liegst du hier herum? – Bist du verletzt?
Yai´ro wusste nicht, was er antworten sollte, und schüttelte bloß den Kopf. Der Krieger packte ihn sm Oberarm und riss ihn mit einer ruckartigen Bewegung in die Höhe.
„Wenn du nicht verletzt bist, dann kämpfe weiter!“
Mit gesenktem Kopf und kaum noch Hoffnung kletterte Yai´ro hinter dem Felsen hervor und durchquerte die Engstelle, um ihn herum andere Krieger, die ebenfalls zum Kampf zurückkehrten. Seine Füße stolperten mehrere Male beinahe über Geröll oder Steine, die auf dem felsigen Untergrund so zahlreich waren, und er scheute sich davor zurückzuschauen, zu dem Krieger, dessen Augen ihm immer noch folgten. Langsam, aber sicher kam er dem Gemetzel näher, das sich inzwischen über einen Großteil der Ebene zwischen Tempelgebirge und Hügelland erstreckte. Er sah keinen Weg mehr, dem Tod zu entkommen, denn wenn er kämpfte, würde er ein leichtes Ziel für die Soldaten abgeben; falls er sich aber weigerte, das zu tun, war ihm der Tod durch das Schwert eines Ordenskriegers sicher.
Mit der sicheren Gewissheit, dass er Paryn und Selena nie wieder sehen würde, marschierte er weiter, ohne auf die anderen Krieger zu achten, die sich ihm anschlossen. Als er den breiten Ausgang der Engstelle erreichte, begann er zu laufen. Seine letzten Gedanken, bevor er sich ins Getümmel stürzte, waren:
„Es müsste schon ein Wunder geschehen, damit ich diese Schlacht überlebe!“

Dem ersten Soldaten rammte Yai´ro sein Schwert in den Rücken. Daraufhin drang er sofort tiefer in die kämpfende Horde ein, um Rückschlägen zu entgehen und um aus dem Blickfeld der Ordenskrieger zu verschwinden.
Laufend und springend kam er voran, ähnlich wie die richtigen Krieger. Wenn er von einem Soldaten bedroht wurde, war sein Schwert blitzschnell zur Stelle, um die Gefahr mit einigen gekonnten Schlägen zu beseitigen. Er setzte eine spezielle Mischung aus Schwertkampf- und Fechttechniken ein, die der Orden für den Kampf gegen die Fabrik entwickelt hatte. Zwar war er im Schwertkampf noch nicht annähernd so weit fortgeschritten wie die richtigen Ordenskrieger, aber seine durch Niktora verstärkten Kenntnisse genügten, um die meisten einfachen Soldaten zu besiegen.
Soeben landete er von einem weiteren, gekonnten Angriff am Boden, als er ein mehr als nur überfülltes Kampffahrzeug der Fabrik bemerkte, das große Lücken in die Reihen der Ordenskrieger schlug. An allen nur möglichen Stellen klammerten sich Soldaten an das Fahrzeug; aus dem Inneren ragten mindestens drei schwere Geschütze. Immer mehr Soldaten sammelten sich um diese provisorische Festung, die langsam, aber mit tödlicher Sicherheit alle Ordensangehörigen in ihrer Umgebung niederwalzte.
Yai´ro erkannte die unmittelbar Gefahr gleichzeitig mit vielen anderen Kriegern. Diese Festung musste so schnell wie möglich fallen!
Er rannte auf die ersten Soldaten zu und schlug über ihre Schüsse hinweg einen Salto, um auf dem Dach des Fahrzeugs zu landen. Während die anderen Krieger von den beginnenden Gewehrsalven niedergerissen wurden, verteidigte er seine eben errungene Stellung gegen erste Angreifer.
Ein Soldat versuchte, vom Cockpit auf das Dach zu klettern. Da der Mann sich mit seinen Händen festhalten musste und folglich keine Waffe benutzen konnte, war er kein schwerer Gegner für Yai´ro. Er rammte dem Mann sein Schwert durch die Schulter tief in den Körper, fuhr herum und stieß den nächsten Angreifer mit dem Schwertgriff von der fahrenden Maschine.
Hinter ihm kletterten weitere Soldaten auf das Dach, um die Gefahr einer Eroberung ihrer neuen Festung sofort zu bannen. Yai´ro, der sehr gut in Form war, duckte sich unter ihren drohenden Waffen, um dem primären Schussfeld zu entgehen, und stach mir seinem Schwert blind nach oben. Einen der Feinde traf er genau in den Hals, danach musste er jedoch vor den Schüssen der anderen fliehen.
Eine Kugel streifte seine Schulter, als Ausgleich dafür verlor der Schütze seinen Arm. Trotzdem wandte sich die Situation gegen ihn, als ihm ein anderer Soldat das Schwert entriss und ihn mit einem gekonnten Schlag in die Magengegend für einige Sekunden lahm legte.
Yai´ro blieb nur noch eine Möglichkeit: Er stieß sich vom Dach des Fahrzeuges ab und landete gemeinsam mit dem Soldaten am Boden. Der Mann schlug zuerst auf und blieb benommen liegen; im Gegensatz dazu fing Yai´ro den Sturz mit einer Rolle ab, was ihm einige Sekunden Vorsprung verschaffte.
Mit fahrigen Bewegungen beugte er sich über seinen Gegner und entriss diesem das Schwert, das er immer noch umklammert hielt. Ohne weiter nachzudenken schloss er seine Hand um den Griff der Waffe und stieß sie dem Soldaten in die Brust. Der Mann starb, ohne noch einen Laut von sich zu geben.
Yai´ro sprang von Erleichterung durchströmt auf, drehte sich um und – blickte direkt in die Mündung eines Gewehres. Er brachte es noch zustande, sich reflexartig nach hinten zu werfen, bevor der Soldat abdrücken konnte, und die Kugel streifte bloß seinen linken Handrücken. Es spritzte kaum Blut, aber die Haut wurde in Fetzen gerissen und Yai´ro hatte plötzlich das Gefühl, dass er seine Finger nicht mehr bewegen konnte.
Aber damit waren seine Probleme noch lange nicht zuende: Der Soldat stand immer noch vor ihm, bewahrte inmitten der Schlacht eiskalte Ruhe und hielt ihm mit einem kühlen Lächeln den Gewehrlauf an die Stirn.
„Es müsste schon ein Wunder geschehen, damit ich diese Schlacht überlebe!“, fielen ihm seine eigenen Gedanken wieder ein, und noch bevor er etwas anderes denken konnte, wurde der Soldat vor ihm zu Boden gerissen.
An seiner Stelle stand ein beinahe hünenhafter Mann, der einen dicken, schwarzen Mantel eng um seinen Körper geschlungen hatte. Ungepflegte, graue Haare fielen vom Kopf auf seine Schultern und umflatterten im Wind ein vor Kampfeslust geradezu verzerrtes Gesicht.
Der Abt sah sich um, bevor er weiterlief. Er schenkte niemandem besondere Beachtung; Feinde, die es wagten ihn anzugreifen, metzelte er mit bloßen Händen nieder. Als würde er etwas suchen…
Die meisten Ordenskrieger achteten nur noch auf ihren Anführer, und das nutzten sowohl die Soldaten der Fabrik als auch Yai´ro aus. Erstere griffen erbarmungslos an, der Letztere hingegen brachte es zustande, sich unauffällig vom Zentrum des Gefechts zu entfernen.
Er hatte schon mehr als genug für den Orden gekämpft. Jetzt waren die eigentlichen Krieger an der Reihe, sie sollten ihren Krieg selbst ausstreiten!

Der Abt hinterließ auf der Suche nach seinem Sohn eine blutige Spur quer über das Schlachtfeld. Wohin er sich auch wandte, nirgends konnte er ihn entdecken: Seinen größten Gegner, der gleichzeitig die Ursache des Krieges bildete.
Wütend brach er einem aufsässigen Soldaten das Genick, fuhr herum – und in diesem Moment sah er ihn. Der Vorstand der Fabrik, umgeben von einer Ehrengarde aus Soldaten, kam im Laufschritt auf ihn zu.
Höhnische lächelnd nahm der Abt seine Kampfstellung ein und wartete, bis der junge Mann ihn erreicht hatte. Endlich hatte er das erreicht, wonach er sich schon so lange sehnte: Seinem verhassten, jüngeren Sohn gegenüberzustehen und den jahrzehntelangen Streit zwischen ihnen auszukämpfen.
Die beiden Männer trafen sich und prallten hart aufeinander; und ob alt oder jung, beide wurden sie beinahe von den Beinen gerissen. Nur der gegenseitige Hass, der wie Feuer zwischen ihnen zu lodern schien, zwang sie stehenzubleiben.
Einige Minuten lang kämpften die beiden Recken, deren Aussehen bis auf den Altersunterschied beinahe identisch war, nur mit den bloßen Händen und Füßen. Beide wandten sie Kampftechniken an, die noch nie jemand zuvor gesehen hatte; und obwohl der Vorstand der Fabrik deutlich weniger Muskelmasse als der Abt besaß, stand er seinem Vater um nichts nach. Mit seinen langen, schlanken Gliedern teilte er Schläge und Tritte umso schneller aus, was dazu führte, dass beide Gegner in etwa gleich viele Schläge einsteckten.
Die kämpfenden Armeen, sowohl Krieger als Soldaten, wichen zurück vor diesem Kampf der Giganten. Ohne selbst ans Kämpfen zu denken, sahen sie fasziniert den beiden Hünen zu, die sich gegenseitig blutig schlugen. Keiner von ihnen würde aufgeben, bevor der Andere nicht tot war – dazu waren sie beide schon viel zu weit gegangen.
Der Kampf zwischen Vater und Sohn hielt sich perfekt im Einklang. Für jede Verletzung, die der Abt seinem Gegner zufügte, bekam er dasselbe zurück; gleich stand die Situation für den Vorstand. Irgendetwas musste geschehen, das wussten sie beide…
Der Abt versuchte, seinen Sohn mit einem Tritt ins Gesicht zu treffen. Er verfehlte knapp, dafür rammte ihm dieser die Faust in den Magen.
Keuchend trat er einen Schritt zurück, nur um sofort wieder vorzustoßen. Der Vorstand blockte die Wucht des Aufpralls geschickt ab, und sie trafen genau mit den Handflächen aufeinander. Sofort schlossen sie die Finger um die Hände des jeweils anderen.
Sie blieben einfach so stehen und versuchten, den Gegner nach hinten zu werfen. Um sie herum loderten verschiedenfarbige Flammen auf und züngelten an ihren Körpern in die Höhe, wobei sie keinen weder Schmerz noch Verbrennung verursachten – ein eindeutiges Zeichen von starker Magie.
Mit körperlichen sowie magischen Kräften versuchten die beiden Kämpfenden, einander zu töten. Nichts davon nutzte etwas, denn ihre Kräfte glichen sich aus: Sie waren einander ebenbürtig.

Auch Yai´ro beobachtete den Kampf, allerdings aus einiger Entfernung. Er war so sehr beeindruckt von dem Schauspiel, dass er Paryn und seine eigenen Pläne für den Moment vergaß. Erst als er Selenas Stimme hörte, kehrten seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurück.
Yai´ro, hör mir zu!
Die hektisch ausgesprochenen Worte hallten in seinem Kopf wieder.
Lass dich nicht in den Bann dieser Magier ziehen. Wir haben Wichtigeres zu tun!
Langsam erschien die restliche Welt wieder vor Yai´ros Augen. Er sah den Kampf zwar immer noch, aber ebenso das Geschehen rundherum. Zehntausende Krieger und Soldaten standen wie verwirrt herum. Den Krieg hatten sie vergessen, stattdessen beobachteten sie nur noch ihre kämpfenden Anführer. Die Wenigsten unter ihnen – einer davon war Sergeant Matthew – brachten genug Willenskraft auf, um der magischen Ausstrahlung der beiden Männer zu widerstehen; und selbst diese wussten nicht, was zu tun war.
Yai´ro wandte sich von dieser hoffnungslosen Situation ab und blickte weiter in die Ferne. Weit hinter den verfeindeten Truppen, nahe dem östlichen Horizont, verließ ein einzelnes Kampffahrzeug der Fabrik die Hügellande und wirbelte dabei eine weithin sichtbare Staubwolke auf. Dieser Anblick genügte, um ihn endgültig in die Realität zurückzubringen.
Erfüllt mit neuer Hoffnung rannte er durch das Gewirr aus verwirrt herumstehenden Kämpfern auf das näherkommende Fahrzeug zu. Warum weder Krieger noch Soldaten versuchten, ihn aufzuhalten, war ihm schleierhaft; es kam ihm allerdings sehr zugute.
Das Kampffahrzeug erreichte die stillstehenden Armeen und machte Halt. Seine beiden Insassen, ein jugendliches Mädchen und ein erwachsener Mann, hielten nach Yai´ro Ausschau. Selena entdeckte ihn zuerst.
„Yai´ro, hierher!“, rief sie ihm zu und riss damit einige Krieger aus ihrer Trance.
Yai´ro begann zu sprinten, er war kaum noch hundert Meter von dem Fahrzeug entfernt. Ein Soldat, der ihm folgen wollte, wurde von einer von Paryns Wurfäxten niedergestreckt; und er erreichte unbehelligt sein Ziel. Die rechte, unverletzte Hand benutzend, schwang er sich zu Paryn und Selena in das Cockpit des Fahrzeugs. Ersterer drückte sofort das Gaspedal durch, und das schwerfällige Automobil raste los, der noch weit entfernten, nördlichen Küste entgegen.

Der Abt und der Vorstand sanken erschöpft zu Boden. Sie hatten alles versucht, aber keinem von ihnen war es gelungen, den anderen zu besiegen. Von ihren sonst so gewaltigen Kräften verlassen, gaben sie ihren Armeen das Signal zum Rückzug. Sie waren sich ebenbürtig, das wussten sie; und dennoch schworen sie sich beide, dass sie den Anderen eines Tages töten würden.
Mit all diesen Problemen waren sie so sehr beschäftigt, dass sie auf nichts anderes mehr achteten. Sie bemerkten nicht einmal das Kampffahrzeug der Fabrik, das eine Staubwolke hinter sich herziehend am Horizont verschwand…

10. Szene: Der Fährmann

Nebelschwaden zogen übers Land und verdeckten die herrliche Vegetation der Nordküste Koriens. Die vereinzelten Sonnenstrahlen, die durch die dichte Wolkendecke am Himmel brachen, verstärkten noch den Eindruck einer geheimnisvollen, ja beinahe unheimlichen Landschaft.
Kaum ein intelligentes Wesen lebte hier, und so versetzte das inzwischen ziemlich mitgenommene Kampffahrzeug der Fabrik die Tierwelt in großen Aufruhr, als es auf den kurzen Sandstrand zurollte. Yai´ro, Paryn und Selena waren in den letzten drei Tagen nicht aus der Maschine gestiegen, aus Angst, dass ihnen jemand folgen könnte. Sie hatten nur über das Nötigste gesprochen, Yai´ros Wunden verbunden und bei Gelegenheit etwas gegessen.
Doch umso näher sie der Küste kamen, umso schneller löste sich die gedrückte Stimmung. Trotz des trüben Wetters kam im Fahrzeug Entspannung, wenn nicht gar Freude auf; und als es wenige Meter vor dem von Nebelschwaden überzogenen Meer hielt, stieß Selena einen erleichterten Seufzer aus.
„Was werden wir jetzt tun?“, fragte Yai´ro, während Paryn aus dem Cockpit sprang und seine Pistole sowie die restlichen Wurfäxte beiseite warf. Der Rhuner legte wieder seine eigene, lange, weiße Kleidung mitsamt Turban an, die er seit seiner Flucht aus der Fabrik gut aufbewahrt hatte.
„Wir werden versuchen, nach Faanland zu kommen!“, antwortete Selena auf Yai´ros Frage und stieg ebenfalls aus dem Fahrzeug. Yai´ro tat es ihr gleich, wobei er seine linke Hand nur vorsichtig benutzte. Zwar schützte ein dicker Verband die Wunde, aber laut Selena konnte er sich glücklich schätzen, dass seine Finger nicht gelähmt waren.
„Und… wie kommen wir dorthin?“, löcherte er die Elbin, die gerade dabei war, über das relativ ruhige Meer in die Ferne zu spähen.
„Faanland ist eine Insel nördlich von Korien“, antwortete diese, ohne Yai´ro anzusehen. „Allerdings eine ziemlich große Insel. Sie befindet sich in der sogenannten ‚Nordbucht’, einem Halbkreis, den die Küste Koriens bildet. Dazu ist diese Insel nur soweit von uns entfernt, dass wir sie bei gutem Wetter sehen könnten – aber leider haben wir kein gutes Wetter.“
Sie gab es auf, in den Nebel zu spähen und drehte sich zu Yai´ro um.
„Das einzige Problem ist, dass die Menschen einen magischen Schild rund um ihre Heimat errichtet haben, den niemand durchdringen kann. Sogar die göttlichen Engel würden sich dabei schwer tun!“
„Und genau deshalb ist es so wichtig, dass wir nach Faanland gelangen!“, mischte sich Paryn, der inzwischen seine normale Kleidung angelegt hatte, in das Gespräch ein. „Hinter diesem Schild wären wir eine Zeit lang vor Saphita sicher. Unsere geplante Reiseroute hätte zwar anders ausgesehen, aber wir können nicht wieder durch das Kriegsgebiet zurück, das wäre ein zu hohes Risiko. Also haben wir die Wahl: Entweder bleiben wir hier und tun nichts, oder wir reisen nach Faanland, bitten um die Hilfe der Menschen und nutzen gleichzeitig diesen Schild für uns. Denn glaubt mir, Saphita wird es nicht bei einem gescheiterten Angriff belassen!“
Yai´ro trat nach vorne, krempelte den Ärmel seiner schwarzen Ordenskleidung hoch und berührte mit der Hand das Meerwasser. Es war eiskalt, und doch fühlte es sich auf eine gewisse Weise lebendig an. Als würde es ein glückliches Geheimnis bergen…
Die Landschaft, welche nach dem Ende der Hügellande abrupt flacher geworden war, wirkte ähnlich. Zwar konnte man aufgrund des zunehmenden Nebels kaum fünfzig Meter weit sehen, dafür schien die Vegetation äußerst lebhaft. Sattes, grünes Gras wucherte bis knapp vor den kurzen Sandstrand, dazu nahm dichtes Gestrüpp einen großen Teil des Platzes ein. Hier und da kennzeichneten sogar hohe Laubbäume die Landschaft.
Die drei Gefährten hatten in dieser Gegend bisher weder Erhebungen noch Felsen gesehen, was einen starken Gegensatz zum naheliegenden Hügelland darstellte. Außerdem war die Nordküste seit jeher unbesiedelt – Yai´ro war als einzige Gemeinsamkeit der beiden Landschaften aufgefallen, dass beide eine rege Fauna besaßen. Wäre der Nebel nicht gewesen, hätte man bestimmt einige der zahlreichen Tierarten beobachten können…
Yai´ros Gedanken kehrten nur langsam wieder zu ihrer eigentlichen Bestimmung zurück. Er wusste, was Faanland war, aber Selena hatte seine letzte Frage nicht vollständig beantwortet.
Nachdenklich drehte er sich zu seinen Gefährten um, die ein leises Gespräch begonnen hatten. Obwohl sich die beiden erst seit ein paar Tagen wirklich kannten (die Zeit, in der Selena die Gestalt einer Katze gehabt hatte, zählte nicht), konnten sie sich auf Anhieb gut leiden. Selena respektierte Paryns Erfahrung und er ihr Wissen; Yai´ro verstand sich sowieso mit beiden ausgezeichnet.
Der junge Rhuner erhob sich aus seiner hockenden Haltung und streckte sich. Immerhin hatte er sich in den letzten drei Tagen kaum bewegt! Schließlich stapfte er durch den feuchten Sand auf seinen Onkel zu, der das Gespräch mit der Elbin soeben beendet hatte.
„He, Paryn! Wie sollen wir eigentlich auf diese Insel kommen?“
Der Rhuner war mit den Augen Selena gefolgt, die sich in das seichte Meerwasser kniete und Kraft für ein magisches Ritual sammelte. Erst als Yai´ro seine Frage wiederholte, wandte er sich von diesem faszinierenden Schauspiel ab und seinem Neffen zu.
„Es gibt eine Art von Verbindung zwischen Faanland und Korien“, versuchte er ihm zu erklären, was er eben erst selbst erfahren hatte. „Man kann sie mit Magie aufrufen, und wenn man Glück hat, lassen einen die Menschen in ihre Heimat eintreten. Wenn sie aber denken, dass man nicht würdig ist, Faanland zu betreten, dann wird man nie dorthin gelangen.“
Er machte eine kurze Pause und deutete auf Selena, die das magische Ritual bereits begonnen hatte.
„Sie versucht, die Verbindung herzustellen!“, stellte Yai´ro fest, worauf sein Onkel nickte.
„Diese Verbindung wird ‚der Fährmann’ genannt. Dieser Fährmann soll die Gestalt eines alten Mannes haben, der den Menschen willenlos gehorcht. Jedenfalls ist er der Einzige, der mit seinem Kahn die magische Barriere zwischen Korien und Faanland durchdringen kann… außer vielleicht den göttlichen Engeln.“
Yai´ro hatte den letzten Satz beinahe völlig überhört, denn er beobachtete mit wachsender Begeisterung Selena. Die Elbin begann inmitten all des Nebels in warmen, schillernden Farben zu strahlen. Die Wassertropfen, die von ihren nassen Gliedern abperlten, glänzten wie Funken in der Dunkelheit, und langsam begannen sich die leuchtenden Farben auch auf das umliegende Gewässer auszubreiten. Es war, als würde das glückliche Geheimnis, das tief im Meer verborgen lag, erwachen und alles mit sich reißen. Selena streckte ihre Hand aus, und ein Strahl in den Farben des Regenbogens schoss von ihr in die Richtung der nahen und doch so weit entfernten Insel Faanland. Eine Weile lang blieb die Verbindung bestehen, doch dann verblasste der Strahl wieder, die leuchtenden Farben zogen sich zurück und Selena kippte erschöpft zur Seite.
War das Ritual fehlgeschlagen?
Yai´ro machte einen Satz nach vorne und fing Selena auf, noch bevor sie den Boden berührte. Anscheinend hatten ihnen die Menschen den Eintritt nach Faanland verwehrt…
Er spähte in den Nebel hinaus – es war weit und breit nichts zu sehen als das Meer, das jeden Farbglanz wieder verloren hatte.
„Also gut…“, begann Paryn deutlich enttäuscht zu sprechen. „Wir werden uns wohl einen anderen Weg suchen müssen…“
Yai´ro spähte weiterhin angestrengt in den Nebel hinaus. Die Menschen konnten sie doch nicht einfach so der Vernichtung preisgeben!
Er suchte noch einmal das ganze Meer ab, in der Hoffnung, zwischen den Nebelschwaden dennoch etwas zu finden; und plötzlich stieß er einen Freudenschrei aus.
„Paryn! Selena! Seht doch nur – dort draußen!“
Paryn, der sich bereits über den nassen Sand auf den Rückweg zu seinem Fahrzeug gemacht hatte, fuhr erwartungsvoll herum. Auch Selena, die noch immer geschwächt in Yai´ros Armen lag, blickte auf. Bei dem Anblick, der sich ihnen bot, kehrten ihre Kräfte jedoch rasch zurück, und Paryn hätte beinahe wie sein Neffe vor Freude aufgeschrieen.
Weit draußen, im nebelüberzogenen Meer, war die Silhouette eines Bootes erschienen. Darin stand ein hoch aufgerichteter Mann, der es mit einem hölzernen Ruder auf die drei Gestalten am Ufer zulenkte.
„Das… das muss der Fährmann sein!“, sprach Selena aus, was sie alle dachten.

Das Gefährt kam dem Ufer immer näher. Während die beiden anderen es wie gelähmt beobachteten, sah sich Yai´ro noch ein letztes mal um und verabschiedete sich innerlich von Korien, welches er gleich verlassen würde. Die nebelüberzogene und doch so lebhafte Landschaft, überwuchert von saftig grünem Gras und dichtem Gebüsch; der hellgelbe, steinige Sand, der von seichten Wellen überflutet wurde und in dem er selbst sowie seine Freunde wateten; das schier unendlich weite Meer, das ohne die einschränkende Sicht des Nebels bloß ein schmaler Kanal war, der nicht einmal bis zum Horizont reichte – all das wirkte für ihn plötzlich unglaublich schön und lebendig.
Doch dann wurde er von dem scharrenden Geräusch aus seinen Gedanken gerissen, das der Kahn beim Auflaufen auf den Strand verursachte. Yai´ro drehte sich um zu dem länglichen, aus einer dunklen Holart bestehenden Gefährt, in dem etwa fünf Männer von Paryns stattlicher Größe Platz hatten. Sein erster Blick galt allerdings nicht dem Kahn an sich, sondern dem Fährmann.
Er stand hoch aufgerichtet im hinteren Teil des Bootes: Ein relativ großer, steinalter Mann mit grauweißem Haar, hartem, aber ausdruckslosem Gesicht und ebenso ausdruckslosen wie regen Augen, die sich kaum bewegten und doch alles wahrzunehmen schienen. Seine Statur blieb unter einer langen, dunkelgrauen Kutte verborgen; er schien aber dennoch sehr kräftig zu sein, denn er lenkte seinen Kahn völlig allein mit einem langen, schweren Holzruder.
Paryn war der erste, der auf das gewiss nicht mehr als fünf Meter lange Boot zutrat, dessen vorderer Teil im Sand steckte, der hintere aber immer noch vom Meerwasser umspült wurde. Yai´ro und Selena beeilten sich, ihm nachzukommen, und kletterten über den hölzernen Bug in den Kahn. Dabei bemerkte Yai´ro, dass sich an der Außenseite des Bootes, welches anscheinend aus einem einzigen, gigantischen Baumstamm hergestellt worden war, zahlreiche und kunstvolle Verzierungen befanden. Er hatte sie bisher nur deswegen nicht gesehen, weil sie durch die lange Benutzung im Salzwasser einigermaßen verblasst waren. Im Inneren des Gefährts war eine einzige hölzerne Sitzbank angebracht, auf die sich Selena sofort niederließ. Yai´ro hingegen blieb stehen und überprüfte noch einmal seine Kleidung sowie das Schwert, das seit der Schlacht in einer Lederscheide auf seinem Rücken hing. Ebenso tastete Paryn noch einmal nach dem Säbel, den er unter einer der unzähligen Falten seiner Kleidung versteckt hatte, bevor der Fährmann seinen Kahn mit einer kräftigen Bewegung vom Ufer abstieß.
Gut gelenkt trieb das Boot immer schneller auf das offene Meer hinaus. Der Nebel schloss sich um es, und die Küste Koriens wurde immer schlechter sichtbar. Yai´ro blickte vom Bug des Kahns aus zurück und beobachtete, wie das Kampffahrzeug der Fabrik langsam vom Nebel verschluckt wurde. Zuerst verschwand das Geschütz am Heck, dann die Hinter- und Vorderreifen, bis schließlich nur noch die spiegelnde Windschutzscheibe durch den Nebel funkelte. Als auch diese verschwunden war, drehte er sich um, blickte nach vorne, in die Richtung der Insel Faanland, und ließ seine Gedanken ausschweifen.
Und während der Kahn über die Wellen des Meeres glitt, wurde Yai´ro plötzlich bewusst, dass er sich wahrhaft glücklich schätzen konnte. Zwar hatte er seine Heimat und seine Mutter verlassen müssen, aber dafür durfte er durch die Welt reisen und etwas von ihr lernen – genau das, wonach er sich schon immer gesehnt hatte. Außerdem war er mit seinen Freunden zusammen, und sie hatten ein gemeinsames Ziel. In Faanland würde er sogar noch eine Weile vor der rachsüchtigen Saphita geschützt sein, auch wenn es nur eine weitere, unwichtige Etappe war – auf ihrem langen Weg nach Rhun.

3. Kapitel: Faanland

1. Szene: Ankunft


Der Nebel lichtete sich erst langsam, dann verschwand er immer schneller. Direkt vor dem hölzernen Kahn, der vom Fährmann gelenkt gleichmäßig über die Wellen des Meeres glitt, tauchte eine unbekannte, aber wunderschöne Küste auf: Die Küste Faanlands.
Verschiedenste, teilweise beinahe tropische Bäume mit verschlungenen Formen wucherten bis knapp vor den etwa fünfzig Meter langen, flachen Sandstrand und bildeten einen scheinbar undurchdringlichen Wall. Das dichte Unterholz des Waldes, der ausschließlich aus Laubbäumen mit großen, saftigen Blättern in den unterschiedlichsten Grüntönen bestand, wucherte wild und hoch und verstärkte so noch den Eindruck der Undurchdringlichkeit.
Der Kahn hatte kaum eine Stunde benötigt, um die Meerenge zu durchqueren. Dabei hatte durchgehend dichter Nebel geherrscht, der sich erst gegen Ende der Fahrt erstaunlich rasch verflüchtigt und den Blick auf die Küste Faanlands freigegeben hatte.
Yai´ro betrachtete das neue Land, das sich vor ihm auftat, mit Verwunderung und Neugier. Schon der erste Eindruck von Faanland ließ ihn das Monat, das er beim Orden verbracht hatte, vergessen; stattdessen dachte er voll Vorfreude daran, das Land der Menschen zu entdecken. Ebenso freudig erregt schien Selena, nur Paryn stand mit seiner üblichen Würde weiter hinten im Kahn und blickte scheinbar gelassen zur neuen Küste.
Der Kahn glitt mit sinkender Geschwindigkeit auf den Strand zu. Er wirkte mit seiner finsteren Ausstrahlung einsam und verloren inmitten der hellen, freundlichen Landschaft, die von der abendlichen Sonne sanft beschienen wurde. Trotzdem büßte er nichts von seiner mächtigen Aura ein, und er hatte sogar etwas mit seiner Umgebung gemeinsam: Sowohl Faanland als auch der Kahn mit seinem Führer waren geheimnisvoll – zwar auf eine verschiedene Weise, aber dennoch ähnelte sich ihre Ausstrahlung.
Ein heftiger Ruck erschütterte das Boot, als es auf Sand auflief. Mühsam schob es sich noch ein kleines Stück weiter, bis es endgültig stehen blieb und Selena als erste vom Bug ins knöcheltiefe Wasser sprang. Yai´ro wollte ihr folgen, beging jedoch den Fehler, sich mit der linken Hand am Rand des Bootes abzustützen. Er fühlte einen stechenden Schmerz, der sich vom verletzten Handrücken bis zur Schulter zog, ließ sofort los und landete ungeschickt im tieferen Wasser.
Auch Paryn, der anfangs noch gezögert hatte, stieg vom Bug des Kahns auf den Strand. Es war wohl an der Zeit für ihn, die alten Streitigkeiten zwischen Rhunern und Menschen zu vergessen. Er konnte nur hoffen, dass die Menschen ebenso dachten!
Sobald alle den Kahn verlassen und auch Yai´ro wieder festen Boden unter den Füßen hatte, stieß der Fährmann sein Boot vom Ufer ab und steuerte wieder auf die Nebelmauer zu, die immer noch vor der gegenüberliegenden Küste wallte. Die Gefährten bemerkten jedoch kaum etwas davon, denn ihre Aufmerksamkeit hatte sich bereits auf ein neues Geschehen gerichtet:
Nur wenige Sekunden nach ihrer Ankunft an der Küste Faanlands regten sich die Zweige der nächsten Bäume, die kaum fünfzig Meter entfernt, auf einer leichten Erhebung wucherten. Entgegen dem Eindruck der Undurchdringlichkeit traten nacheinander fünf Gestalten aus dem Wald; Wesen, wie sie Yai´ro noch nie zuvor gesehen hatte und die ihm gleichzeitig auf eine seltsame Weise bekannt vorkamen. Es waren Menschen, die mit herrischen Bewegungen auf die drei Gefährten zutraten und sie mit vorsichtiger Freundlichkeit begrüßten.
Zwar hatte sich in Faanland, das schon lange von der restlichen Welt abgeschnitten war, eine eigene Sprache entwickelt, aber einer der Menschen beherrschte auch die Einheitssprache Korianisch. Der Mann war offensichtlich der Anführer der Gruppe, denn er hatte eine zentrale Stellung in der Mitte seiner Begleiter inne. Auch sein sichtbar fortgeschrittenes Alter schien ihm eine gehobene Position zu verschaffen; die anderen Menschen hingegen waren eher jung, die beiden männlichen unter ihnen trugen sogar Waffen.
Der ältere, kleinwüchsige Mann, der kaum noch Haar am Kopf hatte, trat mit einem unerschütterlich ernsten, aber trotzdem freundlichen Gesichtsausdruck vor, während seine Begleiter stehen blieben und das Geschehen genau beobachteten. Mit einer höflichen Geste streckte er seine Hand den drei Gefährten entgegen, die en leichten Hang zwischen Strand und Bäumen erklommen hatten und nun wie zu Salzsäulen erstarrt auf die Reaktion der Menschen auf ihre Ankunft in Faanland warteten. Dann begann er in flüssigem Korianisch zu sprechen.
„Seid willkommen in Faanland! Wir freuen uns, euch begrüßen zu dürfen. Ihr sollt wissen, dass ihr durch unser Land reisen dürft und wir euch nach Möglichkeit unterstützen werden, aber hier zu leben bleibt uns Menschen vorbehalten“
Der Mann machte eine kurze Pause und musterte jeden einzelnen der Gefährten genau. Er sprach zwar mit leichtem Akzent, drückte sich aber sehr gewählt und höflich aus. Als er weitersprach, änderte sich jedoch etwas an seiner Haltung und Aussprache, und er wirkte nicht mehr so freundlich wie bisher.
„Wir waren allerdings sehr überrascht, als uns zu Ohren kam, dass zwei Rhuner und eine Elbin hierher unterwegs sind! Aber anscheinend wollt ihr uns nichts Schlechtes, denn sonst hättet ihr unser Land nie betreten können… Was also ist euer Begehr? Was führt euch nach Faanland, wo es doch so weit von eurer Heimat liegt?“
Alle hatten den Worten des ehrwürdigen alten Mannes gelauscht, aber niemand wusste eine Antwort zu geben. In Yai´ro tauchten sogar Zweifel auf, ob die Menschen ihre Lage überhaupt verstehen würden…
Der junge Rhuner massierte noch immer seine schmerzende Hand, die dick mit weißen Bandagen umwickelt war; Selena stand unschlüssig neben ihm und wusste nicht recht, was sie sagen sollte – bisher hatte immer ihre Meisterin für sie gesprochen. Also ergriff Paryn das Wort und versuchte, die Situation zu erklären. Er überragte den alten Mann um zwei Köpfe, stand ihm in Erfahrung und Würde allerdings um nichts nach.
„Wir werden euch selbstverständlich erzählen, was uns hierher führt.“, versprach er. „Aber vielleicht sollten wir zuvor ein Lager aufschlagen, denn es wird bald Abend, und wir haben viel zu berichten!“
Der alte Mensch musterte sie noch einmal der Reihe nach; angefangen bei Yai´ro, der ihm trotz seiner schmerzverzerrten Miene und von dem Sturz nassen Kleidung ein mutiger, gefühlsvoller und zielstrebiger Jüngling zu sein schien. Die Elbin besaß in seinen Augen sehr viel Wissen und Wendigkeit, dafür mangelte es ihr an Erfahrung. Der einzige gleichwertige Gesprächspartner für ihn war also der erwachsene Rhuner, welcher trotz seiner augenscheinlichen Erfahrung, Vernunft und angehenden Weisheit immer noch kriegerisch und, auf eine gewisse Weise, jung wirkte. Das einzige, was diesem Mann zu fehlen schien, waren seine magischen Kräfte und die damit verbundene Lebensfreude – genau das, was in den beiden jüngeren Reisenden über die Maßen vorhanden war. Ja, auch der junge Rhuner zeigte eine große magische Begabung, obwohl er sie anscheinend noch kaum trainiert hatte.
Schließlich nickte der alte Mann und fügte in gemäßigtem Ton hinzu:
„Lasst uns in den Wald gehen, dort sind wir auch nach Einbruch der Dunkelheit sicher. Wir können ein Lager aufschlagen – an Lebensmitteln fehlt uns nichts – und Ihr erzählt eure Geschichte.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und marschierte auf den Wald zu. Yai´ro blieb einen Moment lang irritiert stehen, doch als sich auch Paryn in Bewegung setzte, folgten er und Selena ihm in einigem Abstand.
Unter der Führung des alten Menschen erreichte die Gruppe schon bald die ersten Bäume, und während die Sonne immer tiefer sank, drang sie immer tiefer in das ebenfalls erlöschende Zwielicht des Waldes ein. Die Küste und das Meer, auf dem irgendwo noch immer der Kahn des Fährmanns schaukelte, wurden zusehends von den hohen, dunklen Bäumen verdeckt. Diese wuchsen nicht einmal so dicht, wie Yai´ro es nach dem ersten Eindruck erwartet hätte; und noch etwas hatte sich geändert: Vom Ufer aus waren nur Laubbäume zu erkennen gewesen, im Inneren des Waldes mischten sich aber immer mehr Nadelgewächse in allen Formen und Größen darunter. So war der Boden bedeckt von stacheligen Sträuchern aller Art, deren Namen Yai´ro nicht einmal erahnen konnte. Sie überwucherten Felsen und umgestürzte Baumstämme und bildeten so, gemeinsam mit anderen Sträuchern und niedrigen Gewächsen, ein dichtes Unterholz, das jedes Vorwärtskommen erschwerte.
Trotz dieses Hindernisses drang Paryn bis zu dem alten Menschen vor, der gemeinsam mit einer der Frauen die Gruppe anführte, um sich mit ihm zu unterhalten. Yai´ro verstand kaum etwas von dem Gespräch der beiden Männer vor ihm, deshalb begann er seinerseits eine Unterhaltung mit Selena und bemerkte kaum, wie sich die Dunkelheit über den Wald senkte und sie ihrem Lagerplatz immer näher kamen.

Kaum fünf Minuten später erreichte die Gruppe eine kleine Waldlichtung, die den perfekten Ort für ein Lager bildete: Sie war völlig frei von Gestrüpp, wurde trotz der hohen, dunklen Bäume vom Licht des abnehmenden Mondes beschienen, und zu allem Überfluss fand sich in der Umgebung mehr als genug Holz, um damit ein Feuer zu entfachen.
Yai´ro ließ sich erschöpft auf den Boden fallen und wunderte sich, dass er den Morgen noch in einem Kampffahrzeug der Fabrik verbracht hatte; in Korien, das ihm momentan unvorstellbar weit entfernt vorkam. Er hätte nie gedacht, dass an einem Tag so viel geschehen konnte… Auch jener bedeutungsvolle Tag vor einem Monat, an dem er in der Arena gekämpft, Rith verloren und Paryn getroffen hatte, kam ihm bei weitem nicht so lang vor. Vielleicht kam das Gefühl auch von dem Ortswechsel? Er wusste es nicht.
Inzwischen hatten sich alle um das Feuer versammelt und auch Yai´ro rückte ein Stück näher zu den knisternden Flammen, denn die Nacht war kalt und seine Kleidung immer noch nass. Einer der Menschen teilte Trockenfleisch und Brot aus, ein anderer erhob sich noch einmal, um Wasser von einer nahen Quelle zu holen – und dann, endlich, begann der alte Mann zu sprechen.
„Wir haben gegessen und getrunken“, sagte er, an Paryn gerichtet. „Und wir haben ein Lager für die Nacht. Nun bitte ich Euch, erzählt uns, was euch nach Faanland führt!“
Paryn nickte und sah noch einmal nach Yai´ro und Selena, die nebeneinander dicht beim Feuer saßen.
„Ich werde Euch unsere Geschichte gerne erzählen, aber dürften wir vorher eure Namen erfahren?“
„Oh, selbstverständlich!“
Der alte Mann wirkte überrascht, dass er dieses wichtige Ritual vergessen hatte.
„Mein Name ist Keshyn Raknos; ich wurde gesandt, um euch zu begrüßen und nach eurem Begehr zu fragen. Meine Begleiter hier heißen…“
Bei diesen Worten zeigte er mit der ausgestreckten Hand der Reihe nach auf seine Mitreisenden, die rund um das Feuer saßen und den Worten ihres Anführers lauschten, obwohl sie kein Korianisch verstanden.
„…Alica und Ferron Nibesz, die beiden sind Geschwister und in diesen Wäldern aufgewachsen, Reknon Lit, er ist Soldat bei der Garde Faanlands, und Serana Duroff. Serana ist Heilerin und – ebenso wie ich – ausgebildete Magierin.“
Keshyn Raknos machte eine kurze Pause und blickte zu Paryn.
„Nun kennt ihr unsere Namen. Dürften wir jetzt erfahren, was euch hierher führt?“
Paryn fing an zu erzählen, und obwohl Yai´ro die Geschichte schon kannte, hörte er mit Freude zu. Sein Onkel begann beim alten Rhun und dem Krieg, der Korien damals erschüttert hatte. Er ließ keine Einzelheit aus und erzählte sowohl, was er selbst erlebt, als auch, was er von anderen erfahren hatte. Der einzige Weg, nach Rhun zu gelangen, war wohl, von den Menschen Hilfe zu erhalten – ein schwacher Hoffnungsschimmer, wie es Yai´ro schien.
Die Geschichte des alten Rhun endete mit dem Fluch, den der Engel der Läuterung ausgesprochen hatte. Danach berichtete Paryn über seine Mission und über die Reise, die sie bis nach Faanland geführt hatte. Er strich dabei eines besonders heraus: Die Rolle, die Yai´ro für die Rhuner spielte.
Sowohl für diesen als auch für Selena war es interessant, von ihren eigenen Erlebnissen zu hören. Sie lauschten beide gespannt, als Paryn vom Kampf in der Arena von Manta erzählte, von ihrer geplanten Reiseroute oder von der Gefangennahme durch die Fabrik und den Orden, der großen Schlacht und der Flucht. Schließlich kam Paryn zu der Begegnung mit dem Fährmann und ihrer Ankunft in Faanland. Er erzählte bis zu der Stelle, an der sie Keshyn Raknos und seine Begleiter getroffen hatten, stoppte dann, und wartete auf eine Antwort.
Eine Weile lang durchbrachen nur die nächtlichen Geräusche des Waldes di Stille über der Lichtung. Alle, die um das Feuer versammelt waren, starrten gespannt auf den alten Mann – alle warteten auf seine Antwort, obwohl für sie unterschiedlich viel davon abhing.
Schließlich nickte Keshyn Raknos.
„Ich würde euch gerne helfen“, meinte er. „Aber leider liegt es nicht an mir, das zu entscheiden. Wenn ihr einverstanden seid, können wir euch in die Hauptstadt bringen, wo der Thronhüter über eure Sache entscheiden wird – aber seid unbesorgt, er ist ein guter Mann und ich bin mir sicher, dass er euch helfen wird. Und euren zeitweiligen Aufenthalt in Faanland kann euch jedenfalls niemand verwehren!“
Paryn begann zu lächeln, und auch Yai´ro fühlte sich ermutigt – so viel Hilfsbereitschaft hatte er nicht erwartet.
„Ich danke Euch für Eure Hilfe, Keshyn! Wenn es uns erlaubt ist, werden wir euch natürlich zur Hauptstadt begleiten.“
Paryn machte eine kurze Pause, blickte zu Yai´ro und fügte dann hinzu: „Ich habe noch eine Bitte. Mein Neffe Yai´ro hat eine Verletzung an der linken Hand. Die Wunde ist nicht sehr tief, aber sie hört seit vier Tagen nicht auf zu bluten und zu schmerzen, außerdem wäre Yai´ros Hand beinahe gelähmt worden. Könnte sich Eure Heilerin diese Wunde ansehen?“
Keshyn nickte und wechselte einige Worte auf Faanländisch mit Serana Duroff, der Heilerin. Diese erhob sich und umrundete das prasselnde Feuer, welches, obwohl es bereits schwächer wurde, immer noch tapfer gegen die Finsternis der Nacht ankämpfte.
Yai´ro streckte ihr seine linke Hand entgegen und die Frau, deren langes, dunkelblondes Haar sich bereits grau färbte, löste die Bandagen vom geschwollenen Handrücken. Als sie den letzten Stoffstreifen entfernte, hätte Yai´ro beinahe vor Schrecken aufgeschrieen – unter seinem Verband quoll dicker, gelber Eiter hervor.
Serana Duroff sagte etwas auf Faanländisch, und Keshyn übersetzte: „Das ist ein weiterer Grund, so schnell wie möglich zur Hauptstadt zu reisen. Diese Wunde hat eine Infektion, und wenn sie nicht bald professionell behandelt wird, kann sich diese auf den Arm und von dort aus auf den ganzen Körper ausbreiten...“

2. Szene: Die faanländischen Ebenen

Yai´ro kletterte geschickt über einen umgestürzten Baumstamm, der den Weg versperrte, und achtete sorgsam darauf, sich in dem stacheligen Gestrüpp auf der anderen Seite nicht die Kleidung zu zerreißen. Hinter ihm folgte Selena; Paryn und Keshyn Raknos hingegen zogen es vor, das Hindernis in einem großen Bogen durch den Wald zu umgehen.
Seit dem Abend vor zwei Tagen, an dem sie beschlossen hatten, zur Hauptstadt zu reisen, war kaum etwas Besonders geschehen. Sie waren durch den Wald gewandert, hatten miteinander geplaudert und gegessen. Seltsamerweise fühlte sich Yai´ro dabei so frei wie nie zuvor, denn er konnte tun und lassen, was er wollte, ohne jemanden, der ihn zu etwas zwang oder ihm etwas befahl. Hier, in diesem neuen, wunderbaren Land der Menschen, konnte er das Leben zum ersten Mal wirklich genießen .
Yai´ro machte einen großen Schritt, um auch den letzten der stacheligen Sträucher zu entgehen, blieb dann stehen und blickte gen Himmel. Die Sonne, deren Strahlen nur an wenigen Stellen durch das dichte Blätterdach des Waldes drangen, stand noch weit im Osten: Es war früher Vormittag.
Yai´ro hatte gut geschlafen und fühlte sich frisch und voller Tatendrang. Kaum zu glauben, dass er noch am gestrigen Abend ohne ein weiteres Wort zu sprechen erschöpft eingeschlafen war.
Hinter ihm war Selena damit beschäftigt, ihren Umhang aus dem dichten, klettenähnlichen Dornengestrüpp zu befreien. Yai´ro zögerte einen Moment, drehte sich dann aber zu ihr um und half ihr, dem stacheligen Hindernis zu entkommen, indem er sie mit einem Ruck in die Höhe schwang und aus dem Gebüsch trug. Selena musste lachen und er stimmte mit ein, wobei er gut aufpassen musste, dass er die Elbin nicht fallen ließ. Zu diesem Zweck verlagerte er das Gewicht mehr auf seine linke Hand, was ein schlimmer Fehler war – denn plötzlich spürte er jenen stechenden Schmerz, den er inzwischen nur zu gut kannte, und hätte Selena beinahe wirklich fallen gelassen, wenn diese sein Zusammenzucken nicht bemerkt und instinktiv die Beine ausgestreckt hätte.
„Yai´ro, ist alles in Ordnung?“, fragte sie unsicher, und er nickte als Antwort.
„Es hat nur kurz geschmerzt, wie immer. Ich sollte die linke Hand nicht mehr benutzen…“
Serana Duroff hatte seine Wunde zwar gereinigt und frisch verbunden, aber die Infektion breitete sich weiter aus und das Blut wollte nicht gerinnen. Selbst wenn sich die Wunde schloss, konnte sich unter Luftabschluss der Eiter noch besser vermehren, so hatte Keshyn die Worte der Heilerin übersetzt.
Yai´ro ließ von seiner Hand ab und lächelte Selena zu, die seine Geste erwiderte und ihn am Arm weiterzog.
Schon kurze Zeit später hatten die beiden den Rest der Gruppe eingeholt, der unter der Führung von Ferron Nibesz um einiges schneller vorankam als zuvor. Keshyn hatte dem jungen Mann die Führung übergeben, weil dieser die Wälder besser kannte und er selbst sich angeregt mit Paryn unterhielt; und Ferron hatte als erstes seine Schwester Alica vorausgeschickt, um die Entfernung bis zum Waldrand auszukundschaften.
Es dauerte kaum eine halbe Stunde, bis diese zurückkehrte und berichtete, dass es nicht mehr weit sei. Sie hatte den Waldrand zwar nicht gesehen, schätzte aber, dass es bis zu diesem noch anderthalb Stunden Weg waren. Außerdem hatte sie in Erfahrung bringen können, dass nur wenige Meilen entfernt von der Stelle, an der sie den Wald verlassen würden, ein Dorf lag, in dem sie Pferde bekommen konnten. Das war zweifellos eine gute Nachricht, denn ohne diese Reittiere würde der Weg sehr lange dauern – zu lange, um Yai´ros Verletzung rechtzeitig zu heilen.
Ermutigt von diesen guten Nachrichten brachen sie sofort wieder auf, um das Dorf wenn möglich noch vor Sonnenuntergang zu erreichen. Erst eine Stunde und mehrere Kilometer später, was der frühen Mittagszeit entsprach, machten sie wieder Pause und aßen, was von ihren geschrumpften Vorräten noch übrig war. Dabei kamen sie auf die aktuellen Geschehnisse in Korien zu sprechen, und so auch auf den Krieg zwischen Orden und Fabrik, in den Paryn, Yai´ro und Selena unwillentlich verwickelt worden waren. Keshyn Raknos beteiligte sich kaum an dem Gespräch, er hörte nur interessiert zu oder gab manchmal, wenn er darauf angesprochen wurde, in kurzen Worten seine Meinung kund. So fiel auch niemandem auf, dass er jedes Mal, wenn die Sprache auf den Abt oder den Vorstand kam, mit glasigem Blick und einem Gesichtsausdruck, der sowohl Trauer als auch Hass und Bitterkeit wiederspiegelte, in die Gegend starrte – nicht so, als wäre er in Gedanken versunken und würde etwas sehen, das für die Anderen unsichtbar war; es wirkte viel mehr als würde er einfach gar nichts mehr wahrnehmen.
Als Yai´ro vom Kampf der beiden Hünen erzählte, wandte er sich schließlich sogar ab und setzte sich, ohne eine Erklärung zu geben, zu den anderen Manschen, die ein paar Meter entfernt saßen und sich selbst ebenfalls miteinander unterhielten. Yai´ro hörte überrascht auf zu sprechen, aber als Selena bloß mit den Schultern zuckte und Paryn dem alten Mann auch nur einen kurzen Blick nachwarf, dachte er nicht weiter darüber nach. Später erinnerte er sich allerdings noch oft an Keshyns eigenartiges Verhalten, dessen Grund er von alleine nie erraten hätte…
Nachdem auch der letzte Rest der Vorräte aufgegessen war, machten sie sich wieder auf den Weg. Es war zwar erst Mittag, aber sie mussten das Dorf noch vor Sonnenuntergang erreichen, wenn sie auch am Abend etwas essen wollten – ganz abgesehen von den gemütlichen Unterkünften, die ihnen ein Wirtshaus dort sicher bieten würde.
Da sie dem Waldrand schon sehr nahe waren, hatte Keshyn Raknos wieder die Führung der Gruppe übernommen. Doch auch er legte einen raschen Schritt vor, wodurch sich Yai´ro kaum mehr mit Paryn oder Selena beschäftigen konnte; stattdessen musste er all seine Kraft darauf verwenden, nicht zurückzufallen. Mit dem kleinen Rest an Konzentration, der ihm noch blieb, musterte er seine Umgebung zum ersten mal in den vergangenen Stunden wirklich aufmerksam. Er kannte den Wald zwar inzwischen schon gut genug, aber dieser hatte sich in den letzten Minuten verändert, ebenso wie er es auf der Küstenseite getan hatte. Im Gegensatz zu damals wuchsen an diesem Waldrand allerdings noch mehr Nadelbäume und -sträucher, bis sie die Laubgewächse vollends verdrängt hatten. Yai´ro hatte etwas von „Steppe“ und „höheren Temperaturen im Inneren Faanlands“ aus einem von Paryns und Keshyns endlosen Gesprächen aufgeschnappt, aber eine Wüste hatte er nicht erwartet. Na ja, was sollte es, er hatte immerhin fünfzehn Jahre seines Lebens in einer Wüstengegend verbracht. Zumindest an ihrem Rand …
Die Bäume wurden immer lichter, und gleichzeitig begann das Unterholz zu verschwinden. Erst nur langsam, es genügte noch dafür, dass er in einem Dornengewächs hängen blieb, stürzte und – wie sollte es anders sein – auf seine verletzte Hand fiel; aber mit der Zeit wurden die Sträucher, Steine, Mulden und umgestürzten Baumstämme, die ihm den Weg erschwerten, weniger; und er konnte endlich, am dritten Tag nach seiner Ankunft in Faanland, durch ein letztes Gewirr aus Bäumen auf die Ebene zugehen, die sich dort vor ihm auftat.

Strahlendes Sonnenlicht schlug ihm entgegen, als er unter dem immer noch dichten Blätterdach hervortrat. Und trotzdem musste er Keshyn recht geben: Vor ihm lag keine Wüste, sondern eine Steppe, die trotz der sengenden Hitze eindeutig lebendig war, nicht tot wie die unendlichen sandigen Dünen südlich von Manta, die ihm, obwohl er sie nur einmal gesehen hatte, sehr gut in Erinnerung geblieben waren.
Hier dagegen bedeckte gelblich-grünes Gras den Boden, und hier und da wuchsen sogar Sträucher, oder – in der Nähe des Waldes – vereinzelte Baumgruppen, wie um allen Vorüberkommenden zu sagen: „Ihr befindet euch auf fruchtbarem Boden. Hier könnt ihr bleiben, ihr seid in Sicherheit!“
Und eben dieses Gefühl hatte Yai´ro. Die letzten anderthalb Monate – dabei kam es ihm vor, als würde der Kampf in der Arena bereits Jahre zurückliegen – waren für ihn eine schlimme Zeit gewesen. Natürlich war das Leben im Armenviertel von Manta schon immer reich an Strapazen gewesen, aber seinen besten Freund zu verlieren, seine Mutter und Heimat zu verlassen, eine Reihe von schrecklichen Dingen über seine Herkunft zu erfahren und zu guter Letzt noch von Kriegern einer Geheimgesellschaft gefangengenommen zu werden und einen ganzen Monat bei ihnen zu leben, waren doch einige neue Erfahrungen gewesen, die wohl niemand so schnell verkraftet hätte. Dagegen war Faanland so ruhig und friedlich, dass er sich schon fast wünschte, für immer hier bleiben zu können – wäre da nicht die leise Stimme in seinem Hinterkopf gewesen, die ihn ständig daran erinnerte, dass sein Ziel Rhun hieß. Und Yai´ro hörte auf diese Stimme, wie er es bisher immer in seinem Leben getan hatte.
Seine Augen wanderten von der näheren Umgebung in die Ferne, was nicht gerade viel Abwechslung brachte. Die Ebene setzte sich eintönig bis zum Horizont fort, eine ewige Fläche aus Erde, Gras und einigen Sträuchern oder Bäumen, die nur von ein paar relativ flachen Hügeln unterbrochen wurden – und von einem schwarzen Fleck, der drei bis vier Meilen nordöstlich von ihrem momentanen Standpunkt lag. Und von dem Rauch aufstieg.
„Ja, das ist wohl das Dorf, von dem Alica berichtete hat“, sagte Keshyn direkt hinter ihm. Yai´ro fuhr erschrocken herum; er hatte nicht bemerkt, dass sich der alte Mann ihm genähert hatte. Aber das war noch nicht alles: Während er – anscheinend sehr tief – in Gedanken versunken gewesen war, hatte die gesamte Gruppe den Wald verlassen und sich in der Nähe der Bäume verteilt. Ganz offensichtlich hatten nicht nur seine Sinne, sondern auch sein Zeitgefühl nachgelassen. Er wusste nicht einmal, wie lange es schon her war, dass er selbst unter dem Blätterdach hervorgetreten war…
Yai´ro hatte völlig vergesse, auf Keshyns Bemerkung zu antworten, aber das schien den alten Mann nicht weiter zu stören.
„Wir sollten uns auf den Weg machen!“, fügte er noch hinzu, bevor er sich zu seinen Gefährten umdrehte und seine Worte auf Faanländisch wiederholte.
Kurze Zeit später waren sie wieder unterwegs in Richtung des Dorfes, und Yai´ro, der sich inzwischen schon automatisch neben der Elbin aufhielt, dachte nur noch an eines: Wie froh er trotz allem war, hier in Faanland sein zu dürfen.

3. Szene: Das Wirtshaus zum goldenen Löwen

Umso näher sie dem Dorf kamen, desto deutlicher man erkennen, dass es von einer schier gewaltigen Fläche an Feldern umgeben war, auf denen die verschiedensten Pflanzen angebaut wurden – jedenfalls deutlich mehr, als die Einwohner nach Yai´ros Bemessen als Nahrung benötigten. Der junge Rhuner nahm sich vor, später danach zu fragen, was mit dem überschüssigen Getreide, Gemüse und Obst geschah, wenn alle Mägen und Vorratskammern gefüllt waren. Wurde es an die ebenfalls viel zu zahlreichen Weidetiere verfüttert? Lagerten die Menschen es ein? Oder schickten sie es als Steuer zu ihrer Hauptstadt? Der wahre Grund lag viel näher, doch er war Yai´ro unverständlich.
Inzwischen hatten sie die ersten Häuser erreicht, und Keshyn, der den Ort offenbar bereits kannte, steuerte zielstrebig auf den Dorfplatz zu. Dieser wimmelte von Menschen, die bei den zahlreichen Marktständen einkauften, mit Tragetaschen beladen, einen Handkarren schiebend oder einen Pferdekarren führend versuchten, sich ihren Weg durch die Menge zu bahnen, allein oder in Gruppen herumschlenderten oder sich einfach nur miteinander unterhielten. Es war das erste Mal, dass Yai´ro Menschen bei ihren alltäglichen Geschäften beobachten konnte – kein Wunder, er hatte außer Keshyn und dessen Begleitern auch noch nie Menschen gesehen –, und er war ehrlich beeindruckt. Natürlich hatte er schon oft andere Leute bei denselben Tätigkeiten gesehen, aber das waren eben keine Menschen gewesen. Das Gefühl war unmöglich in Worte zu fassen, aber die Angehörigen des Herrenvolkes waren anders als „gewöhnliche“ Wesen, auf eine gewisse Weise viel erhabener; und doch waren sie den anderen Rassen gleichzeitig verblüffend ähnlich. Yai´ro war sich sicher, dass die Rhuner dieselbe Ausstrahlung hatten und er sie nur nicht bemerkte, weil er selbst zu ihnen zählte; wahrscheinlich war sie auch den Elben als drittes Herrenvolk eigen: Sie waren höher gestellt als die übrigen Völker, diese aber waren nach ihrem Vorbild geschaffen worden.
Leiden blieb ihm nicht allzu viel Zeit für diese Überlegungen, denn Keshyn steuerte auf das andere Ende des Platzes zu, und Yai´ro hatte alle Mühe, ihn in der Menge nicht zu verlieren. Der Dorfplatz war beiweiten größer, als er auf den ersten Blick gewirkt hatte. Der Länge nach maß er mindestens zweihundert Meter, wenn nicht gar mehr; und die Menschen, die ihn mit ihren Gefährten und Marktständen verstopften, machten das Vorwärtskommen nicht gerade leichter. Einmal wurden er und Selena sogar an den Rand des Platzes gedrängt, wodurch sie die Anderen beinahe verloren hätten. Aber zumindest hatten sie so die Gelegenheit, die Häuser und Gebäude näher zu betrachten:
Sämtliche Bauwerke bestanden zum Hauptteil aus Holzbrettern oder sogar ganzen Baumstämmen, nur an einigen wenigen, wichtigen Stellen hatten die Menschen geschliffene Steine benutzt. Die meisten Häuser waren ein- oder zweistöckig, an dem Ende des Platzes, auf das sie zugingen, ragte jedoch ein hauptsächlich steinerner Turm in die Höhe. Dieser – es schien sich um einen Ausguck zu handeln, denn Verteidigungsanlagen hielt Yai´ro in diesem friedlichen Land für unnötig – entsprang aus einem weitläufigen, einstöckigen Gebäude, das wohl als Rathaus, Dorfzentrum oder Versammlungshalle benutzt wurde.
Was es auch war, es war für sie unwichtig, denn Keshyn Raknos betrat eine kleine Gasse zwischen dem Turm-Gebäude und einer Häuserreihe, in der es erheblich ruhiger war als draußen auf dem Dorfplatz. Nur eine Gruppe von Männern unterhielt sich in einem Häusereingang, verschwand aber sofort, als sie hinzukamen. Am Ende der Gasse befand sich ein zweistöckiges Gebäude, an dessen Vorderseite ein Schild mit der faanländischen Aufschrift „Gasthaus zum goldenen Löwen“ hing. Yai´ro konnte die fremdartigen Buchstaben nicht entziffern, aber anhand der aus Messing gefertigten Löwenfratze, deren weit aufgerissenes Maul nur wenige Zentimeter vom oberen Rand des Schildes entfernt war, ziemlich gut erkennen, welchen Namen das Wirtshaus trug.
„Hier haben wir am Herweg übernachtet“, verkündete Keshyn. „Außerdem ist der Wirt in einer Umgebung von vielen Meilen der einzige Mensch außer mir, der Korianisch spricht. Ich dachte, das könnte nützlich sein.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, die wohl ohnehin nicht gekommen wäre, griff er nach dem metallenen Türkauf und zog die schwere Eichentür des Wirtshauses auf. Drinnen war es relativ dunkel und beinahe schon unangenehm heiß – soviel konnte Yai´ro noch erkennen, bevor ihnen der rundliche Wirt entgegenstürmte.
„Meister Raknos!“, rief er Keshyn, der als erster eingetreten war, auf Faanländisch zu. „Es freut mich, Euch wieder zu sehen! Ich habe genug Zimmer frei für Euch und Eure Gefährten – aber was rede ich denn da, Ihr werdet zuerst noch etwas essen und trinken wollen! Ich-“
Der bisher so gut gelaunte, etwas gealterte Mann in Bauernkleidung und Kochschürze erstarrte plötzlich und wurde leichenblass. Sein Blick war starr auf Yai´ro gerichtet, der hinter Keshyn und dessen Gefährtin Serana Duroff eingetreten war. Diesem waren sein rotes Haar, seine typisch südländischen, an manchen Stellen wie den halbspitzen Ohren aber auch ungemein fein geformten Gesichtszüge, die hoch angesetzten Backenknochen und sogar jeder einzelne der Knochen seines Körpers, die um einiges fester waren als die eines Menschen, plötzlich enorm peinlich. Der Wirt stieß einen gequetschten Laut aus, dann keuchte er: „Aber das sind ja – Rhuner!“
„Diese Korianer sind meine Gäste“, erwiderte Keshyn. Er sprach ebenfalls Faanländisch, Yai´ro entging aber trotzdem nicht der drohende Unterton, der in seiner Stimme lag.
„Oh… natürlich. Korianer.“ Der Wirt löste sich nur langsam aus seiner Starre. Als erstes versuchte er, einen unauffälligen Blick hinter Yai´ro zu werfen, was ihm einen weiteren Schock verpasste: In der Tür stand Paryn, ein weiterer Rhuner.
„Kommt ruhig… herein. Ihr werdet über die faanländische Gastfreundschaft nicht klagen können!“, meinte er unwillig lächelnd und mit starkem Akzent auf Korianisch. Es wirkte schon beinahe komisch, wie der rundliche Wirt in seiner Kochschürze dastand und sie mit seinen Worten herein bat, mit seinen Gesten aber eher zu vertreiben versuchte. Bis die gesamte Gruppe den Raum betreten hatte, hatte er seine Fassung allerdings wieder zurückerlangt. Yai´ro konnte noch einen kurzen Blick auf die nahende Dämmerung außerhalb des Hauses erhaschen, dann schloss der Wirt die Tür und wies ihnen einen Tisch in einer Ecke zu, an dem sie zu acht Platz fanden. Sie waren im Moment die einzigen Gäste, worüber Yai´ro sehr froh war. Was ihm Sorgen bereitete war, dass sich Wirtshäuser für gewöhnlich erst nach Einbruch der Dunkelheit füllten, dann allerdings sehr rasch.
Der Wirt lief in die Küche, vielleicht, um seiner Frau oder seinen Gehilfen von den Ankömmlingen zu erzählen; jedenfalls kam er bald zurück, um nach den Wünschen seiner Gäste zu fragen.
Yai´ro hatte inzwischen zumindest seine Furcht vor der momentanen Situation überwunden. Ihm fiel etwas ein, an das er bei der Ankunft im Dorf gedacht hatte, und fragte den Wirt immer noch etwas verlegen: „Dürfte ich eine Frage stellen?“
„Aber gewiss doch, mein Junge!“, antwortete dieser mit einem halbherzigen Lächeln.
Yai´ro ließ sich davon nicht beirren, sondern sprach aus, was ihm schon die ganze Zeit über nicht aus dem Kopf gehen wollte:
„Warum hat Euer Dorf so viele Felder? Sie geben etwa doppelt soviel Nahrung ab, als ihr bräuchtet!“
Der Wirt runzelte die Stirn. „Nein, die Anzahl unserer Felder ist genau bemessen. Wir haben es manchmal sogar schwer, durch den Winter zu kommen!“
„Durch den Winter? Aber warum denn das?“, fragte Yai´ro mit wachsender Verwirrung.
„Der Winter, mein Junge, der Winter!“, rief der Wirt aus, der inzwischen mindestens ebenso verwirrt, aber gleichzeitig auch erstaunt und irritiert wirkte. „Weil im Winter Schnee fällt und unsere Vorräte zu klein sind, darum!“
Jetzt erst dämmerte es Yai´ro, wovon sein Gegenüber sprach.
„Schnee… darum also die vielen Felder, ihr braucht die Vorräte für den Winter, weil ihr da nichts anbauen könnt!“, murmelte er. „Ihr müsst entschuldigen, ich habe zwar schon von Schnee gehört, aber in meiner Heimat hat es nie geschneit!“
„Dann kommst du wohl aus der Wüste, wie?“, meinte der Wirt schmunzelnd, aber mit einem verwirrten Blick auf Yai´ros rotes Haar.
„Woher wisst ihr das?“, fragte dieser erstaunt zurück. Er hatte nicht beabsichtigt, ein langes Gespräch zu führen, aber alles, was er über Faanland erfuhr, war so interessant, dass er nicht aufhören konnte immer weitere Fragen zu stellen.
„Ach, ich weiß nur, dass es in Korien eine Wüste gibt“, meinte der Wirt. „Und einen Wald, ein Gebirge und einen Fluss.“
„Und einen Strand!“, mischte Paryn sich ein.
Der Wirt fuhr zu dem Störenfried herum und starrte ihn zuerst erschrocken, dann missbilligend an. Dieser tat dasselbe, aber wo im Blick des Menschen eine Spur von Verachtung lag, tobte bei ihm blanker Hass. Schließlich wandte sich der Wirt ohne etwas zu erwidern ab und Keshyn zu.
„Was wollt ihr trinken, Meister Raknos?“, fragte er mit so deutlich vorgespielter Höflichkeit, dass es schon beinahe lächerlich wirkte.
„Bringt mir einen Krug Bier!“, antwortete Keshyn freundlicherweise auf Korianisch und deutete mit der Hand auf Yai´ro und Paryn. „Die Kosten für unsere Reise übernimmt selbstverständlich die Hauptstadt“, fügte er an diese gewandt hinzu.
Der Wirt nahm trotzdem erst die Bestellungen der übrigen Faanländer und die Selenas (eine Tasse Tee) auf, bevor er sich den Rhunern zuwandte. Yai´ro fühlte die Blicke der anderen Gruppenmitglieder auf sich, und aus einem plötzlichen Gefühl heraus – er wusste selbst nicht, was in ihn gefahren war – sagte er: „Ich auch einen Krug Bier, bitte!“
Der Wirt sah ihn einen Moment lang teils erstaunt, teils stolz oder gar bewundernd an, notierte aber die Bestellung und wandte sich schließlich zu Paryn. Dieser bestellte mit kurzen Worten einen Becher Wein, der auch wenige Minuten später gemeinsam mit den anderen Getränken geliefert wurde.
Inzwischen hatte sich das Wirtshaus beinahe vollkommen gefüllt, und der Wirt musste zwischen den etwa fünfzehn Tischen, die in der relativ großen Schankstube Platz fanden, hin und her laufen, um Bestellungen aufzunehmen – und um die Leute zu beruhigen, was die seltsame achtköpfige Gruppe in der Ecke betraf. Yai´ro konnte in dem Halbdunkel, das vom schwachen Licht des brennenden Kamins erzeugt wurde, die Gesichter der Hereinkommenden kaum erkennen; aber er bemerkte, dass jeder, der das Wirtshaus betrat, einen beunruhigten, ängstlichen oder sogar hasserfüllten Blick zu ihrem Tisch warf. Einige Gäste verließen den Schankraum sogar wieder, nachdem sie die Rhuner erkannt hatten, oder tuschelten miteinander, wobei sie immer wieder in ihre Richtung deuteten.
Yai´ro fühlte sich zunehmend unwohl; er wollte sich verstecken – und schließlich kam ihm die rettende Idee.
Er zog seinen großen, metallenen Bierkrug zu sich heran, hielt ihn so, dass niemand sein Gesicht sehen konnte und nahm einen kleinen Schluck. Das Gebräu schmeckte gut, beinahe süßlich, und er hatte schon beinahe vergessen, wie durstig er war. Also nahm er noch einen Schluck und danach einen weiteren, größeren. Vom Durst getrieben trank er den Krug zur Hälfte leer, ohne ihn dazwischen auch nur einmal abzusetzen; als er es dann schließlich doch tat, fühlte er sich schon um einiges besser und überwandt sich sogar, einem Hereinkommenden, der erschrocken in ihre Ecke starrte, direkt in die Augen zu blicken. Dass der Mann daraufhin das Wirtshaus verließ, störte ihn nicht im Geringsten; ganz im Gegenteil: Seine Laune besserte sich noch mehr und er nahm einen weiteren, großen Schluck Bier.
Der Wirt kam wieder, diesmal mit einer besorgten Miene, und Keshyn bestellte für alle etwas zu essen. Paryn und Selena saßen ziemlich stumm an ihren Plätzen und nippten nur manchmal an ihren Getränken; Yai´ro hingegen, der zwischen den beiden saß, war inzwischen in bester Laune. Er hatte seinen Bierkrug bis zur Neige geleert und einen neuen bestellt, von dem er ebenfalls bereits einige Schlucke getrunken hatte. Selena warf einen besorgten Blick in seine Richtung, unternahm aber nichts weiter, sondern wandte sich wieder ihrer dampfenden Tasse Tee zu.
An die folgenden Minuten – oder waren es Stunden gewesen? – konnte sich Yai´ro später kaum noch erinnern, worüber er auch sehr froh war. Er musste wohl etwas Dummes gesagt oder getan haben, denn Keshyn beugte sich über ihn und schien ihn etwas zu fragen, aber er verstand ihn nicht. Überhaupt verstand er nicht mehr, was die anderen sprachen, und er sah sie auch nur noch verschwommen – und plötzlich fiel ihm auf, dass er am Boden lag und die anderen Gruppenmitglieder sowie der inzwischen schier verzweifelte Wirt sich über ihn beugten. Ohne recht zu wissen, was das sollte, geschweige denn, was überhaupt los war, versuchte er sich aufzurichten – was ein Fehler war, wie er bald bemerkte. In seinem Kopf begann etwas zu pulsieren, breitete sich vom Genick her aus und bereitete ihm so heftig pochende Kopfschmerzen, dass er zusammenzuckte und sich mit einer Hand an die schmerzende Schläfe griff.
Was schon wieder ein Fehler war. Er hatte die rechte Hand benutzt, und das bedeutete, dass er sich nur noch mit der verletzten Linken am Boden abstützte. Ein Schmerz von einer grausamen, giftigen Art zuckte wie ein Blitz vom Handrücken zum Ellbogen, von dort zur Schulter und von dort aus weiter ins Genick, das sich ohnehin schon wie Brei anfühlte. Yai´ro konnte sich nicht erklären, woher dieser Schmerz kam, bis in seinem vernebelten Gehirn die Erinnerung an seine Verletzung auftauchte – aber in diesem Moment hatte er seinen Arm längst an sich gezogen und krümmte sich am Boden.
„Ich bringe ihn auf sein Zimmer!“, hörte er Selena über ihm sagen; und dann sagte sie noch etwas und entweder Paryn oder Keshyn Raknos antwortete etwas, das er nicht mehr verstand.
Schließlich wurde er von mehreren seiner Gefährten hochgehoben, Selena legte sich seinen rechten Arm um die Schulter, hielt ihn fest, damit er nicht umkippen konnte und führte ihn so auf das Zimmer. Der Wirt ging voran, um ihr den Weg zu weisen, die übrigen Gruppenmitglieder blieben im Schankraum – Yai´ro wusste nicht, wozu, es war ihm aber auch relativ egal. Er hätte sicher etwas gesagt oder sich gewehrt, auf diese Weise abtransportiert zu werden, wenn seine höllischen Kopfschmerzen nicht jeden klaren Gedanken zunichte gemacht hätten. In seinem Sehfeld, das sich inzwischen um die Hälfte verkleinert hatte, flimmerten kleine rote und braune Punkte, die auch den Rest seiner verschwommenen Sicht zerstörten. Da auch sein Gehör nur noch schlecht arbeitete, bekam er kaum etwas von seiner Umgebung mit, er setzte nur reflexartig einen Fuß vor den anderen, und das so langsam, dass sie beinahe zehn Minuten benötigten, um eine Treppe hinauf- und einen kurzen Gang entlangzugehen. Endlich beim Zimmer angekommen, wechselte Selena einige kurze, für ihn unverständliche Worte mit dem immer noch sehr aufgeregten Wirt und bekam den Zimmerschlüssel. Während Letzterer wieder zurück zur Schankstube lief, um zu retten, was noch zu retten war, wurde er von der Elbin in das dunkle, dreibettige Zimmer bugsiert. Taumelnd stürzte er auf sein Bett, richtete sich aber trotz seiner hämmernden Kopfschmerzen sofort wieder auf. Selena stand direkt vor ihm und sagte etwas, das sich so anhörte wie: „Du solltest jetzt schlafen!“
Ohne auf ihre Worte zu achten, richtete sich Yai´ro vollständig auf und beugte sich nun seinerseits über sie Elbin, deren verwirrtes Gesicht nur wenige Zentimeter tiefer als das seine lag. Er wurde plötzlich von Gefühlen überflutet, die er mit diesem Kopfschmerzen unmöglich deuten, geschweige denn ihnen Einhalt gebieten konnte. Ganz langsam, als hätte er angst, dass er sich verletzen oder sein Gegenüber erschrecken konnte, näherte er sich Selena, bis ihre Lippen sich berührten.
Die Elbin erschrak sichtbar – das war wahrscheinlich das Letzte gewesen, was sie von ihrem betrunkenen Kameraden erwartet hätte – jedoch schien sie einen Augenblick lang zu zögern, bevor sie ihn mit einem spitzen Schrei von sich stieß.
„Yai´ro, lass mich in Ruhe! Du bist betrunken!“, kreischte sie und stieß ihn zurück auf sein Bett. Der junge Rhuner wollte sich wieder aufrichten, aber Selena berührte ihn mit zwei ausgestreckten Fingern auf der Stirn. Yai´ro hielt mitten in der Bewegung inne und blinzelte langsam, dann schloss er die Augen und sackte in sich zusammen.
Selena zog ihre Hand zurück und blieb für eine lange Zeit regungslos neben dem Bett stehen. Ihre silbrigen Augen waren auf das Gesicht des Rhuners gerichtet, sie betrachtete es mit einem seltsamen, teils erbosten, teils beinahe zärtlichen Blick und schien dabei immer tiefer in Gedanken zu versinken. Schließlich kam wieder Bewegung in ihren Körper; sie beugte sich langsam zu Yai´ro herab und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann verließ sie das Zimmer, ohne noch einmal zurückzublicken.

4. Szene: Die Lehre der Magie

Eine leichte Brise wehte über die Ebene und ließ das Haar der Reiter, die im flotten Trab relativ schnell vorankamen, flattern. Obwohl die Sonne erst auf halbem Weg zum Zenit stand, war die achtköpfige Gruppe schon seit Stunden unterwegs; ihre Pferde waren nicht mehr ganz frisch und an ihren Mägen begann der Hunger zu nagen.
Yai´ro hielt die Zügel seines Pferdes mit der rechten Hand fest, um sich mit der linken die Augen vor der Sonne abzuschirmen. Trotz der relativ frühen Tageszeit war die Hitze bereits unerträglich – er konnte sich kaum vorstellen, dass die Temperaturen bis zum Mittag noch weiter steigen sollten.
Der junge Rhuner war schon am frühen Morgen von Paryn geweckt worden, will sie noch einige Vorbereitungen zu treffen gehabt hatten. Nachdem er sich – zum ersten Mal seit langer Zeit – mit warmem Wasser gewaschen hatte, war seine Wunde abermals von Serana Duroff gereinigt, mit einer hauseigenen Salbe eingerieben und frisch verbunden worden. Doch all das konnte die Infektion nicht daran hindern, sich weiter auszubreiten: Seit der viel zu kurzen, letzten Nacht schmerzten seine linke Hand, der Arm und die Schulter unaufhörlich; er bemühte sich zwar, diese so wenig wie möglich zu benutzen, hatte sich aber noch nicht genügend an die Situation gewöhnt. Eines wusste er jedoch sicher: Die Gefährlichkeit der Verletzung nahm zu, und selbst wenn sie, wie Keshyn berechnet hatte, in fünf Tagen die Hauptstadt erreichen würden, konnte die Zeit für ihn knapp werden.
Abgesehen davon hatte er noch völlig andere Probleme: Er wusste nicht mehr, was in der letzten Nacht geschehen war und war auch sehr froh darüber, aber Selena ging ihm schon seit dem frühen Morgen aus dem Weg, und sowohl Paryn als auch die Menschen waren nicht allzu gut auf ihn zu sprechen. Nur Keshyn hatte offenbar beschlossen, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Der alte Mann schien sich auch vorgenommen zu haben, sich um ihn zu kümmern, denn er hatte den Hauptteil des Morgens mit ihm verbracht. Zuerst waren sie bei einem der Viehzüchter des Dorfes gewesen, um drei neue Pferde zu kaufen und die fünf, die Keshyn dem Mann bei der Herreise in Verwahrung gegeben hatte, wieder abzuholen – allmählich bekam Yai´ro das Gefühl, dass ihre Reise zur Hauptstadt schon viel eher geplant gewesen war, als sie bisher geahnt hatten.
Als sie drei starke, gesunde Pferde ausgewählt hatten, bezahlte Keshyn den Viehzüchter mit einer Hand voll seltsamer Kupfermünzen und sie machten sich mit den Tieren auf den Weg zurück zum Wirtshaus. Dort hatte sich Ferron Nibesz bereits um den nötigen Proviant für die bevorstehende Reise gekümmert, und Serana Duroff bestand darauf, seine verletzte Hand noch vor dem Frühstück frisch zu verbinden. Zu ihrem Schrecken war der Eiter noch tiefer ins Fleisch eingedrungen, und Yai´ro konnte seinen Arm, der seit der letzten Nacht unaufhörlich schmerzte, nur noch mit Mühe bewegen. Die Heilerin rieb die Wunde mit einer hauseigenen Salbe ein, welche den Schmerz lindern und die Ausbreitung der Infektion verlangsamen sollte; allerdings hatte Yai´ro nicht das Gefühl, dass sie auch nur etwas in dieser Richtung bewirkte.
Nach einem kurzen, aber kräftigen Frühstück brachen sie schließlich auf. Yai´ro, der bisher nur auf Tennas geritten war, tat sich mit seinem Pferd etwas schwer – insbesondere mit der verletzten Hand –, aber er schaffte es, mit den anderen Schritt zu halten. So waren die Stunden vergangen; sie hatten seit dem Morgengrauen keine erwähnenswerte Pause eingelegt und Yai´ros Hunger äußerte sich allmählich schon mehr in Schmerzen als in gewöhnlichem Magenknurren.
Er wollte eben nach vorne zu Keshyn reiten, um diesen zu bitten, eine Rast zu machen, als der alte Mensch sich zu ihm zurückfallen ließ. Keshyn verlangsamte sein Tempo und wartete, bis Yai´ro ihn eingeholt hatte, dann meinte er mit einem Lächeln: „Denkst du auch, dass wir eine Pause machen sollten?“
Als Yai´ro nickte, wandte er sich um und gab den anderen ein Zeichen, Halt zu machen.
„Ich möchte etwas mit dir besprechen!“, sagte er, wieder an Yai´ro gewandt. „Komm mit!“
Sie nahmen ihre Pferde an den Zügeln und führten sie zu einer nahen Baumgruppe, unter der sie Schutz vor der immer höher steigenden Sonne fanden. Yai´ro band seine braune Stute an einem Ast fest und betrachtete noch einmal die Steppe, sie sich, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, kaum verändert hatte; dann trat er hinter Keshyn unter das dichte Blätterdach der Bäume.
Der alte Mensch bedeutete ihm, sich zu setzen, und holte ein Päckchen mit Brot, Fleisch und Früchten aus der Satteltasche seines Pferdes. Inzwischen stießen auch die restlichen Gruppenmitglieder zu ihnen, setzten sich auf ein Zeichen von Keshyn aber etwas abseits von ihnen unter die Bäume. Paryn warf Yai´ro einen fragenden Blick zu, den dieser mit einem Achselzucken beantwortete – er hätte selbst ebenfalls gerne gewusst, was der alte Mann mit ihm besprechen wollte. Dieser äußerte sich aber noch nicht, sondern begann erst zu essen, und Yai´ro brauchte keine Aufforderung, um es ihm gleichzutun.
So herrschte eine gute halbe Stunde lang Schweigen, nur unterbrochen von gelegentlichen Gesprächen der Menschen untereinander, bis Keshyn sich schließlich den Mund abwischte und Yai´ro ohne lange Vorrede fragte:
„Hast du dich bereits mit der Magie beschäftigt?“
Der junge Rhuner schluckte überrascht das Stück der köstlichen faanländischen Frucht, an dem er gerade kaute, hinunter, und schüttelte den Kopf. Bisher hatte er über Magie nicht einmal näher nachgedacht…
„Dann solltest du es tun!“, meinte Keshyn auffordernd. „Du besitzt eine starke magische Begabung. So etwas sollte man nutzen!“
Yai´ro wusste nicht, was er antworten sollte. Natürlich würde er gerne lernen, die Magie zu nutzen; aber er zweifelte daran, dass gerade er magisch begabt sein sollte. Und nebenbei: Wer sollte ihn denn unterrichten? Paryns magische Kräfte waren schon seit über zweitausend Jahren gebannt, und er bezweifelte, dass Selena genügend Geduld besaß, um ihn zu unterrichten.
„Wie ich schon einmal erwähnt habe, bin ich ein ausgebildeter Magier“, meinte Keshyn, als er von Yai´ro keine Antwort bekam. „Wenn du möchtest, kann ich dich die Grundlagen der Magie lehren!“
Yai´ro fragte sich einen Moment lang, ob der alte Mensch Gedanken lesen konnte, doch dann kam ihm etwas Anderes in den Sinn und trübte seine Stimmung erheblich.
„Ich… ich meine…“, begann er zu stottern, nahm sich dann jedoch zusammen und sagte geradeheraus: „Ich habe noch nie etwas mit Magie oder Zauberei zu tun gehabt und auch erst wenige Male bei ihrer Ausführung zugesehen. Außerdem weiß ich erst seit knapp zwei Monaten, dass sie wirklich existiert und nicht bloß ein Märchen ist. Wie soll ich da lernen, selbst Magie zu benutzen?“
Keshyn schüttelte langsam den Kopf; dann sah er auf und blickte Yai´ro direkt in die Augen. Es war das erste Mal, dass er das tat, und Yai´ro bemerkte ebenfalls zum ersten Mal, wie viel Stärke und Willenskraft um Blick des alten Mannes lag.
„Yai´ro, ich kann von mir ohne zu übertreiben behaupten, dass ich ein Meister der Magie bin“, meinte er. „Und daher fühle ich die magische Kraft oder Veranlagung in einem Wesen. Du und die Elbin seid beide sehr stark begabt, das ist mir schon am Tag unserer Begegnung aufgefallen. Es wäre eine Schande, das nicht zu nutzen; zumal du der Auserwählte der Rhuner und damit der Einzige deines Volkes bist, dessen magische Kräfte nicht gebannt wurden!“
Wenn noch ein Argument nötig gewesen wäre, um Yai´ro zu überzeugen, dann hätte dieses vollends genügt. Der junge Rhuner hatte zwar immer noch nicht vor, die Rolle des Auserwählten anzunehmen, aber zumindest wollte er sein Volk nicht völlig enttäuschen.
„Wenn Ihr es wirklich wollt, werde ich gerne bei Euch in die Lehre gehen“, meinte er. „Obwohl ich wirklich noch nichts über die Magie weiß!“
„Das macht überhaupt nichts“, winkte Keshyn ab. „Alles, was du über die Magie wissen musst, kann ich dir beibringen – oder du musst es sowieso selbst erkennen. Aber du wirst sehen, Zauberei ist nicht weiter schwer. Du brauchst nur Fantasie, Willenskraft und natürlich das nötige Wissen, welches ich dir aber vermitteln werde. Abgesehen davon verbrauchst du einiges an Energie, wenn du Magie anwendest; also übernimm dich dabei nie.“
Der alte Mann streckte seine rechte Hand aus und formte eine kleine, aber grell leuchtende Lichtkugel in der nach oben gerichteten Handfläche. Diese stieg vor Yai´ros staunenden Augen immer höher in die Luft auf, bis sie knapp unter den ersten Blättern zerplatzte und in tausend glimmernden Funken auf sie herabregnete.
„Das war ein sehr einfacher Zauber“, meinte Keshyn, um Yai´ro wieder auf sich aufmerksam zu machen. „Ich kann dir beibringen, wie er funktioniert; aber zuerst solltest du noch mehr über das Wesen der Magie wissen.“
Yai´ro nickte etwas enttäuscht, sagte jedoch nichts, sondern lauschte weiter Keshyns Worten:
„Magie bedeutet nichts Anderes, als die Realität durch pure Gedankenkraft zu verändern. Es gibt tausende verschiedene Arten von Zaubern, aber egal ob man Licht ruft, per Telepathie kommuniziert oder ein Wesen mittels Magie tötet, verändert man die Realität auf eine Weise, die von der Natur nicht vorgesehen ist. Deshalb sollte man auch sehr vorsichtig damit umgehen, denn man kann nicht nur sich selbst, sondern auch anderen Wesen Schaden zufügen. Stell dir vor, was geschehen würde, wenn alle Magier dieser Welt ihre Kräfte vereinigen würden: Sie hätten die Macht, ganz Korien und Faanland im Meer versinken zu lassen, oder um alles Leben auf dieser Welt zu vernichten! Es wäre nicht weiter schwierig, nicht einmal verwunderlich, denn Magie in dieser Konzentration artet meist in etwas Schlechtes aus.“
Keshyn schüttelte langsam den Kopf, um die Aussage seine Worte zu unterstreichen.
„Aber genug davon“, fuhr er schließlich fort, „sprechen wir lieber über die Anwendung der Magie. Du musst dazu in einem bestimmten Zustand sein, am besten funktioniert es, wenn du wütend oder verzweifelt bist oder dich in einer lebensbedrohlichen Situation befindest. Da man solche Zustände aber nicht willentlich herbeiführen kann, musste man andere Wege finden, und der einzig wirksame davon ist die Konzentration. Im Zustand tiefster Konzentration beginnt ihre Kraft von ganz alleine zu fließen; und wenn man trotzdem noch Schwierigkeiten hat, kann man eine ganze Reihe von Hilfsmitteln benutzen.“
Keshyn streckte abermals seine rechte Hand aus und schnippte mit den Fingern. Von der Handfläche begann ein dunkler Nebel auszuströmen, der sich zehn Zentimeter höher sammelte und zu einer großen, wabernden Kugel zusammenzog. Yai´ro beobachtete fasziniert, wie der alte Mensch mit dem Zeigefinger der anderen Hand den Nebel berührte und ihn zu einer dunklen Spirale verformte, die sich langsam in der Luft um sich selbst drehte.
„Siehst du?“, fragte Keshyn lächelnd. „Wenn ich nur geistige Kraft benutzt hätte, wäre es um ein Vielfaches anstrengender gewesen, das hier zu formen. Mit Bewegungen und Gesten als Hilfsmittel ist es jedoch nicht weiter schwierig.“
Er klatschte in die Hände und die Spirale verschwand.
„Natürlich war das hier nur ein einfaches Beispiel, denn hier ist nicht der Ort, um große Magie anzuwenden. Aber jetzt soll es genug sein mit den Vorführungen und Erklärungen; jetzt endlich sollst du dich zum ersten Mal an einem Zauber probieren.“
Der alte Mann erhob sich und bedeutete Yai´ro, ihm zu folgen. Er führte ihn zu einer Stelle, an der die Sonne durch das Blätterdach der Bäume schien und erklärte: „Das ist ein weiteres mögliches Hilfsmittel. Erinnerst du dich noch an die Lichtkugel von vorhin?“
Yai´ro nickte, obwohl er sich nicht ganz wohl fühlte bei dem Gedanken, selbst Magie benutzen zu müssen. Immerhin kannte er Keshyn erst seit wenigen Tagen und wollte ihn nicht enttäuschen – wo er sich doch vollkommen sicher war, dass er keine Lichtkugel erschaffen konnte. Egal wie leicht das auch immer sein mochte.
„Gut“, fuhr Keshyn fort, ohne auf Yai´ros hoffnungslosen Gesichtsausdruck zu achten. „Dann stell dich hier hin, so, dass du die Sonne siehst. Aber kneife die Augen nicht zusammen, sondern konzentriere dich auf das Licht – und dann strecke die Hand aus und stell dir vor, dass du die Sonne in ihr hältst!“
Yai´ro tat, wie ihm geheißen. Er fixierte die Sonne mit seinem Blick und hielt die rechte Hand so, als würde er den grell leuchtenden Ball darin halten. Zuerst schaffte er es nicht, sich zu konzentrieren – er wurde von den Schmerzen in seinem linken Arm und von seinen eigenen Zweifeln abgelenkt –, doch dann entspannte er sich und versank in einer tiefen Konzentration, in der er nichts mehr wahrnahm außer sich selbst und das strahlende Licht vor ihm. Einen Moment lang schien es ihm sogar, als würde er aus seinem eigenen Körper hinausgleiten und mit der Sonne verschmelzen; doch dann fühlte er sich selbst wieder – und mehr noch, er spürte eine unglaublich starke Kraft, die durch die Augen in seinen Körper floss und sich dort ausbreitete. Es kostete ihn nur geringe, wenn überhaupt Anstrengung, diese Energie in seine Hand zu leiten und dort an dem Punkt zu bündeln, wo einen Augenblick später ein greller, kleiner Lichtball erschien.
Yai´ro erschrak darüber so sehr, dass er all seine Konzentration vergaß und das Licht in seiner Hand erlosch; aber das änderte nichts daran, dass er es geschafft hatte: Er hatte zum ersten Mal einen Zauber willentlich angewandt.
„Das war ausgezeichnet!“, lobte ihn Keshyn. „Ich hatte ehrlichgesagt nicht erwartet, dass du es gleich beim ersten Versuch schaffst!“
Yai´ro sah zu dem alten Mann auf. Sein rechter Arm zitterte, auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet und er fühlte erst jetzt, dafür umso stärker die Erschöpfung, die durch das plötzliche Entweichen der magischen Kraft aus seinem Körper entstanden war.
„Ich… hätte nicht gedacht… dass ich es überhaupt… schaffe“, keuchte er. „Aber… es war… großartig!“
„Ja, das kann ich mir vorstellen!“, meinte Keshyn lächelnd. „Aber du solltest besser Acht geben: Wenn du einen Zauber zu abrupt abbrichst, wandelt sich die angesammelte Energie in Erschöpfung um. Deshalb-“
In diesem Moment musste er sich unterbrechen, denn Ferron Nibesz kam von der Steppe her im Laufschritt auf die zu und begann hektisch, aber – soweit Yai´ro erkennen konnte – auch erfreut auf Keshyn einzureden. Dieser runzelte die Stirn, gab Yai´ro und den Anderen jedoch nach einem kurzen Wortwechsel mit Ferron ein Zeichen zu warten, und folgte dem jungen Mann aus dem Schutz der Bäume auf die Ebene hinaus.
Nach einigen, mit gespannter Stimmung gefüllten Minuten kehrte er zwar allein, aber sichtlich erleichtert zurück. Er gab seinen faanländischen Begleitern eine Anweisung, worauf diese sofort begannen, die Lebensmittel zusammenzupacken und ihre Pferde zu satteln; dann erst wandte er sich an Yai´ro, Paryn und Selena.
„Wir haben eine Gruppe von Reitern der faanländischen Garde getroffen“, erklärte er. „Wir werden gemeinsam mit ihnen zur Hauptstadt reisen. Aber macht euch keine Sorgen, die Soldaten werden euch gegenüber nicht abweisend sein. Sie tragen höchstens zu unserem Schutz bei!“
Yai´ro zweifelte zwar an den Worten des alten Mannes, aber das konnte die Situation auch nicht ändern. Also sattelten sie ihre Pferde und gesellten sich zu der sechsköpfigen Reitergruppe der faanländischen Garde, die hundert Meter von der Baumgruppe entfernt auf sie wartete.
Als sie losritten, sah Yai´ro noch einmal zurück zu der Baumgruppe, unter der er zum ersten Mal in seinem Leben willentlich Magie benutzt hatte. Er nahm sich vor, diese Fähigkeiten zu trainieren sowie zu verbessern, und die Hilfe von Keshyn Raknos zu nutzen, solange er das noch konnte – denn in wenigen Tagen würden sie die Hauptstadt erreichen. Und dann würde die Entscheidung über ihre weitere Reise fallen.

5. Szene: Die Hauptstadt

Der Tag, an dem sie die Hauptstadt erreichten, war angenehm kühler als die vorhergehenden; dafür hatte sich über Nacht ein starker Nordwind entwickelt und am Himmel waren dunkle Regenwolke aufgezogen. Die Gruppe war – wie in den vergangenen Tagen – schon seit dem Morgengrauen unterwegs, denn die Reiter der Garde trieben die anderen Mitglieder unaufhaltsam voran. Abgesehen davon hatten die Soldaten noch eine Veränderung bewirkt: Reknon Lit, den Yai´ro bisher als schweigsamstes Gruppenmitglied eingestuft hatte, unterhielt sich ausgelassen mit den anderen Gardisten.
Der junge Rhuner verlangsamte sein Tempo, damit er die riesige Stadt vor sich besser betrachten konnte. Bei Sonnenaufgang hatte er sie zum ersten Mal gesehen, die gewaltige Hauptstadt – mit ihren Mauern und Türmen, Häusern und Straßen und, in ihrem Zentrum, dem prunkvollen Palast hatte sie einen so beeindruckenden Anblick geboten, dass er gute zehn Minuten lang kein Wort über die Lippen gebracht hatte. Im Licht der ersten Sonnenstrahlen wirkten sogar die hölzernen Bauwerke vor der äußeren Stadtmauer wie Paläste; die Pracht und die Schönheit der Gebäude dahinter konnte man nicht mehr in Worte fassen. Yai´ro blickte von einem der seltenen Hügel auf die noch weit entfernte Stadt herab, staunend, dass sie so einfach und natürlich und doch so beeindruckend war; jedoch drängte sich ein Gedanke in seinem Kopf immer mehr in den Vordergrund: Wenn Faanland schon so schön war, wie wundervoll musste dann erst das alte Rhun gewesen sein?
Inzwischen war beinahe eine Stunde vergangen und die Entfernung zwischen ihnen und der Hauptstadt hatte sich entsprechend verringert – sie waren höchstens noch zwanzig Minuten vom äußersten Stadttor entfernt – aber Yai´ro hatte es noch immer nicht geschafft, diesen Gedanken zu verdrängen. Und mit ihm ein gewisses Gefühl von Stolz, welches seinem gesamten Volk galt.
Wie hatte die Insel Rhun wohl ausgesehen, bevor sie von Saphita unter dem Vorwand zerstört worden war, dass sie die Macht der göttlichen Engel gefährdete? Wie viele Leben waren mit dem alten Rhun oder in den rhunischen Kriegen verloren gegangen? Er wusste nur so wenig über sein Volk und dessen Geschichte… Aber Paryn wusste mehr darüber. Yai´ro nahm sich vor, seinem Onkel in der nächsten Zeit einige Fragen über Rhun und dessen Bewohner zu stellen – das hieß, falls er bei der kaum unterbrochenen Reise überhaupt eine Gelegenheit dazu hatte –; doch im Moment durfte er nicht in Träumerein versinken, sondern musste er sich auf die Gegenwart konzentrieren.
Sie waren dem Stadttor bereits um einiges näher gekommen, und Yai´ro konnte die schwindelerregende Höhe der Mauer, die fünfhundert Meter vor ihnen in aufragte, zum ersten mal richtig einschätzen. Auf ihr hielten Soldaten in Lederrüstungen und Kettenhemden Wache; vor dem ebenso gewaltigen, wie üblich tagsüber geöffneten Tor hatte eine vierzehnköpfige Abteilung der Garde in zwei geordneten Reihen Aufstellung genommen.
Einer der Reiter, die sie schon seit fünf Tagen begleiteten, stieg von seinem Pferd und ging auf die Gardisten zu, während der Rest der Gruppe in zwanzig Metern Entfernung wartete. Der Mann sagte etwas zu einem der Soldaten, worauf dieser zornig und mit heftigen Gesten reagierte – Yai´ro hatte nicht zu Unrecht das Gefühl, dass er dabei öfters in seine oder Paryns Richtung zeigte. Schließlich wurde Keshyn hinzugerufen, der ebenfalls heftig gestikulierend auf den Soldaten einredete, bis dieser aufgab und sie mit deutlich sichtbarer Wut passieren ließ.
„Was ist passiert?“, fragte Yai´ro, als der alte Mann mit zorniger Miene zurückkehrte und sich ungewohnt rasch in den Sattel seines Pferdes schwang. „Gibt es Schwierigkeiten?“
„Nichts Besonderes“, meinte Keshyn achselzuckend, allerdings ohne ihn dabei anzusehen. Yai´ro fehlte auch die Zeit um weiter nachzufragen, denn im nächsten Moment gab der alte Mann seinem Pferd die Sporen und setzte sich an die Spitze der Gruppe, um sie in die Stadt zu führen.
Yai´ro machte sich keine weiteren Gedanken über den Vorfall, und selbst wenn er es getan hätte, wären diese ihm schon bald vergangen – denn was er in den darauffolgenden Minuten sah, brachte ihn so sehr zum Staunen wie erst wenige Dinge zuvor in seinem Leben.
Wenn er gedacht hatte, dass die Stadtmauer hoch oder der Anblick der Hauptstadt von einem nahen Hügel aus prachtvoll war, dann hatte er sich getäuscht. Der mindestens fünf Meter dicke, teilweise aus Holz, hauptsächlich aber aus massiven Steinblöcken bestehende Wall ragte buchstäblich in den Himmel, und an seinem Fuße stehend hatte Yai´ro das Gefühl, dass die Soldaten, die hinter den mannshohen Zinnen Wache hielten, nach den Wolken greifen konnten. Der junge Rhuner beschleunigte sein Pferd, sah den gewaltigen, nach oben hin spitz zulaufenden Torbogen einen Augenblick lang von unten und befand sich bereits im nächsten Moment innerhalb der Hauptstadt.
Um ihn herum tat sich eine neue Welt auf, eine Welt aus Reichtum und Glück, die sogar noch wunderbarer war als alles, was er bereits von Faanland gesehen hatte. Die meisten Gebäude bestanden zwar immer noch aus Holzschindeln oder gar ganzen Baumstämmen, doch bei den neueren wurde zunehmend Stein als Baustoff verwendet. Mit solchem waren auch die Straßen gepflastert, die nicht nur für Pferde, sondern auch für Karren oder Wagen angenehm zu begehen waren und ein kompliziertes Netz durch die verschiedenen Viertel der Stadt bildeten. Ihren Rand säumten Wohnhäuser, Wirtshäuser, Krämerein, Schmieden und viele andere Werkstätten, alle mindestens zwei Stockwerke hoch und meist ohne Zwischenraum aneinander gebaut. Yai´ro kannte diese Bauweise natürlich schon aus Manta, aber dort waren die Häuser halb zerfallen und die Straßen schmutzig, in Gassen und an großen Plätzen sammelte sich Müll an und man traf an jeder Ecke Bettler und Obdachlose. Hier hingegen schien jede Familie reich zu sein, jede Straße gesäubert und jedes Geschäft florierend. Hinzu kam, dass die Menschen trotzdem natürlich blieben – sie wurden von ihrem Reichtum nicht eitel und prahlten nicht damit wie die alten Rhuner. Die Rhuner…
Yai´ro blickte zu Paryn, dessen Gesichtsausdruck weniger erstaunt war als der seine, dafür aber erfüllt von etwas anderem. Es war kein Neid, viel eher schien es, als würde er bedauern, dass Rhun sich nicht ebenso hatte in Frieden entwickeln können wie Faanland – denn in diesem Fall wäre es wohl inzwischen zur bedeutendsten Metropole der Welt geworden, das Land Celia eingeschlossen.
Der junge Rhuner drehte sich weiter zu Selena, die wie zufällig in eine andere Richtung starrte, und schließlich zu Keshyn. Der alte Mann hatte trotz der Anwesenheit der faanländischen Reiter seine übliche Führungsposition in der Gruppe wieder eingenommen. Vor allen anderen ritt er durch die Straßen und hielt zielstrebig auf den Palast und das umliegende Regierungsviertel zu. Sie passierten – diesmal ohne Probleme – die zweite Stadtmauer, die kaum noch mehr als ein drei Meter hoher, an manchen Stellen mit Steinen verstärkter Holzwall war; dafür wurden die Wohnhäuser dahinter immer luxuriöser und überstiegen schon bald die Zahl der Werkstätten, Läden und Wirtshäuser. Dieser Stadtteil, der die gesamte Süd- und den Hauptteil der Ostseite des Regierungsviertels einnahm, schien den Reicheren unter den Reichen vorbehalten zu sein, war jedoch um ein Vielfaches kleiner als das Viertel, in dem die „gewöhnlichen“ Leute wohnten.
Die Häuser waren, abgesehen davon, dass sie immer größer wurden und oft von Gärten mit Bäumen, Büschen und Teichen umgeben waren, zunehmend häufig mit Metallstuck verziert. Auch manche der unwichtigeren Teile wie Fensterkreuze oder Türringe waren aus Eisen, Bronze oder Stahl angefertigt, die anscheinend als äußerst wertvoll galten; denn bei den ärmeren Häusern hatten dieselben Dinge aus Holz bestanden.
Yai´ro sah sich fasziniert um und wunderte sich zum wiederholten Mal, wie die Menschen all das geschaffen hatten. Ihre Heimat war einer der wunderbarsten Orte der ihm bekannten Welt, unter ihnen schien es kaum Missstände zu geben, sowohl unter den Reichen als auch unter den Armen, und offensichtlich war niemand im Volk unzufrieden mit seinem Leben; niemandem stieg der Wohlstand zu Kopfe und niemand brach den Frieden.
Wahrscheinlich war das auch gar nicht verwunderlich, sondern nur das Ergebnis der über Jahrhunderte hinweg ungestörten Entwicklung Faanlands. Aber um nicht nur Wohlstand, sondern auch Zufriedenheit zu erreichen, war noch etwas nötig: Ein starker Herrscher, der fähig war, das Volk zu leiten, und das nötige Vertrauen, welches dieses ihm dafür entgegenbrachte.

Die Gruppe erreichte die innerste Mauer, die den Palast und das Regierungsviertel umgab, ohne allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen; doch spätestens an dieser Stelle mussten sie ihre Absichten erklären, denn genau das wurde von jedem verlangt, der sich dem Palast näherte. Die Wache am Tor fragte etwas auf Faanländisch, und Keshyn antwortete ebenso, wobei er mit der Hand zuerst auf seine Begleiter, dann auf die Rhuner und die Elbin und schließlich auf die faanländischen Soldaten wies. Trotz seiner ausführlichen Erklärung schien der Soldat nicht sicher zu sein, ob er sie passieren lassen sollte – Yai´ro hatte deutlich gesehen, wie der Mann bei seinem und Paryns Anblick erschrocken war –, und wurde sofort wütend, als auch Ferron Nibesz und der Anführer der faanländischen Reiter begannen, auf ihn einzureden.
Yai´ro wandte sich von dem Geschehen vor ihm ab und betrachtete stattdessen die innerste Stadtmauer, die mit Abstand beeindruckender war als ihre beiden Vorgänger. Vergoldete Zinnen reflektierten in knapp fünf Meter Höhe das Licht der aufsteigenden Sonne, dahinter lag ein schmaler Wehrgang, der deutlich machte, dass die Mauer eher zur Zierde als zur Verteidigung gedacht war. An der der Stadt zugewandten Seite waren prunkvolle Malerein aus Farbe und Plattgold auf den Steinen zu sehen, aus denen die Mauer ausschließlich bestand; und Yai´ro konnte die andere Seite zwar nicht sehen, war sich jedoch relativ sicher, dass sich dort kaum oder gar kein Schmuck befand.
Auch die Rüstungen der Wachen am Tor waren um einiges prunkvoller als die der Reiter oder der anderen Gardisten, die sich in der Stadt aufhielten. Ihre Schuppenpanzer und Kettenhemden schienen in der Sonne golden zu glänzen, und obwohl diese beinahe vollkommen von dunklen Wolken verdeckt war, wirkten die Männer wie von einem seltsamen Licht umgeben.
Yai´ro blickte zurück zu der Auseinandersetzung vor dem Tor, in der, obwohl sie immer heftiger wurde, Keshyn und seine Begleiter allmählich die Oberhand gewannen. Nach einer Weile gab der Wachmann zähneknirschend auf und ließ sie das Tor passieren, allerdings nicht ohne den Rhunern einen hasserfüllten Blick nachzuwerfen.
Yai´ro widerstand dem Drang, sich im Sattel umzudrehen und dem Mann etwas Unschönes zuzurufen – es wäre ohnehin zwecklos gewesen, da der Wachposten mit Sicherheit kein Korianisch verstand –; stattdessen tat er es den anderen gleich und führte sein Pferd im Schritt durch den prunkvollen Torbogen. Links und rechts von ihm trafen die ersten Tropfen eines Regenschauers, der noch über mehrere Stunden andauern sollte, die prunkvollen Fassaden der Verwaltungs- und Regierungsgebäude der Hauptstadt, was Yai´ro jedoch kaum auffiel, denn trotz der außergewöhnlichen Größe und Bauweise der Verwaltungshäuser, Versammlungshallen und Prunkbauten war sein Blick auf etwas anderes gerichtet.
Am Ende der kurzen Straße erstreckte sich der Palast, die Residenz des Thronhüters und das wichtigste Regierungsgebäude ganz Faanlands. Es war höher als alle anderen Bauwerke, die Yai´ro auf der Insel bisher gesehen hatte, und sein mittlerer Turm reichte so weit in den Himmel hinauf, dass er sogar die höchsten Kuppeln des Tempels zu übertreffen schien.
Die Fassade des Palastes war mit strahlenden Farben verziert, was ihn nicht nur mächtig, sondern auch lebendig wirken ließ, und ihm gleichzeitig eine einzigartige Aura verlieh: Es machte deutlich, dass er das Harz Faanlands und damit das der gesamten Menschheit war.

Als sie sich dem großen, mit Edelmetallen beschlagenen Haupttor des Palastes auf zehn Schritte genähert hatten, schwang dieses langsam auf und neben einigen Wachen trat nur ein einziger, in prächtige Gewänder gekleideter Mann heraus. Dieser blickte in die Runde, wobei er jeden von ihnen nicht nur zu mustern, sondern auf das Genaueste einzuschätzen schien; und als er bei Keshyn Raknos ankam, glaubte Yai´ro, einen Hauch des Erkennens über sein strenges Gesicht huschen zu sehen. Diese Vermutung wurde ihm bestätigt, als der Palastbedienstete langsam zu lächeln begann und Keshyn mit derselben Geste von seinem Pferd sprang, um seinen Bekannten mit einem Handschlag zu begrüßen.
Die beiden begannen sich auf Faanländisch zu unterhalten, doch was auch immer das Thema ihres Gesprächs war, schien zwar nicht von großer Bedeutung zu sein, Keshyn aber zumindest nicht zu gefallen. Nach einer Weile beendete der alte Mann die Unterhaltung, indem er seinem Bekannten bedeutete, zu warten, und drehte sich zu seinen Gefährten um. Wie üblich sprach er zuerst mit seinen faanländischen Begleitern, bevor er sich zu Yai´ro, Paryn und Selena wandte und erklärte: „Der Thronhüter will euch sofort sehen und mit uns allen sprechen. Ich habe versucht zu erklären, dass wir von der Reise erschöpft sind und es besser wäre, wenn wir uns zuerst ausruhen könnten.“ Er wies mit der Hand auf den prachtvoll gekleideten Schlossbediensteten, der vor dem Tor wartete. „Aber davon will hier niemand etwas wissen. Wir werden die Audienz wohl durchstehen müssen!“
Yai´ro fiel auf, dass der Mann vor dem Tor ihn unablässig beobachtete. Keshyn folgte seinem Blick und bemerkte lächelnd: „Ihr seid hier etwas wirklich Außergewöhnliches. Das letzte Mal, dass ein Rhuner Faanland betreten hat, muss mindestens viertausend Jahre zurückliegen!“
Yai´ro hätte liebend gerne darauf verzichtet, etwas Besonderes zu sein, wenn die Menschen dafür aufhörten, ihn dauernd anzustarren; doch er erwiderte nichts, sondern wartete bis Keshyn weitersprach:
„Wir sollten den Thronhüter nicht zu lange warten lassen. Ich bin mir zwar sicher, dass er euch helfen wird, aber er legt sehr viel Wert auf die Etikette.“
Der alte Mann wandte sich um und kehrte zu dem Schlossbediensteten zurück, der froh schien, wieder in den Palast zurückkehren zu können. Yai´ro hob den Kopf und blickte in das eintönig wabernde Grau der Wolken, die den Himmel verdeckten, musste jedoch sofort blinzeln, weil der immer heftiger werdende Regen, welcher aus ihnen herabprasselte, auch seine Augen nicht verschonte. Er überließ sein Pferd einer der Wachen und war mit einigen großen Schritten unter dem Torbogen hindurch und in der Eingangshalle des Palastes, wo Keshyn und der Schlossbedienstete bereits warteten – die Haare beider, obwohl unterschiedlich lang, glänzten von derselben Nässe.
Es dauerte nicht lange, bis die gesamte Gruppe sich im Schutz der Halle versammelt hatte, denn der Regen artete innerhalb kürzerster Zeit zu einem wahren Unwetter aus, das keiner an der eigenen Haut spüren wollte. Als letzter kam Paryn durch das Tor, welches hinter ihm sofort geschlossen wurde, und auf seinem Gesicht konnte Yai´ro lesen, wie schwer es seinem Onkel fiel, diesen Palast zu betreten. Der Rhuner kämpfte mit Eifersucht und altem, über viele Generationen überliefertem Hass – denn nicht nur die Menschen konnten die Rhuner nicht gut leiden: Der Streit zwischen den beiden Völkern war, wie in den meisten Fällen, beidseitig.
Gleichzeitig aber versuchte Paryn zu hoffen, dass ihnen ebendiese verhassten Todfeinde helfen würden und fragte sich, was sie dafür wohl verlangten – Gold? Die Gunst des neu aufsteigenden Rhun? Was es auch immer sein mochte, umsonst würden sie die Unterstützung des Thronhüters gewiss nicht bekommen.
Trotz all dieser Zweifel hatte Paryn keine andere Wahl, als Keshyn zum Herrscher seiner Feinde zu folgen. Und das nicht nur wegen der erhofften Hilfe: Der Thronhüter wollte sie sehen, und ob es ihnen recht war oder nicht, sie mussten gehorchen. Yai´ro erschauderte – hinter der vermeintlichen Freundschaft und Höflichkeit der Menschen waren sie doch nicht weiter als bloße Gefangene.
Der Palastbedienstete rief etwas, dessen korianische Übersetzung wohl Folgt mir gewesen wäre und setzte sich in Bewegung. Alle folgten ihm, auch Paryn, obwohl mit versteinerter Miene und zuletzt.
Während sie auf die gewaltige, weiße Marmortreppe zugingen, die das gesamte hintere Drittel der Eingangshalle einnahm und von ihrem Standpunkt aus die einzige Verbindung in die höheren Stockwerke des Palastes war, stellte Yai´ro verwundert fest, dass irgendetwas ihn zu Selena hinzog, so wie in den Tagen vor dem Geschehen im Wirtshaus. Er gab dem Drang nach und stieg die Treppe neben der Elbin hinauf, und Selena hob kurz den Kopf und lächelte ihn an. Es war kein eben fröhliches Lächeln, jedoch ein ehrliches, und in Yai´ro stieg eine lang vermisste Freude und Erleichterung auf. Mit neuem Ansporn nahm er die letzten Stufen der Marmortreppe und folgte gemeinsam mit den anderen dem Palastbediensteten durch einen langen, hellen Gang und eine weitere, kürzere Treppe hinauf.
Oben angekommen, wurden sie in einen relativ kleinen Raum mit hölzernen Bänken und anderen, aus verschiedenen Holzarten gefertigten Möbeln geführt, die allesamt nett anzusehen waren und sowohl einen Eindruck von Reichtum als auch von Ordnung vermittelten. Durch zwei vergitterte, nach Süden ausgerichtete Fenster fiel trotz des Regens und der dichten Wolkendecke am Himmel genügend Licht herein, um dem Zimmer eine Atmosphäre von Gemütlichkeit und – denn darauf wurde hier offensichtlich sehr viel Wert gelegt – Sauberkeit zu verleihen.
Der Palastbedienstete sprach einige Sätze auf Faanländisch, die Keshyn sofort für sie übersetzte: Sie sollten hier warten, bis der Thronhüter bereit war, sie zu treffen. Es würde nicht lange dauern, falls sie etwas wünschten, sollten sie nach ihm rufen, und sie sollten es sich ruhig gemütlich machen, bis er wiederkam um sie zu holen.
Yai´ro konnte das unausgesprochene, aber kaum verhohlene Unbehagen auf Keshyns Gesicht sehen, als dessen Bekannter sich mit einer Verbeugung verabschiedete und den Raum verließ. Er selbst konnte es ihm nachempfinden – zuerst hieß es, der Thronhüter wolle sie sofort sehen, und dann mussten sie doch noch warten, anstatt sich von den Strapazen der Reise zu erholen – aber was sollte er schon dagegen tun?
Ohne auf die anderen Gruppenmitglieder zu achten, trat Yai´ro näher zu einem der Fenster, um durch die Gitterstäbe hindurch den Regentropfen dabei zuzusehen, wie sie vom Himmel herabfielen und schneller, als seine Augen ihnen folgen konnten, an ihm vorbeistürzten, nur um einige Meter tiefer auf einem Dach oder dem steinernen Boden zu zerschellen. Der junge Rhuner versank so tief im Anblick dieses sich endlos wiederholenden Vorgangs, dass er völlig das Zeitgefühl verlor. Erst als nach einer guten halben Stunde der Palastbedienstete zurückkehrte, um sie zum Thronsaal zu führen, erwachte er aus seiner Trance und folgte den anderen, während sich nur langsam die Nebel der Träumerein in seinem Kopf lichteten.
Als sie, nachdem sie unzählige Treppen hinauf- und Gänge entlanggegangen waren, endlich das gewaltige, zweiflügelige Tor zum Thronsaal erreichten, war Yai´ro jedoch wieder genauso munter wie jeder andere in der Gruppe und vielleicht neben Keshyn der einzige, der sich an den Herweg erinnern konnte. Der Gang, den sie nun auf das zwar hölzerne, aber mit prunkvollen Beschlägen aus Edelmetallen verzierte Tor zugingen, würde er jedenfalls nie vergessen:
Ein breiter, roter Teppich zog sich in seiner Mitte vom Beginn aus über mindestens zwanzig Meter hin bis zum großen Tor; die Decke, in die alle paar Schritte ein kompliziert angelegter Lichtschacht eingelassen war, glänzte von goldenen Verzierungen, und die fensterlosen Wände waren bedeckt von prächtigen Bildern und Malerein, allesamt in gemäßigten Farben gehalten, um nicht zuviel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Yai´ro sah Bildnisse von Königen, von Helden und von großen Geschehnissen, die er nicht kannte und somit auch nicht verstand. Ganz am Ende der Wand, nur knapp drei Meter von der Pforte zum Thronsaal entfernt, war eine strahlende Gestalt zu sehen, ein Mann, dessen Alter und Züge man nur erahnen konnte, und hinter dessen lebensgroßem Abbild eine reiche und mächtige Stadt zu erkennen war. Neben dem Mann waren andere Gestalten zu sehen, viele an der Zahl, doch kleiner, als wären sie alle seine Gefolgsleute oder Untergebenen.
Yai´ro fiel es schwer, den Blick von den strahlenden Farben und zweifellos meisterhaften Pinselstrichen des Bildnisses wieder abzuwenden. Wenn er gekonnt hätte, wäre er noch lange hier stehen geblieben und hätte beide Wände eingehender betrachtet, doch dazu hatten sie weder die Zeit noch – denn so vermutete er – das Recht.
Vor ihnen öffnete sich das Tor des Thronsaals so langsam, dass sie gezwungen waren stehen zu bleiben und nicht anders konnten, als mit wachsender Spannung den sich kaum wahrnehmbar vergrößernden Türspalt zu beobachten. Nach einer halben Ewigkeit war dieser endlich groß genug, dass sie hintereinander eintreten konnten – und das nur, um sofort von tiefem Staunen ergriffen zu erstarren.
Der Thronsaal war riesig, nicht so „riesig“, wie der Palast oder der Anblick der Hauptstadt aus der Ferne gewirkt hatte, sondern wahrhaft gigantisch. Die Decke lag in mindestens zehn Meter Höhe und wurde von zwei Säulenreihen gestützt, die links und rechts vom Eingang begannen und sich quer durch die Halle zogen, um erst kurz vor dem Thron zu enden.
Der Thron…
Es war kein Thron im herkömmlichen Sinne eines verzierten Stuhls für den Herrscher, sondern eine mindestens drei Meter hohe, viereckige Marmorpyramide am Ende der Halle, die an einer Seite an die Wand grenzte, an den drei anderen aber von Treppen umgeben war. Eigentlich waren es keine richtigen Treppen, nur die Steinstufen der Pyramide, die jedoch den gleichen Effekt wie eine Stiege erzielten; die einzige richtige Treppe war mit einem roten Teppich gekennzeichnet und führte von vorne zu der kleinen Plattform, in der das Bauwerk endete.
Und als er seinen Blick dorthin richtete, begann Yai´ro erst zu verstehen, was Bewunderung wirklich bedeutete.
Aus demselben Stein, aus dem die Oberfläche der Pyramide bestand, strebte ein gewaltiger Thron in die Höhe – ein wirklicher Thron, aus dunkel glitzerndem Stein geschlagen. Er nahm etwa die Hälfte des Platzes auf der steinernen Plattform ein, und seine Lehne war höher als zwei große Männer – hoch genug, um die Gestalt, die in erhabener Haltung vor ihr saß, klein erscheinen zu lassen.
Yai´ro schrak auf, als Paryn ihn an der Schulter berührte und ihm bedeutete, den anderen zu folgen. Diese betrachteten nicht mehr den Saal, sondern hatten begonnen, mit langsamen, ehrfürchtigen Schritten auf den Thron zuzugehen. Yai´ro reihte sich zwischen seinem Onkel und Selena ein und folgte der Gruppe, während er sich noch weiter umsah.
Im Thronsaal waren, ebenso wie im Gang davor, Lichtschächte in die Decke eingelassen, was zur Folge hatte, dass der gesamte Raum mit Sonnenlicht erfüllt war. Nachts musste es aber nicht weniger hell sein, denn an den Säulen, zu Füßen des Throns und an vielen anderen Stellen waren eiserne Halterungen angebracht, in denen ungebrauchte Fackeln steckten.
Noch etwas fiel Yai´ro auf: Besuchern schien nur das Betreten des Raumes zwischen den beiden Säulenreihen gestattet zu sein, denn der Bereich dahinter war nicht nur erheblich dunkler als der Rest des Saals; an den Wänden befanden sich auch viele Türen, die offensichtlich für das ein- und ausgehen der Diener und Soldaten bestimmt waren. Im Saal hielten sich ungewöhnlich viele Soldaten auf – zwei Angehörige der Garde waren links und rechts vom Thron postiert, andere bei den Säulen oder beim Eingangstor – und Yai´ro fragte sich, ob der „Thronhüter“, wie Keshyn ihn genannt hatte, so viel Schutz tatsächlich nötig hatte, oder ob der einzige Zweck, den die Garde erfüllte, das Beeindrucken von Bürgern und Fremdlingen wie ihnen war. Musste der Herrscher in seinem eigenen Land, das außer den Rhunern keine Feinde kannte und von der restlichen Welt schon seit Jahrhunderten abgeschnitten war, wirklich Angst haben, angegriffen zu werden? Oder wollte er nur den Neid in ihnen, den seit langem unterlegenen Todfeinden, wecken?
Sie erreichten den Fuß der steinernen Pyramide, die, wie Yai´ro mit Enttäuschung feststellen musste, viel kleiner war, als sie von weitem gewirkt hatte, und knieten nieder. Keshyn, der die Etikette des Palastes am besten kannte, warf sich als erstes zu Boden, die anderen folgten seinem Beispiel der Reihe nach – zuletzt Yai´ro und Paryn, der einen Moment lang zu überlegen schien, ob er seinem Stolz nachgeben und einfach stehen bleiben sollte.
Yai´ro sah die Überwindung und den unterdrückten Hass auf dem Gesicht seines Onkels, als dieser schließlich doch niederkniete und mit dem Kopf so kurz wie möglich den Boden berührte. Erst als er sie Bewegung zuende geführt hatte, begann der Thornhüter zu sprechen.
„Ihr kommt spät!“, sagte er auf Faanländisch. Seine Stimme klang schneidend und überwand sie Entfernung vom Thron bis zu ihnen mit spielerischer Leichtigkeit, ohne dabei etwas von ihrer Lautstärke einzubüßen.
„Wir haben uns beeilt, aber die Umstände erlaubten nicht, dass wir unser Ziel früher erreichten!“, antwortete Keshyn, ebenfalls auf Faanländisch. Es war keine Rechtfertigung, sondern eine bloße Tatsache, so wie die Worte des Thronhüters davor.
„Aber ihr kommt rechtzeitig“, sprach dieser weiter, als ob niemand etwas gesagt hätte. „Natürlich hat die Ankunft der Rhuner für einige Aufregung gesorgt, und es war nicht leicht, das Volk wieder zu beruhigen.“
Yai´ro hob den Kopf um ein kleines Stück, um den Thronhüter aus den Augenwinkeln beobachten zu können. Er sah nicht viel, nur, dass der Mann in lange, seidene Gewänder gekleidet war und anscheinend langes, graues Haar hatte, das ihm in vielen dünnen Strähnen um Gesicht und Schultern fiel. Dann erhob sich der Thronhüter, durch seine Gewänder ging ein Schaudern, und Yai´ro senkte den Blick erschrocken, als er begann, die Treppen vom Thron herabzusteigen.

„Wir werden von den Rhunern und ihren Absichten hören“, setzte der alte Mann seine Rede fort. „Nicht umsonst haben sie unser Land betreten, und ich gedenke, ein langes Gespräch mit ihnen zu führen – denn die Zeiten haben sich gewandelt. Doch zuerst bitte ich Euch, Keshyn, mir von der Reise zu berichten.“
Keshyn begann zu erzählen, und Yai´ro, der kein Wort davon verstand, wurde trotz seiner ungemütlichen Haltung immer müder. Die faanländischen Worte drangen auf ihn ein, wie Wellen gegen einen Felsen brandeten und daran zerschellten, sein Kopf wurde schwer und sine Gedanken schweiften ab zu seiner Kindheit, wo Rith noch gelebt und er bei seiner Mutter gewohnt hatte.
Erst als Keshyn seine Erzählung beendete, schreckte der junge Rhuner wieder auf. Seine Stirn war schweißnass und er glaubte, seine Beine nie wieder bewegen zu können, doch eines hatten seine Träumereien bewirkt: Er war sich nun endgültig sicher, dass seine Entscheidung, Manta zu verlassen, richtig gewesen war. Zwar sehnte er sich immer noch nach seiner Mutter, seinem Zuhause und seinem besten Freund, und auch die Zeit beim Orden war nicht leicht gewesen, doch einen gewissen Preis musste man für alles bezahlen. Denn so erfüllte sich gleichzeitig sein größter Wunsch, den er schon hegte, solange er sich erinnern konnte: Der nach einer besseren Zukunft.
Und dieses Ziel würde er sich gewiss nicht nehmen lassen, auch nicht von den Demütigungen und der Herablassendheit der Menschen.
„Der Thornhüter würde nun gerne von den Absichten der Rhuner erfahren“, hörte er Keshyn sagen. Im nächsten Moment erschrak er, weil der eben genannte direkt vor ihm stand und ihn aus seinen tiefen Augenhöhlen anstarrte.
Mehr konnte der junge Rhuner nicht erkennen, da er seinen Blick sofort wieder gegen Boden richtete. Für einige Momente, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, herrschte Stille, bis Keshyn endlich wieder zu sprechen begann.
„Paryn, wenn Ihr selbst sprechen wollt, werde ich Eure Worte gerne übersetzen“, sagte er vorsichtig.
Der Rhuner nickte. „Bitte tut das“, antwortete er, und begann gleich darauf zu erzählen.
„Wie Ihr sicher wisst, wurde unser Volk vor beinahe zweitausend Jahren von den Hütern verflucht“, sagte er mit gefasster Stimme. „Seitdem leben wir in Elend und Armut an der Südküste Koriens. Wir können nicht in unsere alte Heimat zurück und uns fehlt die Macht, um eine neue aufzubauen. Doch es gibt eine Möglichkeit, dem Fluch zu entrinnen. Es ist kein leichter Weg, und wir können ihn nicht ohne die Hilfe anderer zuende gehen. Deshalb sind wir hier: Weil wir Eure Hilfe brauchen.“
Keshyn übersetzte das Gesprochene für den Thronhüter, worauf für einige Sekunden absolute Stille herrschte. In dem riesigen Saal wurde kein Wort gesprochen, das einzige Geräusch war das ferne Trommeln der Regentropfen am Dach des Palastes.
Dann hob der Thronhüter die Stimme. Seine Worte hallten durch die Leere wie Hörner oder Posaunen durch eine Schlucht, doch die wahre Kraft, die darin lag, wurde Yai´ro erst klar, als Keshyns deutlich unterlegene Stimme sich dazumischte.
„Der Thronhüter will mehr darüber erfahren, wie Euer Volk erlöst werden kann“, sagte er. „Danach wird er entscheiden, ob wir Euch Hilfe gewähren.“
Paryn blickte zum ersten Mal auf und sah den Thronhüter abschätzend an. Offensichtlich stimmte dieser Eindruck ihn zufrieden, denn er richtete den Blick wieder gen Boden und begann , von ihren Plänen zu erzählen:
„Als der Engel der Läuterung vor zweitausend Jahren unser Volk verfluchte, gab er uns zu wissen, dass wir nicht völlig verloren sind. Wir können gerettet werden, und zwar durch die Kraft eines Auserwählten. Für diese Aufgabe war ursprünglich mein älterer Bruder, der Vater meines Neffen Yai´ro bestimmt, doch er widersetzte sich seinem Schicksal und verließ uns. Für lange Zeit dachten wir, wir wären verloren, bis wir endlich erfuhren, dass der Auserwählte in der Stadt Manta einen Sohn hinterlassen hatte. Ich machte mich dorthin auf und fand meinen Neffen Yai´ro vor, mit dem ich nach Norden in die Hügellande flüchten musste. Wir wurden verfolgt und hatten keine Zeit, unsere Spuren zu verwischen. Dadurch kam alles anders, als wir es erwartet hatten: Wir wurden getrennt und gerieten in die Gefangenschaft des Ordens und der Fabrik, wo wir ohne die Hilfe des Engels der Läuterung und die Selenas“, er wies mit der Hand auf die Elbin, „immer noch wären. In größter Not wandten wir uns schließlich nach Faanland, mit der Hoffnung auf die Hilfe der Menschen – das einzige, was uns noch retten kann. Zur Ausführung unserer Pläne muss Yai´ro nach Rhun gelangen, und das, ohne vom Engel des Todes gefunden zu werden.
Wir brauchen Eure Hilfe, die Hilfe der Menschen!“, wiederholte Paryn. „Und in dieser Stunde bitte ich Euch, die alten Streitigkeiten zwischen uns zu vergessen!“
Abermals herrschte lange Stille, und Yai´ro fühlte, dass sie am einem wichtigen Punkt ihrer Reise angelangt waren; vielleicht sogar bei der Entscheidung, die allein ausschlaggebend für ihre gesamte Zukunft war.
Endlich begann der Thronhüter wieder zu sprechen und Keshyn übersetzte:
„Dies ist keine leichte Entscheidung, und ich kann sie nicht alleine treffen. Noch ist zuviel Hass zwischen uns; wenn ich Euch Hilfe anböte, wären die Menschen unzufrieden und würden aufständisch. Doch ich für meinen Teil denke, dass die Feindschaft zwischen unseren Völkern bereits viel zu lange andauert.“
Der Thronhüter machte eine kurze Pause, bevor er mit einem Seufzen fortfuhr. Keshyn übersetzte:
„Ich denke, dass ich Euch helfen kann. Es ist vielleicht keine großartige Hilfe, jedoch alles, was in meiner Macht steht, und es wird Euch eurem Ziel beträchtlich näher bringen.“
Yai´ro starrte den alten Herrscher unverhohlen an, teils aus der Begierde zu wissen, was kommen würde, teilweise jedoch auch aus überraschter Dankbarkeit.
Als Keshyn nacheiner weiteren Pause wieder zu übersetzen begann, klebte Yai´ro mit einer Spannung an seinen Lippen, wie er sie noch selten gefühlt hatte.
„Faanland kennt kaum noch Verbindungen zur Außenwelt“, sprach der alte Mann die Worte des Thronhüters auf Korianisch nach. „Doch von Zeit zu Zeit treiben wir mit den Elben Handel. Unsere Schiffe fahren von den Häfen im Norden Faanlands bis zu den westlichen Wäldern Koriens, und solch ein Schiff wird in weniger als zwei Wochen ablegen. Ihr könntet mit ihm fahren, dann entweder zu den Elben gehen oder an ihren Wäldern vorbei und direkt zu Eurer Heimat im Süden. Damit hättet Ihr die Schwierigkeiten des Krieges in den Hügellanden überwunden und gleichzeitig hätte es auch der Engel des Todes schwer, Euch zu finden.“
Für kurze Zeit herrschte Stille, und sowohl Yai´ro und Paryn und Selena mussten sich bemühen, diese nicht mit einem Freudenausbruch zu unterbrechen. Schließlich fragte der Thronhüter: „seid ihr bereit, diesen Weg zu gehen?“
„Das sind wir!“, antwortete Paryn ohne zu zögern. „Habt Dank, ehrwürdiger Thronhüter. Ich verspreche Euch, dass diese Hilfe nicht ungelohnt bleiben wird, wenn Rhun wieder frei ist!“
Der Thronhüter lächelte und wandte sich dann wieder an Keshyn. Die beiden diskutierten eine Weile auf Faanländisch, wobei sie nicht selten auf Yai´ro und mindestens ebenso oft auf Selena deuteten. Schließlich wechselte Keshyn wieder ins Korianische und fragte: „Yai´ro, wie steht es um deine Verletzung?“
Der junge Rhuner wusste im ersten Moment nicht, was gemeint war, bis Keshyn hinzufügte: „Wie geht es deiner Hand?“
Yai´ro tastete unwillkürlich nach der Wunde am Rücken seiner linken Hand. Er hatte den ganzen Tag keinen Gedanken an sie verschwendet, obwohl sich inzwischen der gesamte linke Arm bis zur Schulter und darüber hinaus ein Teil seines Genicks kalt und taub anfühlte, und das war gewiss einer der Gründe für seine enorme Erschöpfung. Mit einem Schaudern blickte er auf die Hand hinab:
Die Verletzung war unter dem Verband angeschwollen, und er war sich sicher, dass sie wieder zu eitern begonnen hatte. Darüber hinaus fühlte er an der Stelle keine stechenden Schmerzen mehr wie in den Tagen zuvor, sie war ganz einfach taub, kalt und gefühllos geworden.
Trotzdem zuckte er bloß mit den Schultern – das hieß, eher nur mit der rechten Schulter – und Keshyn schien der aufflackernde Schmerz in seinen Augen auch als Antwort zu genügen.
Der alte Mann wandte sich wieder dem Thronhüter zu und setzte das unterbrochene Gespräch fort, während Yai´ro sich an den linken Oberarm griff und diesen vorsichtig zu massieren begann – denn seit er seine Hand nicht mehr fühlte, hatten sich die Schmerzen dorthin verlagert. Schließlich sah er wieder auf und beobachtete das Gespräch der beiden Männer vor ihm, obwohl er nur raten konnte, über was sie sprachen.
Nach einigen Minuten wurde die Diskussion heftiger – der Thronhüter schien wegen irgendetwas wütend zu werden, und Keshyn verteidigte sich zwar mit Respekt vor seinem Gegenüber, aber dennoch nicht minder zornig – schließlich winkte der winkte der alte Herrscher jedoch mit einer ermüdeten Geste ab und wechselte offenbar das Thema. Das Gespräch dauerte in etwa noch eine Minute, dann stieg der Herrscher die Stufen zu seinem Thron wieder hinauf und Keshyn wandte sich zu ihnen, um das eben Gesprochene zu erklären. Wie immer sprach er zuerst mit den Menschen, denen der Reihe nach ihre Aufträge zugeteilt wurden. Zuletzt unterhielt er sich relativ lange mit Reknon Lit, dem anscheinend eine besondere Aufgabe zuteil wurde, und wandte sich dann endlich an Yai´ro, Paryn und Selena.
„Ich werde euch auf der Seereise nach Korien begleiten“, gab er bekannt. „Und zu unserem Schutz wird auch Reknon Lit bis zu den Häfen mitkommen. Wir werden übermorgen in aller Frühe aufbrechen, bis dorthin haben wir Zeit für die Vorbreitungen und um uns von der bisherigen Reise zu erholen. Was deine Verletzung betrifft, Yai´ro…“
Der alte Mann wandte sich zu ihm und fasste ihn fest ins Auge.
„…so wird sich noch heute einer der Heiler des Palastes darum kümmern. Bis zu unserem Aufbruch sollte das Schlimmste wieder verheilt sein. Und ich habe noch eine gute Nachricht für dich: Ich darf den Magieunterricht mit dir fortsetzen!“
Yai´ro horchte auf. Der Magieunterricht – war es das, worüber sich Keshyn mit dem Thronhüter gestritten hatte? Er konnte sich jedenfalls gut vorstellen, dass der alte Herrscher bei dem Gedanken erschrak, dass einer seiner Untergebenen die Erzfeinde in genau dem unterrichtete, was ihnen zu neuer Macht verhelfen konnte: Der Magie. Aber Keshyn hatte es scheinbar dennoch geschafft, den Thronhüter von der Harmlosigkeit des Unterrichts zu überzeugen. Vielleicht waren seine Argumente ja die Bildung von Vertrauen zwischen den beiden Völkern und die eigenen Worte des Herrschers gewesen: „Ich für meinen Teil denke, dass die Feindschaft zwischen unseren Völkern bereits viel zu lange andauert.“
Yai´ro schüttelte diese Gedanken ab und bedankte sich bei Keshyn mit einem einfachen Kopfnicken. Der alte Mann sprach weiter: „Bis zu unserem Aufbruch werden wir im Regierungsviertel wohnen. Das geschieht natürlich teilweise zu eurem Schutz“, fügte er erklärend hinzu, „denn obwohl ich mir sicher bin, dass kein Mensch in dieser Stadt euch etwas zuleide tun würde, ist Vorsicht selten fehl am Platz.“
Nach einer kurzen Pause, in der Keshyn nachzudenken schien, ob er etwas vergessen hatte, fügte er noch hinzu: „Abgesehen von Reknon Lit haben alle meine Reisebegleiter ihren Auftrag erfüllt und werden wieder ihre eigenen Wege gehen. Ich selbst werde euch noch etwas länger begleiten – das Schiff hätte ohnehin noch einen Übersetzer gebraucht, und ich lasse einen Auftrag nicht gerne in der Mitte fallen, schon gar nicht, wenn das Schicksal eines gesamten Volkes davon abhängt.“
Der alte Mann lächelte, und Yai´ro fühlte, wie schon öfters in der letzten Zeit, eine wachsende Zuneigung zu dem Menschen, der ihm bei ihrer ersten Begegnung noch Angst eingejagt hatte.
Im nächsten Augenblick erlosch das Lächeln auf Keshyns Gesicht jedoch wieder, und er drehte sich zurück zum Thron, um einige kurze Worte mit dem Thronhüter zu wechseln. Nach einem abschließenden Nicken des alten Herrschers ließ er sich wieder auf die Knie sinken – genau die Haltung, in der Yai´ro und alle anderen die ganze Zeit über ausgeharrt hatten und die dem jungen Rhuner mittlerweile heftige Schmerzen bereitete – und berührte wie am Beginn des Treffens kurz mit dem Kopf den Boden. Bereits zum zweiten Mal an diesem Tag ahmte Yai´ro diese Bewegung nach und versuchte dann jedoch, anders als beim ersten Mal, sich wieder aufzurichten – und er brachte es auch zustande, allerdings schmerzte sein gesamter Rücken und in der linken Schulter pochte das Blut so stark, dass es sich anfühlte, als würde sie jeden Moment zerplatzen.
Mit viel Mühe schaffte er es dennoch aufzustehen, ohne einen Laut von sich zu geben oder auch nur das Gesicht zu verziehen, und fragte sich dabei, wie lange das Gespräch wohl gedauert haben musste, dass seine Glieder währenddessen so steif geworden waren. Aber selbst wenn er die Frage laut ausgesprochen hätte, hätte er im Moment keine Antwort bekommen, denn Keshyn hatte sich nicht nur wieder erhoben, sondern ging auch schon mit langsamen, zielstrebigen Schritten auf das große Tor des Thronsaals zu, und seine Reisegefährten, die Soldaten und auch Paryn und Selena folgten ihm. Yai´ro nahm den Platz zwischen den beiden letzteren ein und ging in die gleiche Richtung wie alle anderen, allerdings nicht ohne einen letzten Blick zurück zum Thronhüter zu werfen, der in aufrechter, steifer Haltung auf dem Thron erstarrt war.
Und als sie an den Wachen, die sie aus ihren Helmvisieren zwar finster, aber nicht mehr wirklich unfreundlich anblickten, vorbei in den Gang vor dem Thronsaal traten, wurde Yai´ro erst wirklich bewusst, wie viel Glück sie mit der Hilfe des alten Herrschers gehabt hatten: Denn sie bedeutete abgesehen davon, dass sie sich einen gewaltigen Weg ersparten und mit hoher Wahrscheinlichkeit Saphita entkamen, noch viel mehr – nämlich den Beginn der Versöhnung zwischen Menschen und Rhunern.

6. Szene: Faan

Yai´ro, Paryn und Selena wurde, nachdem sie den Palast verlassen hatten und in den zwar immer noch bewölkten, aber nicht mehr regnerischen Nachmittag hinaustraten, als erstes ihr Quartier in einem der prunkvollen Gebäude des Regierungsviertels gezeigt. Es bestand aus einem einzigen Zimmer mit drei Betten und Blick auf den Palast; außerdem befand sich darin ein Tisch mit mehreren Stühlen und an der Wand ein steinernes Becken, das mit frischem Wasser gefüllt war.
Trotz der Versuchung, sich hinzusetzen und zu entspannen, brachen sie, nachdem sie alles überflüssige Gepäck abgelegt hatten, sofort wieder auf, um erste Vorbereitungen für die weitere Reise zu treffen. Gemeinsam mit Keshyn, der in demselben Gebäude wie sie wohnte, verließen sie das Regierungsviertel und kauften in der Stadt von der begrenzten Geldsumme, die ihnen der Thronhüter zur Verfügung stellte, genügend gut haltbaren Proviant, einige nützliche Dinge wie Wasserfalschen, Decken und Steine, mit denen man Feuer entfachen konnte, und außerdem noch einen langen, groben Fellmantel für jeden von ihnen, denn obwohl der Sommer gerade erst begann, war der Norden Faanlands eine relativ kalte Gegend.
Während sie am größten Marktplatz der Stadt herumschlenderten, um dies alles und noch viel mehr zu besorgen, fiel Yai´ro eines auf: Viele der Menschen starrten ihn oder Paryn an, allerdings nicht feindselig, sondern auf eine seltsame Art, die zuerst nicht deuten konnte. Dann bemerkte er, dass in den Blicken der Leute einfach nur Interesse lag, und schloss daraus, dass sie bereits von der Besprechung im Palast erfahren hatten und versuchten, die ihnen so fremden Rhuner einzuschätzen.
Yai´ro beschloss, so zu tun, als würde er die Blicke nicht bemerken, und nach einer Weile hörten diese auch tatsächlich auf. Der junge Rhuner war froh darüber, nicht mehr wie ein Verbrecher oder Ausgestoßener von allen Seiten angestarrt zu werden und dankte in Gedanken dem Thronhüter – denn ohne das Vorbild ihres Herrschers würden die Menschen wohl kaum einen Rhuner in ihrer Heimat akzeptieren.
Die Gruppe kehrte erst nach Einbruch der Dunkelheit zu ihrem Quartier zurück. Yai´ro war so müde, dass er am liebsten sofort eingeschlafen wäre; aber Keshyn erinnerte ihn daran, dass noch an diesem Tag einer der Heiler des Palastes kommen sollte, um seine inzwischen ernsthaft gefährliche Wunde zu behandeln. Kaum eine halbe Stunde später betrat dieser auch wirklich ihr Gemach – ein alter Mann mit kurz geschorenem Haar, gekleidet in einen langen, blaugrünen Mantel – und löste nach einem kurzen Wortwechsel mit Keshyn den Verband von Yai´ros linker Hand. Der junge Rhuner fühlte nichts, aber er sah mit Entsetzen, dass unter dem Stoffstreifen deutlich mehr Eiter hervorquoll als beim letzten Mal, als Serana Duroff, die Wunde gereinigt hatte. Auch dem Heiler schien der schlechte Zustand der Verletzung nicht zu gefallen, er ließ sich aber kaum etwas anmerken und wusch den Eiter kurzerhand ab, um dann eine heiße Brühe aus kochenden und gedämpften Kräutern auf die Wunde zu streichen. Zuletzt verband er diese wieder und zeigte Yai´ro, wie er das auch selbst tun konnte; denn, wie Keshyn für ihn übersetzte, sollte er während der nächsten fünf Tage den Verband jeden Morgen wechseln.
Schließlich verabschiedete sich der Heiler wieder, und Yai´ro tat, wonach er sich bereits seit Stunden sehnte – er ließ sich auf sein Bett fallen und verfiel nur wenige Sekunden später in einen tiefen, aber unruhigen Schlaf, in dessen Träumen er vieles wiedersah, was er in den letzten Tagen erlebt hatte.

Nach viel zu wenigen, kurzen Stunden erwachte Yai´ro von selbst. Da er zu munter war, um wieder einzuschlafen, und zu müde, um aufzustehen, blieb er einfach liegen und begann unwillkürlich, Selena zu beobachten. Die Elbin atmete gleichmäßig, aber ihre Augenlieder zitterten leicht und ihre Hand, die neben ihr auf dem federgefüllten Kopfkissen lag, zuckte immer wieder. Yai´ro fragte sich, was sie wohl träumte, und drehte sich bei dem Versuch, das Gesicht der Elbin besser betrachten zu können, auf die linke Seite.
Was zur Folge hatte, dass ein grausamer, stechender Schmerz tief durch das Fleisch seines Unterarms zuckte.
Im ersten Moment verwünschte der junge Rhuner seine Verletzung und fragte sich, wann er sich wohl endlich merken würde, dass er die linke Seite nicht belasten durfte; doch dann fiel ihm auf, dass die Taubheit in seinem Arm verschwunden war – die Rückkehr der Schmerzen, die vor einigen Tagen absoluter Gefühllosigkeit gewichen waren, stellte ein Zeichen der Besserung dar.
Yai´ro löste sich aus seinem Bettlaken und sprang auf, ohne seinen erneut schmerzenden Arm oder auch nur die Müdigkeit zu beachten. Mit wenigen Schritten war er bei dem Wasserbecken an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers und tauchte seine linke Hand tief in die glasklare, kalte Flüssigkeit. Die Nässe brannte in der Wunde und brachte ihn beinahe dazu, den arm zurückzuziehen, doch er wartete mit zusammengebissenen Zähnen ab, bis die Schmerzen sich auflösten, um dann vorsichtig den aufgeweichten Verband von seiner Hand zu ziehen.
Entgegen Yai´ros Erwartungen hatte sich unter den dicken, weißen Bandagen kaum neuer Eiter gebildet; sie waren nur getränkt vom frischen Blut einer sauberen Wunde. Eine solche zog sich über den gesamten Handrücken, reichte jedoch an keiner Stelle tiefer als einen halben Zentimeter ins Fleisch.
Der junge Rhuner wusch die Verletzung sorgfältig aus, bevor er sie so, wie es der Palastheiler ihm gezeigt hatte, wieder verband. Anschließend weckte er Paryn und Selena, denn die Sonne stand bereits auf halber Höhe zum Zenit und sie hatten noch einiges zu erledigen.

7. Szene: Über Rhun

Yai´ro schlief erst spät in der Nacht ein, wurde aber noch vor Sonnenaufgang von Paryn geweckt. Müde, und ohne wirklich zu wissen, was er tat, wusch er sich und machte sich bereit für die Abreise.
Bei Sonnenaufgang holte Keshyn sie auf die Straße, wo sie ihre Pferde sattelten; dann überprüfte der alte Mann noch einmal das Gepäck, und schließlich, als die Sonne den Horizont kaum noch berührte, brachen sie auf.
Zuerst ließen sie die Tiere noch im Schritt durch die Gassen des Regierungsviertels laufen, doch als sie dieses verließen und Reknon Lit sich ihnen am Tor anschloss, steigerten sie ihr Tempo rasch. Keshyn wollte die Stadt noch verlassen, bevor viele Leute auf den Straßen waren, deshalb nahmen sie anstatt der langen, umwegeigen Hauptstraße einen Weg durch ein Labyrinth unzähliger enger, verwinkelter Gassen.
Als sie schließlich das Nordtor erreichten und sich die Weiten der faanländischen Ebenen vor ihnen ausstreckten, war Yai´ro unendlich erleichtert, die Stadt hinter sich zu lassen. Dennoch hatte er kaum Zeit, seiner Freude Luft zu machen, denn beim Verlassen des Stadttors trieb Keshyn sein Pferd noch mehr an, und die anderen hatten keine Wahl, als ihm zu folgen.
So trabten sie stundenlang über die Ebene, erst zu Mittag machten sie eine Rast, brachen aber schon nach wenigen Minuten wieder auf. Gegen Abend musste Keshyn öfter anhalten, weil die Pferde zunehmend erschöpft waren. Schließlich saßen sie am Ufer eines kleinen, von dichtem Gestrüpp umwachsenen Baches ab, ließen die Tiere trinken und grasen und entfachten ein Feuer für die Nacht.
Yai´ro wollte Keshyn einen Moment lang fragen, ob sie ihren Magieunterricht noch an diesem Tag fortsetzen konnten – immerhin lag die letzte Lektion schon drei Tage zurück – aber dem alten Mann stand die Erschöpfung so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er es bleiben ließ und sich stattdessen gleich, nachdem er gegessen hatte, zum Schlafen niederlegte.

Am nächsten Morgen war Yai´ro froh, so viele Stunden geschlafen zu haben. Keshyn ließ sie abermals vor Sonnenaufgang aufstehen und trieb sie den ganzen Vormittag voran, bis sie mittags einen kleinen Teich erreichten, der sich perfekt als Lagerplatz eignete.
Obwohl der Boden immer härter und steiniger wurde, war sein Rand mit einer Vielzahl an Sträuchern und Bäumen gesäumt. Zwischen den Gewächsen taten sich an manchen Stellen Lücken auf, durch die man ohne Mühe bis zum Ufer gelangen und von dem erstaunlich klaren Wasser trinken konnte.
Als Yai´ro sich umsah, bemerkte er, dass der einzige Zufluss des Teiches ein kleiner Gebirgsbach war, der, bevor er ein Teil des ruhigeren Gewässers wurde, in einem sprudelnden Wasserfall über einen Felsen herabstürzte. Gleich daneben, allerdings ein Stück weit vom Wasser entfernt, erstreckte sich eine kleine Erdmulde, deren Boden entgegen seinen Erwartungen trocken und zudem von Gras bewachsen war. Keshyn teilte ihnen mit, dass sie die kommende Nacht an diesem Ort verbringen würden; denn er wusste noch nicht sicher, ob ihr geplanter Weg durch das Gebirge begehbar war.
„Wir müssen nur einen östlichen Ausläufer der Berge überqueren“, sagte er. „Aber es gibt hier nur einen einzigen Pass, der auch für Pferde begehbar ist, und dieser ist oft bis Sommerbeginn von Schnee versperrt. Das Gebirge vollkommen zu umgehen, würde viel Zeit kosten – und wir haben nicht viel Zeit! Also werde ich noch heute aufbrechen, um den Pass auszukundschaften.
Keine Sorge“, fügte er hinzu, als Selena beunruhigt dreinblickte, „ich bin vor der Abenddämmerung zurück. Und falls ich aus irgendeinem Grund doch nicht wieder auftauche, wird Reknon Lit euch um das Gebirge herum und dann nach Norden zu den Häfen führen.“
Keshyn lächelte ironisch, und wie Yai´ro bald erkannte, bestand tatsächlich kein Grund zur Sorge. Der alte Mann aß noch mit ihnen, dann sattelte er sein Pferd, saß auf und kam noch einmal zu dem jungen Rhuner herüber, der gemeinsam mit den anderen Feuerholz für die Nacht sammelte.
„Was ich zurück bin, setzen wir den Magieunterricht fort“, sagte er so leise, dass es nur Yai´ro hören konnte. „Wir haben viel zu lange Pause gemacht. Du hast doch hoffentlich noch nichts vergessen?“
Yai´ro lachte und willigte ein, am Abend zu trainieren; doch insgeheim befürchtete er, wirklich die Hälfte dessen, was Keshyn ihm über Magie beigebracht hatte, wieder vergessen zu haben. So sah er dem alten Mann mit gemischten Gefühlen nach, als dieser über den felsigen Boden davon galoppierte.
Einen Moment lang wusste er nicht, was er tun sollte, doch dann beschloss er, seine Sorgen für den Moment zu vergessen und stattdessen die Gelegenheit zu nutzen, um etwas zu tun, das er sich schon lange vorgenommen hatte: Paryn einige Fragen über Rhun zu stellen.

Yai´ro sah sich kurz um – Reknon Lit stand in der Erdmulde und kramte im Gepäck herum, Paryn und Selena saßen am Ufer des Teiches – und setzte sich etwas zögernd zu den letzteren beiden ans Wasser. Er wartete eine halbe Minute lang schweigend, um zu hören, ob sie über etwas wichtiges sprachen; dann überwand er sich schließlich und fragte seinen Onkel, ob er ihm nicht mehr über das alte Rhun erzählen konnte.
Paryn lächelte.
„Ich habe mich schon gefragt, wann du dich endlich dafür interessierst“, sagte er. „Aber auch ich weiß nicht allzu viel über unsere alte Heimat. Als die Insel zerstört wurde, war ich noch im Alter eines Kleinkindes, und danach begannen die rhunischen Kriege – die Zeit, in der ich aufwuchs und erwachsen wurde. Aber selbst heute leben unter den Rhunern noch viele, die die Insel kannten und von ihr erzählen. Ich habe schon tausende Geschichten über die früheren Kriege, die Pracht der Städte und die Macht Rhuns gehört – genug, um alles in Gedanken sehen zu können. Eine Zeit lang habe ich jede Nacht vom großen rhunischen Leuchtturm geträumt, dem Wegweiser der alten Flotte, der höher war als alle anderen Bauwerke nach ihm.“
Paryn lächelte abermals, aber diesmal wirkte er dabei eher traurig und niedergeschlagen.
„Das alte Rhun hätte zur stärksten Macht der Welt werden können“, sagte er und blickte Yai´ro dabei ins Gesicht. „Und bevor die Insel zerstört wurde, war es das vielleicht sogar schon. Die rhunische Flotte beherrschte das gesamte südliche Meer von Korien bis zu den fernen, eisigen Landen – ein Einflussgebiet, das wohl sogar der Macht Celias Konkurrenz machte. Aber diese Zeiten sind vorüber. Heute müssen wir um unsere bloße Existenz kämpfen!“
Paryn schüttelte widerwillig den Kopf, dann sah er wieder Yai´ro an.
„Was kann ich dir über das alte Rhun erzählen?“, fragte er laut. „Ich kann dir viel über die Insel berichten, denn ich habe schon oft Karten von ihr gesehen. Auch viele der alten Geschichten habe ich gehört, sein es die der Helden und großen Könige, die über Jahrtausende hinweg ein gewaltiges Seereich beherrschten und Insel um Insel für es eroberten, die Märchen, die den Kindern früher beim Einschlafen erzählt wurden, oder die Sagen von schrecklichen Seeungeheuern, die Schiffe überfielen und sie in die Tiefe rissen.“
Yai´ro fiel auf, dass sein Onkel kurz zur Sonne blinzelte, die ihren langen Abstieg bereits begonnen hatte. Dann fuhr er fort: „Aber da wir genug Zeit haben, kann ich dir eine der längeren Geschichten erzählen. Wie wäre es mit der von Tendor, dem größten Seefahrer, den das alte Reich je gesehen hat? Mir hat diese Erzählung immer sehr gut gefallen.“
Yai´ro nickte – was sollte er schon sagen, ihm war alles Recht, solange er dabei etwas über sein Volk erfuhr.
Einige Sekunden lang starrte Paryn konzentriert in den Himmel, dann, als er sich die Geschichte scheinbar wieder vollständig ins Gedächtnis gerufen hatte, begann er zu erzählen.
„Zu der Zeit, als das Königsgeschlecht Miroth in Rhun herrschte, also etwa zweihundert Jahre nach Ende der großen Eiszeit, lagen unsere Vorfahren mit einigen anderen Inseln im Krieg. Zwar waren die Rhuner damals schon die vorherrschende Macht in diesen Gewässern, aber die Feinde waren in der Überzahl und hatten sich noch dazu mit Piraten verbündet, denen ebenfalls viel an der Zerstörung der „obersten Autorität“ des Gebietes lag. Die Rhuner hatten zwar selbst ebenfalls Verbündete, deren Standpunkte aber weit im Westen lagen und kaum Unterstützung schicken konnten, weil sie befürchteten, selbst angegriffen zu werden.
Zu dieser Zeit lebte ein junger Adeliger namens Tendor, der das Meer über alles liebte und, wenn man den Erzählungen trauen kann, mehr Zeit auf Schiffen als an Land verbrachte. Kurz vor dem entscheidenden Angriff auf Rhun verließ mit einer kleinen Flotte die Insel, um zu erkunden, wie weit die Feinde bereits vorgedrungen waren. Doch dabei geriet er in eine Falle.
Obwohl seine Leute sich tapfer schlugen und mehrere der feindlichen Kreuzer versenkten, wurde er besiegt. Es gelang Tendor allerdings, mit zwei Schiffen zu entkommen, doch die Feinde versperrten ihm den Heimweg und er musste nach Südosten in unbekanntes Gebiet fliehen.
Nach mehreren Tagen auf See strandete er schließlich an der Küste einer felsigen Insel, die auf den ersten Blick unbewohnt wirkte. Als die Rhuner jedoch das Landesinnere erkundeten, fanden sie nicht nur heraus, dass sie ein gewaltiges, zum Hauptteil flaches Inselarchipel entdeckt hatten, das aus nichts anderem als Fels und Vulkangestein bestand, sondern auch, dass dieses von einer nahezu dreitausendköpfigen Sippe bewohnt wurde.
Tendor, der sich in die Enge gedrängt sah, bat die Inselbewohner um Hilfe. Als Gegenleistung versprach er ihnen das Wohlwollen, den Schutz und die Unterstützung des rhunischen Reiches, falls dieses den Krieg überstehen sollte. Der Erzählung nach ließ sich der Anführer der Sippe allerdings nicht sofort darauf ein, sondern verhandelte viele Stunden mit Tendor. Schließlich schlug dieser einen zwar riskanten, aber später noch bedeutungsvollen Handel vor: Die Inselbewohner sollten den Rhunern mit all ihrer Macht im Krieg beistehen, dafür aber nicht nur als vollwertiges Mitglied und ohne irgendwelche Abgaben zu leisten dem rhunischen Reich beigehören, sondern auch im Tausch gegen rohen Stein Holz und Saatgut erhalten. Dieses Abkommen war für beide Seiten von Nutzen, denn die Insel Rhun war zwar zum Hauptteil bewaldet, gibt aber, obwohl sie in einem Bergmassiv gipfelt, kaum brauchbaren Stein ab. Die andere Insel dagegen war bis auf die wenigen Stellen, an denen die Vulkanerde Pflanzen sprießen ließ, völlig unfruchtbar und gab ihren Bewohnern zwar mehr als genug guten Stein, aber nur wenig Nahrung und kaum Holz. So kam es, dass Tendor nicht nur die kriegerische Unterstützung der Sippe bekam, sondern gleichzeitig mit dem Mangel an Stein ein großes Problem der Rhuner löste.
Am nächsten Tag brach er mit seiner verbleibenden Flotte auf, um ein feindliches Frachtschiff zu überfallen und zu entern. Tendor versteckte in diesem und seinen anderen zwei Schiffen beinahe achthundert Männer der Inselbewohner und steuerte dann unter feindlicher Flagge die Hauptinsel der Gegner an. Da der Hauptteil deren Flotte und Soldaten auf See war, war es ein Leichtes für Tendor, mit seiner Übermacht die Insel einzunehmen. Er ließ die Stadt der Feinde in Brand setzen und alle ihre Schiffe bis auf die besten zerstören; dann bemannte er diese mit seinen eigenen Leuten und setzte seinen Weg mit einer größeren Flotte zur Insel Rhun fort.
Vor dieser war inzwischen eine Schlacht ausgebrochen, in der die Rhuner zwar noch nicht wirklich unterlegen, die Feinde aber deutlich in der Überzahl waren. Alle Frauen, Kinder und Alten hatten sich ins Gebirge im Zentrum der Insel zurückgezogen und auf dessen höchstem Gipfel ein gewaltiges Feuer entfacht – ein Signalfeuer, um nach der Hilfe ihrer Verbündeten zu rufen. Und tatsächlich wurden die Rhuner nicht nur von Tendor verstärkt: Auch aus dem Westen kamen ihnen über fünfzig Schiffe zur Hilfe, die der Schlacht eine entscheidende Wendung gaben.
Als der Tag zur Neige ging, war kein einziges Schiff der Feinde mehr über Wasser. Alle ihre Überlebenden wurden von den Rhunern gefangengenommen und, ebenso wie später ihre Nachkommen, zu streng bewachter Arbeit in den rhunischen Erzminen gezwungen. Auf dem Gipfel der Insel errichteten die Rhuner als Zeichen ihrer Macht und als Warnung für alle Feinde einen gewaltigen Leuchtturm aus dem neuen Stein von Tendors Inseln. In der Spitze des Turms entfachten sie ein „ewiges Feuer“, das solange brennen sollte, wie das rhunische Reich existierte – und eben das tat es auch, obwohl die Rhuner die tatsächliche Art ihres Untergangs damals nie in Erwägung gezogen hätten.
Was Tendor angeht, so ist seine Geschichte noch nicht zuende. Er nahm sich eine Frau von den Steininseln, die ihm viele der alten Legenden ihres Volkes erzählte – nicht wenige davon von fernen Ländern, die noch nie ein Korianer oder Inselbewohner gesehen hatte und die von magischen Wesen und Geistern bewohnt wurden. Tendor unternahm in den folgenden Jahren mehr Schiffsreisen denn je und entfernte sich dabei auch weiter als zuvor von seiner Heimat. Er entdeckte viele neue Inseln, wie die Kazhaden, die Salzbänke, die den Rhunern später einen großen Vorteil im Handel mit anderen Inseln verschafften, oder die kalten Eislande, die sich fernab im Süden erstrecken. Doch eines Tages kehrte Tendor von einer längeren Reise nach Osten nicht zurück. Viele Jahre lang hielt man ihn für tot, bis er plötzlich mit einem einzelnen, halb zerstörten Schiff die Küste der Insel Rhun ansteuerte.
Tendor sprach mit niemandem ein Wort, sondern traf sich sofort mit dem König, um viele Stunden lang mit ihm zu sprechen. Danach erholte er sich von der Reise und lebte weiter wie zuvor, allerdings blieb er für lange Zeit an Land und weder er noch einer seiner Seeleute erzählte jemals etwas von ihrer Reise.
Tendor wurde mit der Zeit schweigsam und verbrachte viele Stunden damit, still dass Meer zu betrachten. Nach beinahe zwei Jahren schließlich konnte er das Landleben wohl nicht mehr ertragen, denn er machte sich, obwohl ihm dort anscheinend Gefahr drohte, auf zu einer weiteren Seereise nach Osten. Bevor er aufbrach, verabschiedete er sich von seiner Familie mit den Worten: „Mein Schicksal zieht mich fort. Ich weiß nicht, ob ich zurückkehren werde, darum bitte ich euch: Gedenkt mir und lasst meine Kunde übers Meer gehen, wie die Möwen rastlos von Insel zu Insel fliegen.“
Und tatsächlich kehrte Tendor niemals von der Reise zurück. Seine Geschichte aber blieb in der Erinnerung der Rhuner, und noch heute wird er als einer der größten Helden unseres Volkes verehrt.“
„Aber was hat er bei seiner vorletzten Reise entdeckt?“, fragte Yai´ro begierig. „Was war so wichtig, dass niemand darüber sprach?“
Paryn zuckte mit den Achseln. „Das weiß niemand, denn auch der damalige König nahm das Geheimnis mit ins Grab. Aber kurz nach Tendors Verschwinden soll ein Gerücht umgegangen sein, welches besagte, dass die alten Legenden Recht hatten und mindestens noch ein zweiter Kontinent existierte. Dieser wurde anscheinend von so mächtigen Wesen bewohnt, dass selbst der König der Rhuner Auseinandersetzungen mit ihnen auf jeden Fall vermeiden wollte und deshalb Stillschweigen über die Sache bewahrte. Bis heute wäre der Vorfall längst vergessen, wenn er nicht einer der wichtigsten Teile von Tendors Geschichte wäre.“
Paryn warf einen kurzen Blick zur Sonne, die sich bereits dem Horizont zuneigte. Keshyn war noch nicht zurückgekehrt, aber es machte sich auch niemand Sorgen, da sie alle auf den alten Mann vertrauten.
„Ich denke, dass Tendor ein neues Land entdeckt hat, aber nicht unbedingt einen Kontinent“, fuhr Paryn fort. „Auch das Land Celia liegt in einer anderen Welt, also gibt es vielleicht auch eine, in der Geister leben.“
Yai´ro nickte bloß, aber ohne es auszusprechen stimmte er seinem Onkel zu. Immerhin hatte er selbst auch erst vor Kurzem von einer anderen Welt gehört…
Der junge Rhuner wollte eben noch eine weitere Frage stellen, als er Reknon Lit etwas rufen hörte. Neugierig geworden stand er auf und ging gemeinsam mit Selena zum Lagerplatz. Sie kamen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Keshyn eintraf und von seinem Pferd stieg. Der alte Mann hatte sein Versrechen, vor Sonnenuntergang zurück zu sein, nur sehr knapp erfüllt, denn der Himmel war bis auf einen rötlichen Lichtschimmer im Osten bereits vollkommen in das nächtliche Schwarz gehüllt.
„Keshyn!“, rief Yai´ro. „Was habt Ihr herausgefunden – ist der Pass frei?“
Der alte Mann wandte sich ihm zu und nickte, wobei man ihm sowohl seine gute Laune als auch seine Erschöpfung deutlich ansehen konnte.
„Den Pass zu überqueren dürfte kein Problem sein“, meinte er, als Yai´ro näher herangekommen war. „Der Schnee ist dort anscheinend schon vor einem Monat geschmolzen, also könnten wir das Gebirge mit etwas Glück schon morgen hinter uns haben.“
Keshyn wandte sich wieder zu Reknon Lit, um noch einige Worte auf Faanländisch mit ihm zu wechseln, dann bemerkte er Paryn und stürmte mit den guten Neuigkeiten auf diesen ein.

Nach wenigen Minuten war die Sonne untergegangen und sie entfachten ein Feuer. Keshyn beschloss, den Magieunterricht auf den nächsten Tag zu verschieben, denn er selbst war ebenso wie Yai´ro müde und sie mussten früh aufbrechen, um den Pass an einem einzigen Tag überqueren zu können. So legten sie sich nach einem kurzen Nachtmahl schlafen, wobei sie sich eng ums Feuer drängten, denn die Nächte wurden kälter, umso näher sie dem Gebirge kamen.
Yai´ro bemerkte plötzlich, wie jemand nah an ihn heranrückte und sich von hinter an ihn schmiegte. Im ersten Moment wollte er erschrocken herumfahren, doch dann sah er, dass es bloß Selena war. Einen weiteren Augenblick lang wusste er nicht, was er tun sollte, drehte sich dann aber zu der Elbin um und nahm sie in die Arme. So schliefen sie ein, in einer zärtlichen Umarmung, und wachten ebenso am nächsten Morgen auf.

8. Szene: Das Gebirge

Keshyn weckte den Rest der Gruppe knapp vor Sonnenaufgang. Sie hatten gerade noch Zeit ein paar Bissen zu essen, bevor sie die Pferde sattelten und nach Norden losritten, direkt auf den verschwommen sichtbaren Schemen der Gebirgskette zu.
Yai´ro, der erst unterwegs wirklich aufwachte, hatte das Gefühl, bis zum Beginn des Passes kaum mehr als eine halbe Stunde zu brauchen. Und seltsamerweise er hatte beinahe Recht – denn der wirklich beschwerliche Weg lag noch vor ihnen.
Der Pfad begann in einem dichten, anfangs eher flachen Nadelwald, der sich über einen Großteil der Flanke des Berges zog. Nach etwas vier bis fünf Meilen führte er in freies, felsiges Gelände, was sowohl einen Vor- als auch einen Nachteil hatte: Zum einen war der Weg nun gerader, da er an der Seite des Berges entlang führte, anstatt sich durch den Wald zu schlängeln; andererseits aber hatten sie den Schutz der Bäume verlassen und waren damit den extremen Temperaturen des Berges ausgesetzt. Obwohl die Sonne auf ihrer Haut brannte, drang eine unerbittliche Kälte durch ihre Kleider und machte es zusammen mit der verbleibenden Müdigkeit schwer, sich aufs Reiten zu konzentrieren. An einigen Stellen mussten sie sogar absteigen und die Pferde führen, weil der Weg versperrt oder der Pfad gefährlich eng war.
Trotz allem hielten sie erst zu Mittag an, um Rast zu machen. Yai´ro ließ sich erschöpft von seinem Pferd fallen, und er war nicht der Einzige – jedem von ihnen stand die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. Auch Keshyn sank müde zu Boden und begann mit langsamen Bewegungen, die Vorräte auszupacken.
Sie hatten ein kleines, von einem Felsvorsprung überschattetes Plateau erreicht, das eng mit Gebüsch und hüfthohen Gebirgsbäumen bewachsen war. Von seinem Rand aus hatte man Ausblick auf den gegenüberliegenden Berg und ein weiteres Stück des Pfades; allerdings wagte es niemand von ihnen, sich diesem Rand zu nähern – denn er fiel steil einige hundert Meter in die Tiefe ab, bevor er im Schatten einer schwarzen Schlucht verschwand.
So hielten sie sich möglichst nah beim Felsen, während sie aßen, tranken und sich anschließend noch einige Minuten lang ausruhten. Doch Keshyn drängte schon viel zu bald wieder zum Aufbruch, und das nächste Stück des Weges war keineswegs leichter als das, welches sie schon zurückgelegt hatten – ganz im Gegenteil wurde der Pfad so eng, dass sie die Pferde beinahe nur noch am Zügel führen konnten.
Yai´ro wusste später nicht mehr, wie er es geschafft hatte, aber irgendwie marschierte er den ganzen Tag. Ohne auch nur ein Zeichen von Schwäche von sich zu geben. Irgendwann inmitten der endlosen Windungen des Pfades hörte er auf zu denken, bewegte nur noch seine Beine, stieg auf sein Pferd, wenn es die anderen taten, und stieg ab, wenn sie es taten.
Der Weg führte höher hinauf und dann in westlicher Richtung über einen knapp zehn Meter breiten Gebirgssattel, dessen Hänge auf beiden Seiten steil abfielen und in unwirtsamen Geröllfeldern endeten. Zur Linken, und in Luftlinie kaum zweihundert Meter von ihnen entfernt, ragte der Gipfel des Berges auf, an dessen Ostseite sie am Mittag gelagert hatten.
Nach einigen weiteren Meilen neigte sich der Sattel leicht abwärts und vereinigte sich schließlich übergangslos mit der Flanke eines anderen Bergmassivs, welches von Nordwesten an das grenzte, von dem sie aufgebrochen waren.
Inzwischen war der Nachmittag bereits fortgeschritten, und sie legten nur eine kurze Pause ein, bevor sie sich an den Abstieg machten. Der Weg schlängelte sich nun durch Geröllfelder; an beiden Seiten wurde er von Felsen der unterschiedlichsten Art gesäumt – von Schotter über flache Felsplatten bis hin zu aufrechtstehenden Steinblöcken, die wie Messerspitzen gen Himmel ragten hatte die Natur in dieser Gegend wohl alles hervorgebracht, was man sich nur vorstellen konnte. Schließlich setzte wieder ein dichter Nadelwald ein, der am Berghang begann und sich einige Kilometer weit über die Ebene nördlich von diesem ausstreckte.
Keshyn beschloss, dass es besser war die Nacht unter den Bäumen zu verbringen, als den restlichen Nachmittag weiterzulaufen. Deshalb schlugen sie in Ruhe ein Lager auf, entfachten ein Feuer und entspannten sich von den Strapazen des Tages. Nachdem sie alle gegessen und getrunken hatten, fragte Keshyn Yai´ro, ob er den Magieunterricht jetzt fortsetzen wollte. Der junge Rhuner war sich zwar nicht sicher, ob er sich noch an alles bisher Gelernte erinnern konnte, willigte aber trotzdem ein. Ihn faszinierte die Magie schon, seit er sie damals in der Steppe das erste Mal angewendet hatte, und er hätte wohl jede Gelegenheit genutzt, um es wieder tun zu können.
Keshyn begann das Training mit einigen kurzen Konzentrationsübungen. Sie gingen dazu ein Stück weit unter die Bäume, bis man sie von Lager aus nicht mehr sehen konnte, sie dieses aber noch gut im Blick hatten. Dann streckte Yai´ro im Knien, denn diese Haltung war laut Keshyn am besten zur Konzentration geeignet, die Arme aus und versuchte, alle Energie in seinem Körper in den Fingerspitzen zu bündeln. Sobald diese begannen, sich heiß anzufühlen, ließ er die angesammelte Kraft wieder in den Körper zurückfließen und sich dort verteilen.
Schließlich begann Keshyn mit der ersten richtigen Übung: Yai´ro sollte ein trockenes Blatt allein durch magische Kraft zum Brennen bringen.
„Am besten geht es, wenn du dir die Flamme bis ins letzte Detail vorstellst“, meinte Keshyn, während er den Zauber selbst vorführte. „Du musst das Feuer nicht nur sehen, sondern auch spüren! Je realer es dir erscheint, desto leichter ist es, selbst eine Flamme zu entfachen.“
Yai´ro antwortete mit einem kurzen „Gut“, obwohl er nicht wusste, ob er der Aufgabe gewachsen war. In den bisherigen vier Unterrichtsstunden hatte er beinahe jede Übung erfolgreich durchgeführt, aber die letzte davon war bereits fünf Tage her – und das konnte für einen Anfänger wie ihn einiges bedeuten.
Dennoch nahm er das Blatt und legte es vor sich auf eine Stelle mit blanker Erde. Dann berührte er es mit zwei Fingern, schloss die Augen und begann sich zu konzentrieren.
Spüre das Feuer…
Wie Keshyn ihm geraten hatte, versuchte Yai´ro sich die Flammen ganz genau vorzustellen. Die Hitze, das Knistern der Geruch nach Rauch…
Er fühlte, wie es unter seinen Fingern heiß wurde. Angespornt dadurch benutzte er noch mehr Energie, stellte sich vor, wie Flammen in die Höhe schossen…
„Ah!
Erschrocken zog er die Hand zurück und riss die Augen auf – gerade noch rechtzeitig, um eine grelle Stichflamme vom Boden einen Meter hoch in die Luft zucken zu sehen. Keshyn war mit einem Sprung bei ihm und erstickte das Feuer mit einer raschen Handbewegung.
„Gar nicht schlecht“, meinte er mit einem Lächeln. „Nur musst du deine Kraft etwas dosierter einsetzen. Wenn du so weitermachst, hast du nach dem zweiten Zauber keine Kraft mehr.
Und außerdem“, fügte er mit einer Kopfbewegung in Richtung des Blattes hinzu, das zwar an manchen Stellen leicht angesengt, sonst aber noch vollkommen heil war, „verbrennst du so alles, nur dein eigentliches Ziel nicht!“
Nach dem ersten Schrecken musste Yai´ro ebenfalls grinsen. Dann fasste er sich wieder, fragte, ob er es noch einmal versuchen konnte, und nahm wieder seine ursprüngliche Stellung über dem Blatt ein. Wie beim ersten Mal begann er sich zu konzentrieren und sich das Feuer vorzustellen, bemühte sich aber auch, nicht seine ganze Kraft auf den Zauber zu verwenden. Nach einigen Sekunden wurde das Blatt abermals heiß und der Rhuner spreizte die Finger, um eine aufkeimende Flamme nicht sofort zu ersticken. Wie in einer Trance stellte er sich die Flamme noch intensiver vor – er glaubte zu sehen, wie das Blatt in einer flackernden Flamme zerfiel, die dünne Rauchspur, die von dieser aufstieg, zu riechen...
Die Hitze wurde stärker, bis sie zu schmerzen begann, aber Yai´ro zog die Hand nicht zurück. Stattdessen öffnete er langsam die Augen und warf einen Blick auf den Boden – zwischen seinen Fingern war eine kleine, züngelnde Flamme entstanden, die langsam begann, sich auszubreiten und das Blatt zu verzehren. Vor Erstaunen verlor er beinahe die Konzentration, fasste sich aber gerade noch und konnte das Flämmchen so lange am Leben erhalten, bis es stark genug war, selbst weiterzubrennen. Dann zog er behutsam die Hand zurück und beobachtete, wie das Blatt nach und nach vom Feuer aufgezehrt wurde.
„Siehst du?“, sagte Keshyn hinter ihm. „Wenn du deine Kraft kontrolliert einsetzt, kannst du damit viel mehr erreichen. Nicht nur dass der Aufwand geringer ist, so kannst du die Magie auch präziser benutzen. Und dadurch ergeben sich sehr viel mehr Möglichkeiten, wie man Zauber anwenden kann.“
„Verstehe“, sagte Yai´ro. Obwohl ihn die zweite Flamme wesentlich weniger Kraft gekostet hatte als die erste, fühlte er sich vollkommen erschöpft. „Aber ich glaube kaum, dass ich das auf der Stelle noch einmal schaffe. Könnten wir vielleicht für heute mit dem Magietraining aufhören?“
„Ganz wie du willst.“ Zu Yai´ros Verwunderung klang der alte Mann überhaupt nicht enttäuscht, sondern im Gegenteil eher verständnisvoll. „Setzen wir den Unterricht dann morgen fort?“
Der Rhuner bejahte und sie kehrten zum Lagerplatz zurück.
Inzwischen wurde es bereits dunkel, nur ein schwacher Lichtschimmer drang noch durch das Blätterdach. Yai´ro setzte sich zu den anderen ans Feuer, wurde aber schon bald müde und wollte sich schlafen legen. Zuvor ging er aber noch zu seinem Gepäck, um den Verband an seiner linken Hand zu lösen – während des Tages hatte ihn die alte Wunde immer wieder geschmerzt und er wollte wissen, warum.
Langsam zog er die Bandagen von seiner Hand. Die unteren davon waren mit getrocknetem Blut durchtränkt, und das letzte Stück Stoff klebte in der Wunde, über der sich in der Nacht eine leichte Blutkruste gebildet hatte.
Yai´ro brauchte einige Minuten, bis er den Verband aus der aufgequollenen Verletzung gelöst hatte und riss dabei leider einen großen Teil von dieser wieder auf. Dann wusch er die Wunde langsam und vorsichtig aus, denn die Hand brannte bei jeder Berührung mit dem Wasser. Aber trotzdem hatte sich der Zustand der Verletzung eindeutig gebessert: Seit ihrer Abreise aus der Hauptstadt hatte sich keine Spur von Eiter mehr darin gefunden und auch die Schmerzen hatten zum Hauptteil aufgehört. Nur wenn er die Hand benutzen wollte, schmerzte sie noch, deshalb tat er das auch meist nicht, sondern erledigte alles – wie er es inzwischen schon gewohnt war – mit der rechten Hand.
Yai´ro bestrich die offene Wunde mit einer Salbe, die ihm der Palastheiler mitgegeben hatte, und verband sie anschließend wieder.
Wenn er Glück hatte, verheilte die Verletzung noch, bevor er Faanland verließ.

Am nächsten Morgen ließ Keshyn sie zum ersten Mal seit Tagen ausschlafen. Erst am späten Vormittag machten sie sich fertig und brachen auf, dafür ritten sie den ganzen Tag mit nur gelegentlichen, kurzen Pausen.
Anfangs kamen sie wegen der Bäume nur langsam voran, doch gegen Nachmittag lichtete sich der Wald und blieb schließlich völlig hinter ihnen zurück. Sie befanden sich nun wieder auf derselben Ebene, die sie beim Überqueren des Gebirges verlassen hatten. Aber anscheinend hatte sich einiges an ihr verändert: Es war deutlich kühler als an der Südseite der Berge, und auch die Vegetation war spärlicher geworden. Anstatt der zwar verstreuten, aber vielfältigen Baumgruppen sah man nur hier und da eintönige Nadelwäldchen. Laut Keshyn waren dies die letzten Überbleibsel eines Ausläufers des Waldes, der sich vor langer, langer Zeit bis in den Norden Faanlands erstreckt hatte. Die Nadelbäume hatten sich in der großen Eiszeit stark ausgebreitet und bis heute überstanden, obwohl sie durch die steigenden Temperaturen in den Norden zurückgedrängt worden waren. An ihrer Stelle hatten sich an der Südküste weniger hitzeempfindliche Bäume und Pflanzen aus Korien angesiedelt.
Yai´ro ließ den Blick herumschweifen und bemerkte weit entfernt zur Rechten etwas, das er von der Hauptstadt aus nur als schwaches Glitzern am Horizont wahrgenommen hatte: Einen riesigen, mindestens dreißig Meilen langen See, der auf der gleichen Höhe wie das östliche Ende des Gebirges begann und sich von dort aus nach Norden zog. Im Sonnenschein schien die Wasseroberfläche zu strahlen, sodass der Rhuner deutlich die dunkleren Siedlungen an ihrem Rand ausmachen konnte. Von diesen zogen sich an mehreren Stellen lange Stege bis zur Mitte des Sees, wo sie sich zu einer schwimmenden, hölzernen Plattform vereinigten. Yai´ro war sich nicht sicher, aber er glaubte darauf Gebäude zu sehen – am Rand der Konstruktion nur sehr kleine und flache, in der Mitte aber auch mehrstöckige – und im Wasser lagen Boote, geschützt durch halbkreisförmige Einbuchtungen in der Plattform. Yai´ro kniff die Augen zusammen und versuchte noch mehr zu erkennen, aber die Siedlungen waren einfach zu weit entfernt. Nach einer Weile gab er es auf und konzentrierte sich wieder auf den Weg.
Vor ihnen lag ein ebenes, eher schwach besiedeltes Gebiet, das von Süden und Westen vom Gebirge begrenzt wurde; im Osten zog es sich bis zu ebenjenem See hin und vor ihnen streckte er sich völlig flach aus, bis es knapp vor der Küste von einer wallartigen Hügelkette unterbrochen wurde.
Den restlichen Nachmittag ritten sie noch weiter, als das Licht jedoch schwächer wurde hielten sie an und machten sich für die Nacht bereit. Weiterzureisen wäre nicht möglich gewesen, denn die Nächte waren nördlich des Gebirges so eisig, dass die Kälte selbst durch den dicksten Mantel drang.
Auf der Suche nach einem Lagerplatz, an dem sie vor Wind und Temperatur geschützt waren, fanden sie schließlich ein kleines, dichtes Nadelwäldchen, in dessen Schutz sie sich eng nebeneinander in ihre Mäntel und Decken rollten und einschliefen. Auf ein Feuer verzichteten sie, denn bei den dicht stehenden Bäumen konnte man eine Flamme kaum gefahrlos entfachen.
Yai´ro konnte anfangs nicht schlafen, deshalb unterhielt er sich noch eine Weile mit Selena, die sich gleich neben ihm niedergelegt hatte. Sie redeten zuerst über die Reise und die Ereignisse der letzten Tage, dann kam der junge Rhuner auf die bevorstehende Schiffsreise und schließlich auch auf das Reich der Elben zu sprechen. Es war zwar noch nicht klar, ob dieses eine Station auf ihrer Reise sein würde; aber immerhin war es Keshyns Ziel – und wenn er schon die Gelegenheit hatte, etwas darüber zu erfahren, dann wollte er sie auch nutzen. Insgeheim wunderte er sich sogar, warum er noch nie mit Selena über ihre alte Heimat gesprochen hatte.
„Wie ist es eigentlich bei den Elben?“, fragte er, mit dem rechten Arm am Boden abgestützt und Selena halb zugewandt. „Ich weiß kaum etwas über dein Volk. Wie lebt es im Wald? Und was machte es früher?“
„Was sie heute machen, kann ich dir nicht sagen, denn ich war schon sehr lange Zeit nicht mehr im Elbenreich. Aber früher…“ Selena hatte die Hände hinter ihrem Kopf gefaltet und den Blick gen Himmel gerichtet. Zwischen den dicht gewachsenen Zweigen konnte man die Sterne wunderbar klar sehen, und wären die Bäume nicht im Weg gewesen, so hätte sich ihnen wahrscheinlich auch die soeben aufgehende, schwach schimmernde Sichel des Mondes gezeigt. „Früher waren auch die Elben bedeutend“, fuhr Selena fort. „Du würdest es nicht glauben, was für eine wichtige Rolle sie in der Geschichte Koriens gespielt haben!“
Yai´ro lächelte. „Die Elben sind doch genauso wie Manschen und Rhuner ein Herrenvolk. Also warum sollte ich glauben, dass sie weniger bedeutend sind?“
„Na ja…“, meinte Selena, „wusstest du zum Beispiel, dass Manta vor langer Zeit die Stadt der Hochelben war?“
Yai´ro sah auf. „Manta?“ Seine Heimat hatte früher dem Waldvolk gehört? Das klang so unglaubwürdig, dass er beinahe gelacht hätte.
„Ja, Manta!“, erwiderte Selena ebenfalls lächelnd. „Der Ort, an dem du aufgewachsen bist! Die Elben haben diese Stadt um das Jahr 2100 erbaut und zu ihrer Hauptstadt gemacht. Sie lebten über sechshundert Jahre dort. Während dieser Zeit wuchs Manta und wurde zu einer riesigen Stadt – den Berichten zufolge lebten in ihr beinahe so viele Elben wie heute Angehörige aller Rassen. Es wird auch berichtet, dass zu dieser Zeit eine Kultur entstand, die dem barbarischen Leben der anderen Völker weit überlegen war. Da die Rhuner schon damals an der Küste gefangen waren und die Menschen Faanland nicht verließen, waren die Elben somit die wichtigste und wahrscheinlich auch größte Macht in Korien. Sie widmeten sich der Wissenschaft und Technik, wodurch die vielen wussten und konnten, was uns heute ein Geheimnis ist. Doch alles, was groß ist, vergeht auch wieder…
Vor beinahe tausend Jahren wurde Manta angegriffen. Schier unendliche Horden von Wilden drangen aus den Hügellanden und stürmten die Stadt. Die Elben konnten sich nur für kurze Zeit verteidigen; als sie sahen, dass die Lage aussichtslos war, flüchteten sie aus ihrer Heimat und überließen diese dem Feind. Nach einer Erzählung brachen sie durch die Reihen der Wilden, ohne auch nur den geringsten Verlust zu erleiden und zogen sich nach Süden zurück, zu einem geheimen Lager in der Wüste, welches die Verfolger nicht fanden und in der Hitze verdursteten.
Inzwischen drangen die Wilden in Manta ein, plünderte dieses und ließ sich schließlich dort nieder. Immer mehr Angehörige verschiedener Völker kamen in die einstige Stadt der Hochelben, vermischten sich dort und gründeten dadurch Manta, wie du es heute kennst – erbaut auf den Trümmern des alten Reiches. Aber dennoch verschwand die elbische Kultur nicht völlig, denn vieles, das nicht gleich zu Beginn zerstört wurde, übernahmen die neuen Bewohner. Diese Dinge sind vielleicht sogar die Grundlage der Zivilisation, die mit der Zeit in Manta entstand und sich von dort ausbreitete – sie leiteten das Ende des Chaos ein, das nach den rhunischen Krieges für lange Zeit in Korien geherrscht hatte. Manta wuchs und entwickelte sich und wurde schließlich zu dem, als was du es heute kennst – zur mit Abstand größten Stadt Koriens, die gewaltigen Einfluss auf den gesamten Osten des Kontinents hat.
Aber zurück zu den Elben: Diese verteilten sich nach dem Einfall der Wilden über das Land – das Königsgeschlecht und mit diesem der Hauptteil des Volkes baute ein neues Reich in den Wäldern westlich des großen Flusses auf, aber beinahe ebenso viele ließen sich im Gebirge oder an der Ostküste nieder. Seit damals hat kaum ein Elb diese Verstecke verlassen, weshalb auch so wenig über sie bekannt ist. Nur noch alte Legenden berichten von ihnen, ebenso wie von den anderen Herrenrassen, die sich ebenfalls aus Korien zurückgezogen haben – keine von ihnen hatte dort viel Glück. Heute besiedeln nur noch die niederen Völker den Kontinent.“
Selena war einige Sekunden lang still. Ohne zu sprechen blickten sie beide zu den Sternen hinauf und ließen ihre Gedanken einfach schweifen, fernab von den Problemen der Welt. Schließlich war es Yai´ro, der als erster wieder die Lippen öffnete.
„Wie war es, als du bei den Elben gelebt hast?“, knüpfte er an das ursprüngliche Thema an. „Wie leben sie, und was tun sie?“
Selena lächelte verträumt. „Viele wohnen in Bäumhäusern, hoch oben, im Blätterdach des Waldes. Andere in Hütten und Häusern am Boden, und manche sogar in den wunderschönen Höhlen, die sich durch die Jahrtausende unter der Erde gebildet haben. Aber nur die hohen Fürsten leben in den Palästen aus Holz, auf die die Elben so stolz sind – wachsende Wohnstätten, aus lebenden Bäumen gebildet. Diese Kunstwerke solltest du sehen…“ Selenas Augen glänzten. „Natürlich haben die Elben auch Städte in den Wäldern, wie Iaras, die oft als Zwillingsschwester des alten Manta bezeichnet wird, oder die Hauptstadt Nintior, im Korianischen „Lichtblüte“ genannt. Aber die Paläste sind einfach das Schönste! Wie das Königsschloss – wenn du es gesehen hast, kommt es dir danach wie ein Traum vor, so prächtig ist sein Anblick!“
„Vielleicht werde ich es ja sehen!“, unterbrach sie Yai´ro.
Die Elbin lächelte. „Das wirst du leider nie. Seit die Stadt erbaut wurde, hat sie kein Fremder betreten; und ich glaube kaum, dass der König für uns eine Ausnahme machen würde. Mein Volk hat einfach zuviel Angst, dass seine Schätze wie damals in Manta geraubt und zerstört werden, obwohl das inzwischen ein ganzes Jahrtausend her ist. Heute führen der Orden und die Fabrik den einzigen Krieg in Korien und niemand würde es wagen oder auch nur auf die Idee kommen, die Elben anzugreifen, aber dennoch sind unsere Städte an unbekannten Orten tief in den Wäldern versteckt.“ Selena versuchte im Liegen ein Achselzucken, was ihr, die Hände immer noch hinterm Kopf verschränkt, aber nur andeutungsweise gelang. „Wahrscheinlich liegt das am unterschiedlich schnellen Altern der Völker. Ich meine, bei den Elben gibt es nicht wenige, die über tausend Jahre alt werden; für die niederen Völker ist es aber ein gewaltiger, sich über viele Generationen erstreckender Zeitraum, in dem sich extrem viel verändert. So gut wie alles, um genau zu sein.“
„Dann ist es kein wunder, dass die Herrenvölker nie Kontakt mit einer der niederen Rassen hatten“, meinte Yai´ro. „Sie würden einander einfach nicht verstehen!“
Die Elbin nickte. Abermals blickten sie beide stummschweigend zum Himmel empor, dachten nach und wurden zusehends müder. Als der Rhuner die Augen kaum noch offen halten konnte, drehte er sich zu Selena und schlang sanft die Arme um sie.
„Ich freue mich trotzdem auf das Elbenreich!“, flüstere er ihr ins Ohr. „Auch wenn ich eure Städte nicht sehen kann.“
Selenas Lippen formten ein schwaches Lächeln, dann schmiegte sie sich an ihn und schloss die Augen. Einen Moment später war sie bereits eingeschlafen.

„Yai´ro! Steh auf!“
Die Stimme drang in die Gedanken des Rhuners und riss ihn aus seinen Träumen. Mühsam hob er die schweren Lider, blinzelte verschlafen und sah sich um – Keshyn stand gebückt über ihm, mit den Armen die dichten Zweige des Baumes, unter dem Yai´ro lag, beiseiteschiebend. Selena war anscheinend schon aufgestanden. Sie konnte aber noch nicht lange weg sein, denn er fühlte noch ihre Körperwärme an den Stellen, an denen sie sich berührt hatten.
„Wie spät ist es?“, fragte er und setzte sich langsam auf.
„Die zweite Stunde nach Sonnenaufgang.“ Keshyn warf einen Blick zu den anderen, die unweit von ihnen beisammensaßen und eilig frühstückten. „Wir sollten schon längst unterwegs sein. Beeil dich besser!“
Yai´ro überwand sich und stand auf. Einen Moment lang torkelte er vor Müdigkeit; er musste die Augen schließen und sich an einem Ast festklammern, bis er wieder stehen konnte. Offensichtlich hätte er am letzten Abend doch schon früher schlafen sollen – bei der dauernden Anstrengung durch die Reise brauchte er mehr Ruhe als gewöhnlich. Viel mehr.
Mit schmerzenden Gliedern machte er sich auf den Weg zu den anderen, um zumindest noch ein bisschen etwas essen zu können. Heute würde er jede Minute ausnutzen, in der er schlafen konnte. Aber trotzdem … er bereute es nicht im Geringsten, dass er so lange mit Selena gesprochen hatte.
Yai´ro konnte ein Grinsen nur mühsam zurückhalten: Er würde jederzeit wieder seinen Schlaf dafür opfern.

Die zwei darauffolgenden Tage verliefen relativ ereignislos. Sie ritten mit nur wenigen, kurzen Pausen, weil es nun galt, die Hafenstadt noch zu erreichen, bevor ihr Schiff auslief. Am ersten Tag machten sie zur allgemeinen Erleichterung noch vor der Abenddämmerung Halt, was Paryn und Selena ausnutzten, um sich einmal richtig auszuschlafen. Yai´ro dagegen blieb noch auf, weil er mit Keshyn eine weitere Trainingsstunde einlegte – und diese war mindestens ebenso anstrengend, als wäre er ohne Pause bis in die Nacht hinein weitergeritten. Er übte diesmal, die Luft in Bewegung zu setzen und Windstöße auszulösen. Als er diese Techniken bereits besser beherrschte, zeigte Keshyn ihm, wie man andere Objekte nach dem eigenen Willen bewegte, sie schweben ließ oder in sich veränderte. Was bei der Luft noch ziemlich einfach war, konnte sehr schnell schwieriger werden, wenn man einzelne Wassertropfen schweben lassen oder Zweige mit Magie zerbrechen musste. Yai´ro verstand diese Zauber nur ansatzweise, als sie den Unterricht beendeten und er sich endlich schlafen legte. Zwar sagte Keshyn, dass dieser Teil der Magie für Anfänger immer schwer zu erlernen sei und nicht einmal er selbst alles darüber wusste, aber dennoch fragte sich der Rhuner, ob er jemals solche magischen Fähigkeiten wie der alte Mann oder wie Selena erlernen würde. Denn auch wenn er die Begabung dafür hatte, mangelte es ihm an Selbstvertrauen. Es war einfach etwas anderes, Dinge durch Gedanken zu bewegen als zum Beispiel mit einem Schwert zu kämpfen. Und genau das war sein Problem: Er war es gewohnt etwas zu tun, anstatt lange darüber nachzudenken.
Am nächsten Tag geschah bainahe noch weniger als am soeben vergangenen; aber Yai´ro, der sich vor Erschöpfung kaum mehr auf seinem Pferd halten konnte, war das nur recht. Zumindest musste er so nichts tun als die Zügel zu halten und das Tier ab und zu anzutreiben, denn normalerweise folgte es den anderen sowieso von alleine.
Gegen Abend kamen sie der Hügelkette im Norden immer näher, und schließlich machte sich endlich die ganze Anstrengung der Reise bezahlt: Kurz vor Sonnenuntergang sahen sie zum ersten Mal Rintiria, die Hafenstadt.
Sie waren etwa zwei Stunden lang einem Weg gefolgt, der durch die Täler zwischen mehreren Hügeln und felsigen Erhebungen führte. Als die Sonne bereits mit dem westlichen Horizont verschmolz, hatten sie ein kleines Plateau erreicht, dessen nördlicher Hang flach zur Küste und den Häfen hin abfiel. Der Anblick der letzteren war überwältigend. Yai´ro vergaß seine Müdigkeit und ließ sein Pferd bis zum Rand der Kuppe laufen, um einen besseren Ausblick zu haben.
Rintiria war nicht nur eine Hafen, es war eine Metropole. Eng an die Küste geschmiegt, erstreckte es sich über eine Strecke von mindestens acht Meilen – deutlich mehr Platz, als die Hauptstadt einnahm. Jeder Fleck Boden, der direkt ans Wasser grenzte, war bebaut mit Stegen, Werften oder Docks; weiter im Landesinneren standen Wohnhäuser der unterschiedlichsten Baustile – offensichtlich hatten sich hier Leute aus verschiedensten Teilen Faanlands vermischt. Ihnen am nächsten, am Fuß der Hügelkette, befanden sich die Anwesen der Reichen sowie der Palast des Stadthalters. Dieser war ein Nichts im Vergleich zum Königspalast in der Hauptstadt, aber dennoch auf seine Weise beeindruckend: Er schien aus einer sehr alten Zeit zu stammen, in der der Norden noch deutlich wärmer gewesen war.
Das Licht der untergehenden Sonne verlieh der ganzen Stadt noch dazu einen Glanz, der sie auf eine gewisse Weise fantastisch wirken ließ; sie sah aus wie ein wunderschöner Ort aus einem Märchen. Und das lag gar nicht einmal so fern: Für die Rhuner war ein Schiff aus diesen Häfen der Schlüssel zur Erfüllung ihres märchenhaften Traumes von der Freiheit. Yai´ro hob den Kopf und ließ den Blick über das Meer nördlich der Stadt streifen – es war das erste Mal, dass er es mit eigenen Augen sah, und es kam ihm auf mehr als eine Weise unendlich vor. Nicht nur die glitzernde Wasserfläche schien niemals zu enden, sondern ebenso das damit verbundene Gefühl von Glück und Freiheit und der Gedanke, einfach alles tun zu können, was man wollte. Yai´ro musste an Tendors Geschichte denken und an den letzten Satz, den der Seefahrer zu den Rhunern gesagt hatte: „Gedenkt mir und lasst meine Kunde übers Meer gehen, wie die Möwen rastlos von Insel zu Insel fliegen.“
Wie die Möwen… Es musste wunderschön sein, über das Meer zu fliegen. Keine Sorgen zu kennen, einfach frei zu sein…
Paryn kam von hinten näher und brachte sein Pferd neben ihm zum Stehen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen machte sich sein Onkel ähnliche Gedanken wie er selbst; er sagte aber nichts, sondern lächelte Yai´ro nur an und bedeutete ihm, weiterzureiten.
Der junge Rhuner warf noch einmal einen Blick auf das Meer, das im Licht der letzten Sonnenstrahlen wie eine gewaltige Fläche von wogenden Lichtern strahlte; dann setzte er sein Pferd in Bewegung und schloss sich den anderen an, die den Häfen entgegenritten. Aber sowohl er als auch Paryn sahen in Wirklichkeit nicht Rintiria, sondern Rhun vor sich.

9. Szene: Verrat

Sie erreichten die Stadt erst nach Einbruch der Dunkelheit und brauchten noch einmal eine halbe Stunde, um durch die vielen verzweigten Straßen und Gassen bis zum eigentlichen Hafen zu finden. Keshyn führte sie schließlich zu einer Herberge, die in der Nähe des Wassers in einer ruhigen Seitenstraße lag.
Um nicht als solche erkannt zu werden, zogen sich die Rhuner beim Betreten des Hauses die Kapuzen ihrer Mäntel tief ins Gesicht. Auch Selena zeigte ihre elbische Abstammung nicht, bis sie allein in ihrem Zimmer waren – dadurch zogen sie zwar misstrauische Blicke des Wirtes auf sich, aber anscheinend war der kleine, dürre Faanländer es gewöhnt, keine Fragen zustellen. Er wurde sogar richtiggehend freundlich, als Keshyn ihn für die Übernachtung im Voraus bezahlte und ihm noch ein ansehnliches Trinkgeld versprach.
Yai´ro schlief in dieser Nacht so tief und fest wie schon lange nicht mehr. Er träumte nicht, und als er am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich viel weniger erschöpft als in den letzten Tagen.
Fröhlich schwang er sich aus dem Bett und ging, trotz allem noch etwas verschlafen, zum einzigen Fenster des Zimmers, um es zu öffnen und die frische Meerluft hereinzulassen. Eine kühle Brise wehte ihm entgegen, als er die Fensterflügel aufschwang und den Kopf hinausstreckte; sie strich sanft über die steinernen Dächer der Häuser und ließ die Blätter der wenigen Bäume, die sich in der Nähe des Hafens an den Strahlen der gleißenden Mittagssonne erfreuten, leicht flattern. Die Sonne... Yai´ro fuhr zusammen.
Es war Mittag.
Einen Moment lang war er zu erschrocken, um etwas zu tun, dann stieß er sich hastig vom Fenster ab und war mit zwei großen Schritten bei Paryns Bett.
„Wir haben verschlafen!“ Der junge Rhuner begann seinen einzigen Zimmergenossen zu rütteln. „Paryn, wach auf! Wir sollten schon lange fort sein!“
Langsam und verschlafen schlug der erwachsene Rhuner die Augen auf. Yai´ro versuchte ihm so schnell wie möglich zu erklären, dass sie den gesamten Vormittag verschlafen hatten; erreichte damit aber nur, dass sein müder Onkel verwirrt dreinschaute. Erst als Paryn ebenfalls einen Blick aus dem Fenster warf, wachte er richtig auf.
An diesem Vormittag hätten sie auf ihrem Schiff vorsprechen sollen, die Reisegenehmigung des Thronhüters vorzeigen und für die Schifffahrt bezahlen. Dass sie diesen Moment nun verpasst hatten, wäre ja nicht weiter schlimm gewesen – wenn nicht das Schiff bereits am nächsten Morgen abgelegt hätte.
Yai´ro schlüpfte so schnell wie möglich in seine schwarzen Ordenskleider und rannte zu Keshyns Zimmer, um nachzusehen, ob der alte Mann ebenfalls noch schlief oder schon losgegangen war, ohne sie mitzunehmen.
Leider musste er feststellen, dass die erstere Vermutung richtig war.
Als er an Keshyns Tür klopfte, kam keine Antwort. Nach einem kurzen Zögern beschloss der junge Rhuner, dass ihre Situation ernst genug war, um das Zimmer ungefragt zu betreten, öffnete die Tür und trat langsam ein.
Der Raum war klein und nur spärlich möbliert. Eine Wand wurde von einem alten, morschen Schrank eingenommen, eine andere bot Platz für ein einzelnes Fenster und ein leeres Wasserbecken daneben. Links von der Tür war eine waagrechte Holzplatte an der Wand angebracht, deren Sinn als behelfsmäßiger Tisch man allerdings nur an dem einzelnen Stuhl erkannte, der von Keshyn scheinbar unberührt vor ihr stand. Den meisten Platz im Zimmer nahm allerdings ein offenbar sehr altes Bett ein, das zwar mit frischem Leinen bespannt war, sonst aber aussah, als würde es innerhalb der nächsten Tage zusammenbrechen.
Und in diesem Bett lag Keshyn, immer noch schlafend. Obwohl der junge Rhuner wusste, dass sie in Eile waren, musste er sich bemühen, um ein Grinsen zurückzuhalten: Da lag ihr Führer, der Beauftragte des Thronhüters, und schlummerte friedlich in einem Klappergestell von einem Bett, während ihr Schiff davonfuhr. Na ja... zumindest wusste er jetzt, dass er nicht als einziger von der Reise erschöpft war.
Yai´ro atmete tief durch, um nicht doch noch zu grinsen, und trat vorsichtig näher an Keshyns Lager heran.
„Wir müssen aufbrechen!“, sprach er den alten Mann an. „Wir hätten schon lange beim Schiff sein sollen. Wacht auf, oder wir verpassen es noch!“
Keshyn murmelte etwas im Schlaf und drehte sich um, aber abgesehen davon reagierte er nicht. Der junge Rhuner musste ihn mehrmals ansprechen und schließlich sogar leicht an der Schulter rütteln, um ihn zu wecken. Im Gegensatz zu Paryn zuvor war er dann aber sofort hellwach und hatte auch die Situation schnell wieder im Griff: Nachdem Yai´ro auch Selena und Reknon Lit geweckt und er selbst sich angekleidet hatte, sprach er kurz mit dem Besitzer der Herberge, der ihm erklärte, dass sie ihre Zimmer tagsüber verlassen mussten. Also beschloss Keshyn, allein auf dem Schiff vorzusprechen, während Reknon Lit mit den Rhunern und der Elbin in einem Wirtshaus blieb.
„Ich hoffe nur, dass ich den Kapitän noch antreffe!“, sagte er, während sie gemeinsam das Haus verließen. „Normalerweise hat die Mannschaft eines Schiffes nämlich am Abend, bevor dieses ausläuft, frei und feiert bis in die Nacht hinein. Aber es ist ja erst Mittag, und wenn unser Schiff einen pflichtbewussten Kapitän hat, ist er sicher noch zugegen.“
Keshyn schloss die Tür der Herberge hinter sich und ließ den Blick über die beinahe menschenleere Gasse streifen.
„Es wäre alles viel einfacher, wenn wir früher losgegangen wären!“, meinte er seufzend; dann wandte er sich Paryn zu, der ebenso wie Yai´ro und Selena die Kapuze seines Mantels wieder aufgesetzt hatte. „Auch das Problem, wo ihr jetzt hingehen sollt, hätten wir nicht. Vormittags kann man in den Zimmern bleiben, und dass ihr es nun nicht könnt, ist sehr schlecht.“ Keshyn schüttelte den Kopf. „Rintiria ist anders als die Hauptstadt, müsst ihr wissen. Natürlich gelten hier dieselben Gesetze und die Leute müssen die Anordnungen des Thronhüters genauso Folge leisten, aber beides wird... manchmal etwas weniger streng eingehalten, als es andernorts üblich ist. Jedenfalls glaube ich nicht, dass die Leute sich friedlich verhalten, wenn sie zwei Rhuner auf der Straße sehen – völlig egal, was der Thronhüter dazu sagt.
Aber solange ihr eure Mäntel tragt, seid ihr ja zum Glück sicher!“, fügte er hinzu, als er sah, wie sich Yai´ro und Paryn einen beunruhigten Blick zuwarfen. „Reknon Lit wird euch in irgendein stilles Wirtshaus führen, in den meisten davon gibt es um diese Tageszeit sowieso nur wenig Gäste. Und in einer Stunde treffen wir uns wieder hier!“
Keshyn ging los, und alle anderen folgten ihm bis zu der Stelle, an der die enge Gasse sich mit der Hauptstraße der Stadt kreuzte. Dort blieb der alte Mann noch einmal stehen und gab Reknon Lit einige kurze Anweisungen; dann wandte er sich noch einmal an Yai´ro, Paryn und Selena.
Ich denke, es wird alles gut gehen“, meinte er mit einem aufmunternden Lächeln. „Die Sache mit dem Schiff werde ich schon regeln, und ihr müsst währenddessen nur aufpassen, dass euch niemand als Fremdlinge erkennt. Aber selbst wenn euch wirklich etwas zustoßen sollte, ist Reknon Lit ja da, um euch zu beschützen.“
Keshyn sah jeden von ihnen noch einmal an, dann drahte er sich, ohne noch ein weiteres Wort zu sprechen, um und ging auf das rege Getümmel der Menschen auf der Hauptstraße zu. Yai´ro blickte ihm nach, wie er zwischen den Leuten verschwand, immer versuchend, trotz der Menschenmenge in Richtung des Hafens voranzukommen. Dabei kamen ihm die Worte des alten Mannes wieder in den Sinn: „Wenn die Leute hier zwei Rhuner auf der Straße sehen, werden sie sich wohl kaum friedlich verhalten.“
Yai´ro glaubte ihm. Die ganze Stadt hatte eine Ausstrahlung, die stark von derjenigen der Hauptstadt abwich – nicht dass sie weniger schön oder glücklich gewesen wäre, denn das schien auf ganz Faanland zuzutreffen; Rintiria fehlte die dritte Zutat, die zur wunderbaren Atmosphäre der Hauptstadt nötig war: Die Friedlichkeit.
Falls es jemals in Faanland Unruhen oder Aufstände gegeben hätte, so war sich Yai´ro sicher, dass sie hier begonnen hätten. Vielleicht lag es daran, dass die Stadt ein Hafen war, oder daran, dass sie am Rande Faanlands lag – jedenfalls konnte man hier nicht sicher sein, dass ewiger Frieden herrschte.
In dem jungen Rhuner wollte schon ein beunruhigtes Gefühl aufkommen, als ihm noch ein anderer Satz einfiel, den Keshyn eben erst gesagt hatte: „Wenn euch etwas zustoßen sollte, dann ist ja Reknon Lit da, um euch zu beschützen!“
Yai´ros Blick suchte den Garde-Soldaten und fand ihn am Rand der Straße stehend, wie er offensichtlich nach einem für ihre Zwecke geeigneten Wirtshaus Ausschau hielt. Natürlich, Reknon war bei der Garde – und selbst hier, wo die Leute dem Thronhüter wenig Hochachtung entgegenbrachten, musste ihnen der Anblick eines Gardisten in voller Rüstung Respekt einflößen, oder? Yai´ro kannte das aus Manta: Alle hatten dort auf die Reichen geschimpft und die Regierung verflucht, aber sobald ein Soldat in der Nähe war, hatte keiner mehr den Mund aufgemacht.
Wenn Reknon Lit sich vor ihn oder Paryn stellte und ihn verteidigte, dann würde wohl jeder Angreifer unsicher werden – immerhin zog ein Angriff auf einen Gardisten eine harte Strafe nach sich. Aber Yai´ro wusste inzwischen, wie sehr einige Menschen die Rhuner hassten – würden sie es in der Wut wagen, die Befehle eines Soldaten zu missachten? Und wenn es viele waren, was konnte ein einzelner dann schon tun?
Yai´ro schüttelte den Gedanken ab. Er blickte abermals zu Reknon; diesmal aber nicht, um über den Mann nachzudenken, sondern um nachzusehen, ob er bereits ein passendes Wirtshaus gefunden hatte. Und tatsächlich – nur wenige Sekunden später winkte Reknon Lit ihn, Paryn und Selena zu sich und zeigte ihnen eine kleine, aber von außen seriös wirkende Taverne, die zweihundert Meter weiter an der anderen Straßenseite lag.
Mit einem flauen Gefühl im Magen ging Yai´ro dicht hinter dem Gardesoldaten los, die Augen starr auf ihr Ziel gerichtet. Es machte ihn unsicher, sich inmitten einem Gewimmel von Menschen bewegen zu müssen – was, wenn ihm jemand streifte und ihm dabei die Kapuze vom Kopf glitt? Oder wenn er sonst irgendwie Aufmerksamkeit erregte?
Er versuchte sich zu beruhigen, aber jeder Mensch, der ihn direkt ansah, ließ ihn neuerlich zusammenfahren. Bei einem etwas untersetzten Mann mit grauem Haar hatte er schließlich sogar das Gefühl, dass er ihn aufs Genaueste musterte und ihm anschließend zunickte… Es wurde wohl wirklich Zeit, dass er sich beruhigte, bevor er noch völlig durchdrehte. Immerhin war es kein wirklich langer Weg bis zu dem Wirtshaus und sie hatten einen Garde-Soldaten bei sich. Was sollte also schon passieren?

Yai´ro hätte wohl anders gedacht, wenn er gewusste hätte, dass der Mann ihn wirklich gemustert hatte. Das anschließende Nicken hatte allerdings nicht ihm, sondern Reknon Lit gegolten, der mit derselben bedächtigen Bewegung geantwortet hatte.
Er ist da, um euch zu beschützen…
Der Plan war perfekt.
Zehn Meter hinter Yai´ro, der momentan vor Paryn und Selena neben Reknon herging, drehte sich der untersetzte Faanländer um und sah ihnen nach. Einen Moment später rannte er los.

Der junge Rhuner versuchte, sich weiterhin auf das Wirtshaus zu konzentrieren, welchem sie inzwischen schon ein gutes Stück näher gekommen waren. Trotzdem wurde er das beunruhigende Gefühl nicht los, dass er schleunigst von der überfüllten Hauptstraße verschwinden sollte – vielleicht hatte er ja auch einfach nur Angst, aber irgendetwas sagte ihm, dass er dieses Gefühl nicht ignorieren sollte. Wenn sie nur endlich im Wirtshaus gewesen wären, wo sie in Ruhe auf Keshyn warten konnten, ohne Hunderte von Menschen um sie herum…
Doch dazu sollten sie nie kommen.
Yai´ro wollte sich eben zu Paryn umdrehen, um zu sehen, ob alles in Ordnung war, als er aus dem Augenwinkel einen Mann wahrnahm, der rennend auf sie zukam. Im selben Augenblick machte Reknon Lit einen Schritt auf die Seite, von ihm weg, und zog damit einen Moment lang Yai´ros Aufmerksamkeit auf sich.
Einen Moment zu lang.
Der untersetzte Mann rempelte Paryn auf die Seite und bekam Yai´ro im Genick zu fassen. Der junge Rhuner wollte sich instinktiv wehren, doch als ein Messer vor seinem Gesicht aufblitzte und sich ihm drohend an die Kehle legte, ließ er von jedem Widerstand ab. Noch bevor er wirklich erschrecken konnte, fühlte er außerdem einen stechenden Schmerz im Rücken und in seinem linken Arm, den der Angreifer gepackt hatte. Eine Sekunde lang war er völlig starr, dass wurde er schmerzhaft vorwärts gestoßen, weg von Paryn und den anderen, die schon nach den ersten, stolpernden Schritten in der verblüfften Menge verschwunden waren. Yai´ro wollte schreien, aber als ob der Mann wusste, was er vorhatte, legte sich das Messer vor seinen Mund und ritzte seine Lippen ein. Dem jungen Rhuner lief ein eiskalter Schauer den Rücken herunter – er befand sich vollkommen in der Gewalt des Faanländers. Selbst wenn es ihm gelang, sich zu befreien, konnte ihm dabei die Kapuze vom Kopf rutschen; und wenn er einmal enttarnt war, hatte er ein kaum geringeres Problem.
Der Mann zerrte ihm innerhalb weniger Sekunden in eine menschenleere Kleinstraße, die Yai´ro noch nie zuvor gesehen hatte. Während er weiter durch ein Labyrinth aus kleinen, engen Gassen gehetzt wurde, klärten sich seine Gedanken etwas – ihm wurde klar, dass der Faanländer mit ihm alles tun konnte, was er wollte. Sein Schwert hing am Sattel seines Pferdes, und anders konnte er gegen den Mann mit seinem Messer nicht ankommen. Es sei denn, Paryn oder Reknon Lit fänden eine Möglichkeit, ihn aufzuspüren; aber in den Gassen, durch die sie sich bewegten, fand man sich schon schwer zurecht, wenn man niemanden verfolgte. Nein, von seinen Gefährten konnte er kaum Hilfe erwarten.
Mit einer Resignation, die wohl aus dem noch nicht vergangenen Schock entstand, fragte sich Yai´ro eine ganz naheliegende Frage: War dies das Ende seiner Reise?

Keshyn bahnte sich energisch einen Weg durch das Getümmel auf der breiten Hauptstraße. Er war bereits oft genug in Rintiria gewesen, um zu wissen, dass er hier mit Höflichkeit nicht vorankommen würde – und vor allem nicht zu ihrem Schiff, bevor die Mannschaft Feierabend machte. Doch noch etwas trieb ihn zur Eile: Ihm war nicht wohl dabei, die Korianer alleine lassen zu müssen. Denn obwohl Reknon Lit sie gewiss beschützen konnte, sprachen weder sie Faanländisch noch der Soldat Korianisch, und so hatten sie keine Möglichkeit, sich mit ihrer Außenwelt zu verständigen. Abgesehen davon hätte auch er selbst um einiges überzeugender auf den Kapitän ihres Schiffes gewirkt, wenn er in Begleitung eines Garde-Soldaten erschienen wäre.
Der alte Mann vertrieb die Gedanken mit einem Kopfschütteln und wandte die Aufmerksamkeit wieder seinem Weg zu. Er hatte sich erfolgreich durch das Gewimmel von Menschen, Reitern und Pferdekarren gedrängt und war schließlich in eine der unzähligen Gassen eingebogen, die von der Hauptstraße abzweigten. Nun war es wichtig, dass er nicht die Orientierung verlor – der Hafen war zwar kaum fünfhundert Meter von ihrer Herberge entfernt und auch ausgesprochen schwer zu verfehlen, da die Hauptstraße parallel zur Küste verlief und er nach dieser der Ort in der Stadt war, an dem sich die meisten Menschen aufhielten; aber wenn er in den oft schräg gebauten Gassen einmal falsch abbog, konnte es sein, dass er in die falsche Richtung weiterging und eine halbe Stunde brauchte, um sich wieder zurechtzufinden. Innerlich ärgerte er sich, dass er am letzten Abend keine zentraler gelegene Herberge ausgewählt hatte, denn die ihrige war gut eine Meile von der einzigen Straße, die von Norden nach Süden durch die Stadt führte, entfernt; und nur diesem Umstand hatte er es zu verdanken, dass er sich nun hier zurechtfinden musste. Pferde wurden im Hafen nämlich nicht gerne gesehen und zu Fuß bis zu jener großen Straße zu gehen, war eindeutig ein Umweg.
Keshyn lief mit schnellen Schritten durch die Gassen, welche sich zwischen den eng aneinander gedrängten, ein- oder zweistöckigen Häusern hindurchschlängelten, bis er endlich aufatmen konnte – vor ihm mündete der Weg in eine breitere Straße, von der er wusste, dass sie direkt zum Hafen führte. Erleichtert drosselte er seine Schritte. Es war ja immerhin erst früher Nachmittag, zumindest der Kapitän des Schiffes musste also noch an Bord sein. Keshyn hatte noch keinen Kapitän gesehen, der sein Schiff nicht am letzten Tag vor der Abfahrt noch einmal überprüft hatte.
Und tatsächlich- derjenige, der die Reise nach Korien leiten sollte, bildete keine Ausnahme.
Der alte Mann fand ohne Probleme zum Hafen - allerdings kam er, dank der Straße, in die er eingebogen war, an einer Stelle zum Hafen, von der aus er noch eine gute halbe Meile bis zum Ankerplatz gehen musste. In Gedanken stöhnte er auf, denn dieser normalerweise relativ kurze Weg konnte zu einer Qual werden – wenn man ihn inmitten eines Gewimmels von mehr oder weniger unheimlichen Seefahrern, Verkäufern, die ihre Ware anpriesen und fröhlich flanierenden Passanten zurücklegen musste.
Zum Glück kannte Keshyn bereits die Stelle, an die Schiffe, die nach Korien fuhren, für gewöhnlich anlegten – immerhin war er, als Übersetzer, bereits einmal Teilnehmer einer solchen Reise gewesen. Gleich am Anfang des Areals, in dem die Schiffe des Thronhüters lagen, zog sich ein einsamer Kai weit hinaus ins Wasser – dort musste er hin.
Energisch drängte er sich durch die Menschenmenge. Vorbei an einigen Matrosen, die eine Ladung Kisten zu ihrem Schiff trugen, an einem der unzähligen alt gewordenen Seefahrer, die den lieben langen Tag nichts zu tun hatten, als hier zu sitzen und das Meer zu beobachten, vorbei an einem jungen Pärchen, das eng umschlungen an der steinernen Kante des Hauptkais saß, die Füße im Wasser baumelnd. Keshyn hatte nicht einmal genug Zeit, um das alles aufzunehmen. Diese rannte ihm nämlich inzwischen wirklich davon – er hatte gehofft, dass ihn die Straße direkt oder zumindest in die Nähe des Geländes führen würde, das dem Thronhüter gehörte. Da sie es nun nicht tat, musste er die verlorene Zeit wieder aufholen.
Nach einer knappen viertel Stunde – eine gute Zeit für das überfüllte Hafengelände – erreichte der alte Mann schließlich sein Ziel. Der Garde-Posten am Eingang zum Gelände des Thronhüters war schon weithin sichtbar, da sich die Leute aus Respekt von ihm fernhielten.
Keshyn strich mit einer schnellen Handbewegung die Falten in seinem Mantel glatt, bevor er zwischen den Leuten hervor- und auf die Wache zutrat.
„Seid gegrüßt!“, sprach er den Hauptmann an. „Ich muss zu einem der Schiffe des Thronhüters. In seinem Auftrag werde ich morgen mit diesem abreisen!“
Der Soldat mustere Keshyn einen Moment lang misstrauisch, dann streckte er, ohne ein Wort zu sagen, die Hand aus. Der alte Mann zog ein Blatt Pergament unter seinem Umhang hervor, auf dem der Thronhüter den Auftrag, Yai´ro und Paryn nach Korien zu bringen, bestätigte und ihm, Keshyn, eine Vollmacht übertrug. Mit einer Hand hielt er das Dokument dem Wachtposten entgegen, mit der anderen verdeckte er den Teil, in dem von den Details des Auftrags die Rede war.
„Das sollte genügen!“, meinte er, und hoffte insgeheim, dass sein Gegenüber auch so dachte – denn die Soldaten mussten nun wirklich nichts von den Rhunern wissen.
Einen Moment lang glaubte er, der Garde-Hauptmann würde ihn auf der Stelle von dem gesicherten Gelände vertreiben, doch er hatte Glück – obwohl der Blick des Mannes nichts gutes verhieß, ließ er ihn passieren. Es kümmerte Keshyn auch kaum, dass er ihm einen Gardisten als Aufpasser mitschickte – was er dem Kapitän ihres Schiffes zu sagen hatte, würden sie sowieso unter vier Augen besprechen.
Mit schnellen Schritten ging er die hinter der Absperrung plötzlich angenehm menschenleere Hafenstraße entlang, bis er zu dem Kai kam, den er aus der Ferne gesehen hatte. Ohne seinen „Begleitschutz“ eines Blickes zu würdigen, blieb er stehen und versuchte zu erkennen, ob eines der dort draußen ankernden Schiffe wirklich das ihre war – und er wusste nicht warum, aber als sein Blick den ungewöhnlich langen, gepflasterten Gehweg entlang glitt, der sich bis weit hinaus in das Hafenbecken zog, überkam ihn ein ungutes Gefühl. Als hätte er keine Zeit, dort hinzugehen, sondern müsste etwas anderes tun... Er ließ sich nichts davon anmerken, aber obwohl es relativ kühl war – er trug dementsprechend einen langen Mantel – wurde ihm mit einem Mal unangenehm heiß. Einen Moment lang schien seine Umgebung zu verfließen, und etwas anderes schien durch sie hindurch sichtbar zu sein – doch er verdrängte das Bild schneller wieder, als es wirklich erscheinen konnte. Was das auch immer war – Angst, ein Schwächeanfall oder eine magische Vision – er konnte es jetzt nicht gebrauchen.
Den Gardisten, der ihn seit dem Betreten des gesicherten Geländes begleitete, immer noch stur ignorierend, bog er auf den langen Kai ein. Er war sich ziemlich sicher, dass das Schiff dort ankerte; immerhin hatte es noch nie an einem anderen Platz angelegt. Und trotzdem... irgendetwas stimmte nicht.
Keshyn überlegte einen kurzen Moment lang, ob er vielleicht wirklich eine magische Vision gehabt hatte. In seinem Studium hatte er von solchen gehört: Wenn man sie wirklich stark empfing, nahm man kaum mehr etwas von der Realität wahr – und das konnte er sich im Moment wohl kaum leisten. Ach ja, und noch etwas war ihm in Erinnerung geblieben: Magische Visionen tauchten nicht, wie viele fälschlicherweise glaubten, zufällig auf. Sie wurden nur oft mit Träumen verwechselt. Bei wirklichen Visionen gab es einen bestimmten Empfänger – und folglich einen ebensolchen Sender. Wenn man magische Kräfte besaß, konnte man absichtlich, oder aber auch völlig unterbewusst solche „Nachrichten“ verschicken, letzteres vor allem, wenn man in Angst, Wut oder Trauer war – also in einem jener Zustände, in denen die Magie von alleine zu fließen begann.
Keshyn verdrängte die Gedanken und konzentrierte sich auf das hier und jetzt – eine Entscheidung, die er später noch bereuen sollte. Während er weiterging, auf das Schiff zu, das am kommenden Morgen seine Reise nach Korien begann, wurde in einem anderen Teil der Stadt Yai´ro von einem untersetzten, grauhaarigen Faanländer in ein unbewohntes Haus gezerrt…